Zusammenfassung
Zwei Möglichkeiten, die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen, werden in diesem Beitrag dargestellt. Zuerst wird nach den Sinnkriterien gefragt, die benötigt werden, um die historische Epoche nach 1945 zu charakterisieren. Dabei lassen sich zwei Narrative unterscheiden: Im Narrativ der Gewalt wird ein historisches Bewusstsein beschrieben, das sich über alle bisherige Geschichte der Gewalt erhebt und sie gleichsam aus den bisherigen Rahmungen löst. Das Narrativ der Gewalt folgt der Metapher der Bemächtigung. Die Erfahrungen von Gewalt, die nie vergessen werden dürfen, bilden den Leitfaden für ihre Bewältigung in der Gegenwart. Das andere Narrativ steht in einer eigentümlichen Distanz zum ersten. Das Narrativ des Leidens kristallisiert sich im gleichen Maße um die Erfahrungen der Gewalt herum, es trägt zur Bildung eines historischen Resonanzraums bei, in dem kollektive Opfer und das ohnmächtige Erleiden thematisiert werden. Nicht allein die Erzählung des heroischen Widerstands, sondern die Vielfalt von Opfererzählungen und Identifikationsangeboten ist für das Narrativ des Leidens kennzeichnend. Beide Narrative sind jedoch, wie zu zeigen ist, nicht an historische und soziale Grenzen gebunden. Um sie zu verstehen, benötigen wir philosophische Sinnkriterien des Negativen.
Abstract
This article shows that there are at least two ways to describe the history of violence in the 20th century. The narrative of violence speaks of historical consciousness, that was formed by outstanding violence. In modern times, we are trying to get rid of this violence or in other words to overpower the history. The narrative of suffering is different. It tells us about the experience of suffering and pain, the losses and vulnerability. But the suffering does not lead us to final pessimism. It can be included in a philosophic view of the meaning of negativity, as to be shown.
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Wevelsiep, C. (2019). Narrative zwischen Gewalt und Leiden. In: Ballis, A., Gloe, M. (eds) Holocaust Education Revisited. Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24205-3_14
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