Zusammenfassung
Die an den Wahlerfolgen rechts- und linkspopulistischer Protestparteien ablesbare Krise der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie hat ein wachsendes Bedürfnis nach direktdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten entstehen lassen. Die hohe Wertschätzung der Volksabstimmungen seitens der Bürger rührt daher, dass sie die so getroffenen Entscheidungen politisch verbindlich sind und dass mit ihnen die repräsentativen Organe nötigenfalls umgangen werden können. Ob direktdemokratische Verfahren die inhaltliche Qualität der Politik erhöhen, ist dagegen ebensowenig ausgemacht wie der ihnen häufig zugeschriebene positive Einfluss auf die Systemzufriedenheit. Gegen die leichtfertig erhobene Forderung nach Einführung einer mehrstufigen „Volksgesetzgebung“ in das Grundgesetz lassen sich auch aus institutioneller Sicht gewichtige Einwände vorbringen, konterkariert diese doch die Funktionslogik des auf dem Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition basierenden parlamentarischen Systems. Gleichzeitig gehen die direktdemokratischen Verfahren an den eigentlichen Ursachen der Demokratiekrise – dem abnehmenden Handlungsspielraum nationalstaatlicher Politik und der wachsenden sozialen und politischen Ungleichheit – vorbei.
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Notes
- 1.
Der Wiederanstieg der Wahlbeteiligung seit 2016 dürfte diesen Trend nur kurzfristig unterbrechen; er lässt sich vor allem auf die starke Mobilisierungswirkung des Flüchtlingsthemas zurückführen.
- 2.
Ein oft vorgebrachter Einwand gegen direkte Demokratie lautet, dass sich die gewählten Vertreter mithilfe der plebiszitären Verfahren vor ihrer Entscheidungsverantwortung im repräsentativen System „drücken“ würden. Werden Entscheidungen an das Verfassungsgericht „weitergereicht“, was gerade in der Bundesrepublik häufig vorkommt, hört man denselben Vorwurf eher selten.
- 3.
Ein in der Literatur wenig beachteter Nebeneffekt der von unten auslösbaren direktdemokratischen Verfahren in den deutschen Ländern liegt insofern darin, dass sie die Parlamente als Gesetzgeber gegenüber den Regierungen aufwerten (Dressel 2017, S. 36).
- 4.
Ein Beispiel aus der deutschen Politik ist die nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im unmittelbaren Vorfeld der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2016 hastig beschlossene „Energiewende“.
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Dies gilt vor allem für die linken Parteien (Grüne, SPD und Die Linke), die sich in der Vergangenheit am stärksten für die Volksrechte eingesetzt haben. Deren gewachsene Skepsis rührt einerseits aus den ernüchternden Erfahrungen, die sie selbst mit den Verfahren auf kommunaler und Länderebene gemacht haben, zum anderen hängt sie zusammen, dass sich der Rechtspopulismus (in Gestalt der AfD) der Forderung nach mehr direkter Demokratie inzwischen offensiv bemächtigt (Decker 2018).
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Decker, F. (2019). Mythos direkte Demokratie. Lässt sich das Repräsentativsystem durch plebiszitäre Verfahren verbessern?. In: Kronenberg, V., Horneber, J. (eds) Die repräsentative Demokratie in Anfechtung und Bewährung. Studien der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26364-5_5
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