Zusammenfassung
Landesverfassungsgerichte haben sich in Deutschland über verschiedene Verfahrensarten mit zahlreichen Aspekten des Wahlrechts zu den Landesparlamenten befasst. Verfassungsprozessrechtlich haben dabei neben den zahlenmäßig dominierenden Wahlprüfungsbeschwerden insbesondere Organstreitverfahren, abstrakte Normenkontrollen und in Bayern auch Popularklagen eine Rolle gespielt. Während die in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG genannten Wahlrechtsgrundsätze als allgemeingültige Vorgabe eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung im prinzipiellen Bereich zur Folge haben, sind aus Elementen der einzelnen Wahlsysteme wie Sperrklauseln, Verrechnungssystemen und Wahlkreisabgrenzungen landesspezifische Fragen und Profile resultiert. Standen anfangs Probleme der Wahlsysteme und Mandate im Fokus der Rechtsprechung, sind im Laufe der Zeit auch Aspekte der Wahlorganisation und -durchführung sowie der innerparteilichen Demokratie und Wahlzulassungsverfahren aufgegriffen worden, ohne dass die systembezogenen Fragen als abschließend geklärt gelten könnten. Hinsichtlich der Antragsteller lassen sich deutliche Unterschiede erkennen zwischen den Themen, welche von den bisherigen Volksparteien vor die Verfassungsgerichte gebracht worden sind, und den Fragen, die von Klein- und Splitterparteien sowie unterlegenen Kandidaten und Wahlberechtigten aufgegriffen worden sind.
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Notes
- 1.
Manuskript abgeschlossen am 31.08.2019. Nachfolgende Entwicklungen konnten nicht mehr berücksichtigt werden. – Soweit keine Entscheidungssammlung angegeben ist, beziehen sich die Angaben zu den angeführten Verfassungsgerichtsurteilen auf deren Publizierung durch die Gerichte selbst auf deren jeweiligen Internetseiten.
- 2.
Prinzipiell kommen auch „konkrete“ Normenkontrollanträge von Gerichten für die Überprüfung von Wahlgesetzen in Betracht (vgl. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG und z. B. Art. 65, Art. 92 BayVerf.; Art. 142 BremVerf.; Art. 64 Abs. 2 Satz 1, Art. 65 Abs. 3 Nr. 6 HmbVerf). Die dafür nötige Voraussetzung eines Falles, für den es auf die Verfassungsmäßigkeit eines wahlrelevanten Gesetzes ankommt, ist außer in Wahlprüfverfahren mit ihrem eigenen Instanzenzug jedoch unwahrscheinlich.
- 3.
Im 1955 gewählten und nach dem Beitritt des Saarlands zum Bundesgebiet am 1. Januar 1957 weiter amtierenden Saarländischen Landtag saßen zwei KP-Mitglieder (Plöhn 1997, S. 491). Zwar wollte der Landtag ihnen auf Grundlage des KPD-Urteils ihr Mandat aberkennen (Vollstreckungsanweisung des 2. Senats, Beschl. v. 21.3.1957 zu 1BvB 2/51, BVerfGE 6, 300), doch fasste der Staatsgerichtshof auf Antrag der Betroffenen gemäß Art. 100 Abs. 3 GG einen Vorlagebeschluss (SaarlVerfGH, Lv 5/59, Beschl. v. 19.2.1960, S. 6), sodass sie ihre Mandate für den Rest der Wahlperiode behalten konnten (Plöhn 1997, S. 485; SaarlVerfGH, Lv 6/59, Beschl. v. 12.8.1959).
- 4.
Anlässlich der Landtagswahl vom 27.3.2011 wurde der Wechsel der Gemeinde Essingen vom Wahlkreis Aalen zum Wahlkreis Schwäbisch Gmünd angegriffen, trotz Annäherung an den Durchschnittswert als gleichheitswidrig, allerdings im Ergebnis erfolglos (StGH BW, Urt. v. 22.5.2012, GR 11/11, ESVGH 63, 13, LVerfGE 23, 3).
- 5.
Auch der rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof hat den streng formalen Gleichheitssatz des Wahlrechts auf den gesamten Vorgang, einschließlich der Wahlvorbereitung, bezogen (VerfGH Rh.-Pf. Beschl. v. 30.10.2015, VGH B 14/15). Grundsätzlich bestehe jedoch ein administrativer Gestaltungsspielraum in der konkreten Umsetzung dieser Prinzipien, der nicht durch alternative gerichtliche Entscheidungen ausgefüllt werden dürfe (ebd., S. 13–19).
- 6.
Die Mindestanforderungen für die Berücksichtigung einer Partei waren in Schleswig-Holstein sukzessive angehoben worden: 1947 reichte u. a. der Gewinn eines Direktmandates, 1950 war alternativ ein landesweites 5- %-Quorum hinzugekommen, das 1951 auf 7,5 % der abgegebenen Stimmen angehoben wurde.
- 7.
In Bayern war zu entscheiden, ob sich aus der Verkleinerung des Landtags von 2011 und der bevölkerungsproportionalen Umverteilung der Sitze eine faktische Erhöhung der verfassungsunmittelbaren Sperrklausel (Art. 14 Abs. 4 BayVerf) und somit aus dem Zusammenwirken von Wahlkreiseinteilung und Stimmverrechnung ein verfassungswidriger Effekt ergebe. Der Verfassungsgerichtshof hat dies verneint (BayVerfGH, Urt. v. 4.10.2012, Vf. 14-VII-11, BayVerfGHE 65, 189).
- 8.
Zur Geheimheit innerparteilicher Kandidatenwahlen BayVerfGH, Urt. v. 8.12.2009, Vf. 47-III-09, BayVerfGHE 62, 229.
- 9.
Klagen von Splitterparteien gegen ihre Nichtzulassung zur Wahl – z. B. wegen fehlender Unterstützungsunterschriften – blieben allesamt erfolglos und werden im Weiteren vernachlässigt (VerfGHNRW 11/02 Beschl. v. 7.10.2003, S. 10 m. w. N.; VerfGHNRW 3/12 und 4/12, Beschlüsse v. 17.4.2012 und 8/12 Beschl. v. 8.5.2012).
- 10.
Erfolglos blieb auch die AfD mit ihrer Rüge eines offiziösen Twitter-Postings des Regierenden Bürgermeisters von Berlin (BerlVerfGH 80/18 Urt. v. 20.2.2019).
- 11.
Vgl. auch SachsAnhVerfGH LVG 10/06, Urt. v. 8.3.2007; VerfGHNRW 16/12 Beschl. v. 29.1.2013, S. 4; BayVerfGH, Vf. 99-III-03, Entsch. v. 17.2.2005).
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Plöhn, J. (2020). Landesverfassungsgerichte und Landtagswahlen: Wahlrecht „ad libitum“ oder unter „strict scrutiny“?. In: Reutter, W. (eds) Verfassungsgerichtsbarkeit in Bundesländern. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28961-4_11
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