Zusammenfassung
Der Erfolg von Bürgerdialogen hängt neben dem Faktor der Moderation auch maßgeblich von den Teilnehmenden einer solchen Veranstaltung ab. Dies stellt Dialogpraxen in Zeiten konfliktreicher gesellschaftlichen Situationen vor große Herausforderungen. Diesem Umstand Rechnung tragend, setzt sich der vorliegende Beitrag zum Ziel, ausgehend vom Konzept der Thérapie Sociale des französischen Psychotherapeuten Charles Rojzman, Möglichkeiten aufzuzeigen, um Menschen unterschiedlichster und gegensätzlicher Überzeugungen miteinander ins Gespräch zu bringen und somit soziale Kohäsion und ein demokratisches Gemeinwesen zu stärken. Aufbauend auf Vertrauen und Akzeptanz sollen bestehende Ängste erkannt, abgebaut und somit gewaltvolles Handeln verhindert und die Beteiligten im demokratischen Sinne konfliktfähig gemacht werden. Der Beitrag stellt in einem ersten Schritt die im deutschsprachigen Raum bisher kaum rezipierten theoretischen Grundannahmen der Thérapie Sociale dar und formuliert darauf aufbauend konkrete Handlungsvorschläge, welche seitens der Methodik und der formulierten Zielsetzung weit über ein Alltagsverständnis von Dialog hinausgehen.
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Notes
- 1.
Vgl. hierzu die Betrachtungen des Befreiungspädagogen Paolo Freires über das dialogische Prinzip bzw. den Anti-Dialog (Freire 1973).
- 2.
Nicht nur meinen eigenen Erfahrungen fließen hier ein, ich greife auch auf die Erfahrungen von Menschen der Dresdner Initiative „gesprächsbereit“ zurück, die sich aus einer einjährigen Weiterbildung zu Prozessbegleiter*innen für Konflikt und Kooperation am Institut Charles Rojzman entwickelte und seit 2016 Dialoge begleitet und initiiert. Vgl. auch www.gespraechs-bereit.de.
- 3.
Den weit gefassten Begriff der Gewalt kläre ich in Abschn. 2.1.
- 4.
Eine ausführliche Dokumentation dieses Pilotprojekts finden Sie bei Dresden für Alle e. V. (2016).
- 5.
Für eine Übersicht über die Projekte siehe „Projets réalisés“ auf https://www.institut-charlesrojzman.com/fr/prevention-reconciliation/quelques-references.
- 6.
Vgl. Rojzman et al. 2015. Im englischen wird sie mit „Transformational Social Therapy“ übersetzt, im Deutschen hat sich auch aufgrund der Ambivalenz des Begriffs (vgl. Hirschfeld in Dresden für Alle e. V., S. 27) bisher keine geeignete Übersetzung durchgesetzt, im Folgenden spreche ich deshalb weiter von Thérapie Sociale.
- 7.
An verschiedenen Stellen, u. a. bei Bunte und Korodowou 2011, wurde die Thérapie Sociale als Methode rezipiert, die einen festen Prozess für Dialoge bietet, der auf die langfristige Zusammenarbeit einer kleineren Gruppe von Menschen angelegt ist. Dies ist tatsächlich die Idealform dieser Arbeit, in der sie ihre gewünschte Wirkung am besten erzielen kann. Rojzman betont aber immer wieder (zuletzt in einem Gespräch mit der Autorin im Februar 2019), dass sich die Grundprinzipien der Thérapie Sociale auch in kürzeren Formaten – beispielsweise einem dreistündigen Dialogabend – anwenden lassen.
- 8.
Vgl. https://www.institut-charlesrojzman.com/fr/therapie-sociale und Rojzman et al. 2015.
- 9.
Einige dieser Strategien ähneln stark dem von Adorno bzw. Fromm geprägten Begriff des „autoritären Charakters“ (vgl. Adorno 1995; Fromm et al. 2005). Wie stark die aktuellen Einflüsse des Autoritarismus auf antidemokratische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft sind, werden von den Verfassern der Leipziger Mitte Studie analysiert (vgl. Decker und Brähler 2018).
- 10.
Daten – eigene Erhebung der Arbeitsgruppe, Unterlagen liegen der Verfasserin vor.
- 11.
Zitat Charles Rojzman in einem Interview mit der Autorin, Februar 2016.
