Zusammenfassung
Widerstreitende Interessen gelten in einer pluralistischen Demokratie als Selbstverständlichkeit. Nicht selten werden solche Gegensätze für das Veranstalten einer Bürgerinnenversammlung zum Anlass genommen. Dass dabei jedoch das erreicht wird, was von den Veranstaltenden erhofft wird und ob die Bürgerinnen und Bürger ihrerseits mit den Ergebnissen zufrieden sind, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass es eine Vielzahl an unterschiedlichsten Beteiligungsformaten gibt, die mit den verschiedenen Interessen und Erwartungshaltungen der Teilnehmenden und Veranstaltenden aufeinandertreffen. Der vorliegende Beitrag typologisiert solche im Feld vorhandenen Versammlungskonzeptionen. Anders als bei bisherigen Typologien wird hierbei jedoch über die Unterscheidung nach Beteiligungsgrad und Versammlungszweck hinausgegangen, und die Motivation der Teilnehmenden in den Mittelpunkt gerückt. Es wird aufgezeigt, wovon die Motivation für die Teilnahme abhängt und wie gesellschaftliche Krisen und Konflikte je nach Ausprägungsgrad und betroffenen Gegenstand dies maßgeblich beeinflussen. Ausgehend vom Modell der Eskalationsstufen nach Friedrich Glasl wird für einzelne Stufen von Konflikten ausgeführt, welche Formate und situative Rahmungen zielführend angewandt werden können.
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Notes
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Neuere Handreichungen wie das „Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“ des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) benennen die Ebenen als Information, Konsultation und Kooperation (BMVI 2014, S. 13). Die Stadt Mannheim unterscheidet in ihrem „Regelwerk Bürgerbeteiligung“ vier Stufen: Informieren, Anhören, Mitgestalten, Mitbestimmen (Stadt Mannheim 2017, S. 11).
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„powerholder“ bei Arnstein.
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Der Begriff Issue wird hierbei in Anlehnung an Friedrich Glasl verwendet: „Welche Problempunkte stellen die Parteien in den Issues zur Diskussion? Welche Streitgegenstände werfen die Parteien in die Auseinandersetzung ein? Auf welche soziale Rahmengegebenheiten beziehen sie sich? – Die Issues werden zum einen nach ihrem inhaltlichen Gehalt betrachtet. Zum anderen spielt die Art und Weise, wie diese Issues vorgebracht werden, eine wesentliche Rolle. Welche Issues haben für welche Parteien stark emotionelle Bedeutung, welche lassen sie mehr oder weniger kalt? Für welche ereifert sich die eine Seite stark, und für welche erregt sich die Gegenseite? Wie werden diese Streitpunkte vorgebracht, und welche Reaktion lösen sie bei der anderen Seite aus? (Glasl 1980, S. 36 f.).
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Siehe Schumacher, Ulrike (2019): „Erfolgsfaktoren für kommunale Dialogformate“ in diesem Band.
- 5.
Sächsische Bürgerdialogstudie (SBS), siehe Gäbel, David (2019): „Bedarfe an neuen Beteiligungsformaten aus Sicht kommunaler Verantwortlicher in Sachsen“ in diesem Band.
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Der Begriff des Rahmens („frame“) wird in Anlehnung an Erving Goffman verwendet: „Ich gehe davon aus, daß wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente […] nenne ich ‚Rahmen‘“ (Goffman 1980, S. 19).
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Ähnliche Befunde liefert auch Untersuchungen zum Nachrichtenwert. Die Nähe eines Themas zur Lebenswelt der Rezipienten habe demnach einen Einfluss auf die Relevanz, die ihm zugeschrieben wird (Ziegele 2016, S. 91).
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Die Ausführungen von Marc Ziegele beziehen sich auf die Nachrichtenwerttheorien und die Frage, welche Faktoren für die Themenrelevanz ausschlaggebend sind. Die Überlegungen aus diesem Forschungsfeld erscheinen hilfreich, um zu verstehen, wie die Relevanz von Diskussionsthemen wahrgenommen wird. Aus diesem Grund ist ein theoretischer Anschluss sinnvoll.
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Marc Ziegele beschreibt diese Beobachtung nicht für Versammlungen, sondern für die Online-Kommunikation. Aus den Erfahrungen des KDZ-Teams erscheint der Zusammenhang jedoch übertragbar.
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So konnte seit Herbst 2014 bis Sommer 2016 beobachtet werden, dass mit Abklingen der Flüchtlingszahlen, also mit sinkender Problemwahrnehmung, die Nachfrage nach Diskussionsveranstaltungen bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) ebenso zurückging wie die Teilnehmerzahlen bei den PEGIDA-Demonstrationen – ohne dass freilich die Differenzen zwischen den politischen Überzeugungen überwunden gewesen wären (Berger et al. 2016, S. 123–125).
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Die Unterteilung, wann eine Gruppe als klein oder groß gilt, ist weitgehend eine Frage des Ermessens. Ruth Seliger bspw. verwendet den Begriff der Gruppe für „ein soziales System von 3–20 Personen“, die durch eine gemeinsame Aufgabe oder Thema verbunden seien, wobei eine Face-to-Face-Kommunikation möglich sei. Beziehungen stünden im Vordergrund, sodass sich mit einem Wechsel der Menschen auch die Gruppe ändere (Seliger 2008, S. 13). Solche Gruppen werden in diesem Artikel als Kleingruppen bezeichnet. Als Großgruppe bezeichnet Seliger 30 bis 2000 Menschen, die über einen gemeinsamen Kontext und ein gemeinsames Thema verbunden seien, wobei professionelle Rollen, Funktionen und Positionen der Menschen wichtig seien. Die Personen seien somit austauschbar (Seliger 2008, S. 14). Diesem Verständnis schließt sich dieser Artikel weitgehend an, wobei die Grenzen freilich zwischen Klein- und Großgruppe als fließend gedacht werden sollten. Seligers dritter Begriff der Masse als unstrukturierte Ansammlung von Menschen kann für diesen Artikel außen vor bleiben (Seliger 2008).
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Die Stadt Bautzen richtete am 08.02.19 eine Fishbowl-Diskussion aus, die mit dem Titel „Zurück zur Sachlichkeit“ ausdrücklich versuchte, einen solchen Gesprächsrahmen durchzusetzen. U. a. liegen die Protokolle zu dieser Versammlung den Ausführungen in diesem Abschnitt als Datenmaterial zugrunde.
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Sächsische Bürgerdialogstudie (SBS), siehe Gäbel, David (2019): „Bedarfe an neuen Beteiligungsformaten aus Sicht kommunaler Verantwortlicher in Sachsen“ in diesem Band.
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In den Untersuchungen von Michael Schenk konnte dieser Effekt beobachtet werden. „Personen zeigten sich als redebereiter, wenn sie ihrer Meinung mit den anderen Personen in der näheren sozialen Umgebung übereinstimmten“ (Schenk 2010, S. 779).
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Glasl weist auch darauf hin, dass sich je nach Konfliktbehandlungsstrategie die Rollenbilder der Moderation verändern. Diese variieren vom Chairman, „der nur die Interaktion und die Prozeduren reguliert und sich dabei jeglicher inhaltlicher Beeinflussung enthält“, bis zur Machtinstanz (Glasl 1980, S. 422–425).
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Hetze, W. (2020). Versammlungen in Krisenzeiten – Eine Typologie anhand des Konfliktverlaufs. In: Bochmann, C., Döring, H. (eds) Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28347-6_8
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