Zusammenfassung
An Daten des ALLBUS 2016 lässt sich eine stabile und mit 4,3facher Wahrscheinlichkeit höhere Kriminalitätsfurcht der weiblichen Befragten gegenüber den männlichen beobachten. Das ist kein Einzelfall. Im Gegenteil, die Differenz zwischen Männern und Frauen bezüglich Kriminalitätsfurcht ist empirisch stabil nachgewiesen. Ist die höhere Kriminalitätsfurcht von Frauen durch benachteiligende Geschlechternormen und die geringere Verfügbarkeit insbesondere ökonomischer bzw. ökonomisch relevanter Ressourcen gegenüber Männern verursacht oder wenn nicht, liegt möglicherweise doch ein evolutionär bedingtes geschlechtsspezifisches Angstverhalten vor? Es werden Hypothesen zum Einfluss von Einstellungen zu egalitären Normen zwischen den Geschlechtern, der Erwerbstätigkeit und Bildung, sozialer Selbsteinschätzung sowie der familialen Situation begründet und multivariat geprüft. In allen Modellen bleibt die Geschlechterdifferenz nahezu konstant bestehen. Auch wenn die Zustimmung zu geschlechteremanzipatorischen Normen die Kriminalitätsfurcht senkt, beeinflusst das nicht den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Kriminalitätsfurcht. Die hypothesenbasierten Variablen weisen insgesamt auf eine multikausale Verursachung von Kriminalitätsfurcht hin, ohne den Einfluss von Geschlecht zu variieren. Abschließend wird eine methodische Kritik am Standardindikator zur Messung von Kriminalitätsfurcht vorgenommen.
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Notes
- 1.
Das in Tab. 1 dargestellte Verhältnis zwischen Geschlecht und Viktimisierung stammt aus einem Datensatz der Sicherheitsbefragung der Stadt Leipzig aus dem Jahre 2007 (N = 1082). Mit einem zweiten Datensatz der Sicherheitsbefragung der Stadt Leipzig aus dem Jahre 2016 (N = 2845) treten zwar schwächere Zusammenhänge auf, aber die gegenläufige Richtung lässt sich auch hier nachweisen (der Zusammenhang Geschlecht – Kriminalitätsfurcht steigt der partiellen Korrelation zufolge von r = ,077*** auf r = ,081** trotz Kontrolle durch die gegenläufige eigene Viktimisierungserfahrung der letzten 12 Monate (r = −,025).
- 2.
Die Einwände Hirschauers (2016, S. 121) mögen provokativ erscheinen (kürzere Lebensdauer von Männern, höhere Inhaftiertenrate, usw.), machen jedoch substanziell darauf aufmerksamen, dass eine politisch motivierte Geschlechterforschung auf dem männlichen Auge blind ist.
- 3.
Diese Erklärung ist nicht notwendigerweise in Konflikt mit der evolutionären Hypothese, sie stellt vielmehr eine erweiterte Erklärung dar. Da die evolutionäre Hypothese, wie oben erwähnt, aber nicht direkt geprüft werden kann, lässt sich der genaue Zusammenhang nicht vollständig herausfinden.
- 4.
Im Rahmen des ALLBUS-Programms wird seit 1980 alle zwei Jahre eine Zufallsstichprobe der Bevölkerung der Bundesrepublik mit einem teils konstanten, teils variablen Fragenprogramm befragt. Die Studiennummer des verwendeten Datensatzes ist ZA 5250. Die vorgenannte Institution trägt keine Verantwortung für die Verwendung der Daten in diesem Aufsatz.
- 5.
Wir danken der Stadt Leipzig, dem Amt für Statistik und Wahlen dafür, dass uns die Datensätze für sozialwissenschaftliche Analysen zur Verfügung gestellt wurden. Die vorgenannte Institution trägt keine Verantwortung für die Verwendung der Daten in diesem Aufsatz.
- 6.
Die leichten Abweichungen zu den Werten in Tab. 4 ergeben sich aus dem verwendeten Filter, der auf dem Split 1im Allbus 2016 beruht.
- 7.
Der Tendenz nach weisen Städter eine höhere Kriminalitätsfurcht auf – dies lässt sich auch im ALLBUS-Datensatz beobachten. Aus diesem Grund wird für den hier ausgeführten Vergleichszweck aus dem Allbus 2016 nur ein Teildatensatz von denjenigen Befragten verwendet, die in Großstädten leben (N = 682).
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Hovestadt, T., Mühler, K. (2020). Frauen – das ängstliche Geschlecht?. In: Krumpal, I., Berger, R. (eds) Devianz und Subkulturen. Kriminalität und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-27228-9_10
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