- 12.
Dieser Auseinandersetzungsprozess ist ein wesentlicher Bestandteil der Ausbildungen, die das Institut Charles Rojzman anbietet, um als Prozessbegleiter*innen für Konflikt und Kooperation bzw. Thérapeutes Sociales zu arbeiten.
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In solchen langfristigen Prozessen, die eine Kontinuität der Teilnehmenden und ein hohes Maß an Engagement benötigen, kann es mitunter sinnvoll sein, die Teilnehmenden für ihre Arbeit auch zu entlohnen. Damit würde man auch diejenigen motivieren, sich an dem Dialog zu beteiligen, die es sich entweder finanziell nicht leisten können, sich in größerem Maße ehrenamtlich zu engagieren, oder nur mit einem finanziellen Anreiz zu einer solchen Arbeit überredet werden können. Kämen hingegen nur die einkommensstärkeren und die ohnehin schon engagierten Bürger*innen, würde nur ein Teil der Gesellschaft abgebildet werden, was den für einen erfolgreichen Dialog benötigten vielfältigen Perspektiven entgegensteht (vgl. Bunte und Korodowou 2011).
- 14.
Eine ausführliche Beschreibung des Projekts findet sich bei Bunte & Korodowou 2011.
- 15.
Ein weiterer inspirierender Ansatz, allerdings für die Arbeit nach bereits extrem eskalierten Gewaltsituationen, ist die „Restorative Circles/Restorative Justice“-Arbeit zwischen Mördern und den Hinterbliebenen des Mordopfers, über die der Regisseur Hubertus Siegert 2015 den Film „Beyond Punishment“ drehte (vgl. Zupke 2015).
Literatur
Adorno, T. W. (1995). Studien zum autoritären Charakter. Berlin: Suhrkamp.
Bunte, K., & Korodowou, S. W. (2011). Thérapie Sociale – Ein innovativer Ansatz für gelungenes interkulturelles Zusammenleben in der Kommune. In E. Marks & W. Steffen (Hrsg.), Solidarität leben, Vielfalt sichern. Ausgewählte Beiträge des Deutschen Präventionstages (S. 273–290). Godesberg: Forum Verlag. (Erstveröffentlichung 2009).
Decker, O., & Brähler, E. (Hrsg.). (2018). Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Dresden für Alle e.V. (2016). Partizipative Entwicklung eines methoden- und erfahrungsgeleiteten Programms zur akuten Unterstützung städtischer Akteure im Handlungsfeld Integration. Projektbericht. https://dresdenfueralle.de/das-netzwerk-dresden-fuer-alle/verein/foerderprojekte/01_projektergebnisse/. Zugegriffen: 27 Febr. 2019.
Freire, P. (1973). Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Hamburg: Rowohlt.
Fromm et.al. (2005). (2. Neuaufl. des 1936 erschienenen Originals). Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Lüneburg: Zu Klampen.
Rojzman, C. (1997). Der Hass, die Angst und die Demokratie: Einführung in eine Sozialtherapie des Rassismus. München: AG SPAK.
Rojzman, C. (2008). Sortir de la violence par le conflit. Paris: La Découverte.
Rojzman, C. (2009). Bien vivre avec les autres. Paris: Larousse.
Rojzman, C. (2018). Prävention bei radikalen Haltungen. „Thérapie Sociale“. Perspektive Mediation. Beiträge zur Konfliktkultur, 3, 146–150.
Rojzman, C., & Pillods, S. (2001). Savoir vivre ensemble. Paris: La Découverte.
Rojzman, C., Rothenbühler, I., & Rothenbühler, N. (2015). La Thérapie Sociale. Lyon: Chronique Sociale.
Wiebelitz, A. (2016). Demokratie ist Konflikt. Oya – Anders denken, anders leben, 38, 28–31.
Zupke, A. (2015). Jenseits von Bestrafung. GFK-Zeitschrift: Empathische Zeit, 4, 24–26.
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Wiebelitz, A. (2020). Demokratie braucht Konflikt – wie sich gesellschaftlicher Zusammenhalt fördern lässt – Praktische Handlungsempfehlungen für Dialoge basierend auf der Thérapie Sociale. In: Bochmann, C., Döring, H. (eds) Gesellschaftlichen Zusammenhalt gestalten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28347-6_16
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