Zusammenfassung
Menschen sind vulnerable Wesen: Sie sind verletzbar und verwundbar, in manchen Situationen erweist sich ihr Leben als fragil und zerbrechlich, sie können durch ihre Lebensumstände Schaden nehmen und leiden, und nicht nur am Lebensende werden sie unausweichlich mit ihrer Endlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert. Da diese Feststellungen alle Menschen – wenn auch nicht in gleichem Ausmaß – betreffen, kann Vulnerabilität als bedeutsame anthropologische Kategorie verstanden werden. Als anthropologische These lässt sich festhalten, dass Menschen vulnerable Wesen sind, weil sie leiblich, sozial, kulturell und reflexiv verfasste Lebewesen sind. Menschen sind verletzungsoffen, weil sie körperlich und seelisch verletzbar sind, weil sie materiell geschädigt werden können oder weil ihnen Anerkennung und Teilhabe vorenthalten wird (Popitz 1992, S. 43–47).
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Notes
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Vulnerabilität meint nicht Verletzt- oder Beschädigtsein (wie so häufig in der einschlägigen Literatur, in der die Potenzialität der Verletzbarkeit mit der Realität der Verletzung gleichgesetzt wird), sondern nur die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, verletzt oder beschädigt werden zu können.
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Ben-Ze’ev (2009, S. 73–77) unterscheidet die Haupttypen affektiver Phänomene mit den Kriterien: 1. Allgemeine oder spezifische Bewertung und 2. aktuelle oder potenzielle Natur des Phänomens, und kommt somit zu vier affektiven Typen: 1. Emotionen (spezifisch, aktuell), 2. Sentiments (spezifisch, potenziell), 3. Stimmungen (allgemein, aktuell), 4. Affektive Merkmale (allgemein, potenziell). Trennscharf aber erscheint diese Differenzierung nicht. – In der maßgeblichen Literatur wird die Terminologie häufig undifferenziert verwendet.
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Ängstliche Stimmungen machen Menschen äußerst vulnerabel: Ängstliche Stimmungen schränken im hohen Maße, „unsere Alternativen ein, verzerren unser Denken und machen es uns schwerer zu kontrollieren, was wir tun, und das in der Regel aus keinem vernünftigen Grund“ (Ekman 2010, S. 72).
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Vgl. zu den wichtigsten in der Philosophie vertretenen Konzepten der Gefühle den Überblick von Krebs (Krebs 2015, S. 180 ff.), die folgende Modelle unterscheidet: Körpertheorie (körperliche Erregungszustände), Empfindungstheorie (Wahrnehmung von Erregungen), Verhaltenstheorie (willkürliches und unwillkürliches Verhalten), Kognitionstheorie (Bewertung), narrative Theorie (narrative integrierte Einheiten) und Komponententheorie (aus den dargestellten Ansätzen) – zu der auch der hier vertretene Ansatz gehört.
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„Gefühle sind Arten festliegender Muster der Dringlichkeit unter den Objekten der Aufmerksamkeit, den Richtungen des Fragens und den Schlußstrategien. […] Gefühle legen Probleme fest“ (de Sousa 2009, S. 320).
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Hat es etwas zu sagen, dass Angst vor allem an den Reaktionen der Augen ablesbar ist? Muss man die Angst vom Sehen und vom Blick her verstehen? (vgl. den Film Peeping Tom).
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Dieser anthropologisch häufig anzutreffende Sachverhalt lässt sich mit der historischen Sensologie von Perniola, der in der Gegenwart von einem Zeitalter des „Bereits-Gefühlten“ spricht (Perniola 2009, S. 19 ff.) gut in Verbindung bringen. Das Fühlen hat nach ihm einen unpersönlichen, anonymen, sozialisierten Charakter bekommen; das Fühlen der Menschen gleicht einem „Widerschein“, einer „Wiederbearbeitung oder einem „Echo“ (Perniola 2009, S. 31). Um die emotionale Autonomie wieder zu erlangen, gelte es, das Fühlen zu lernen, d. h. „Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, beständige Hinwendung“ zu praktizieren und zugleich auch „Sich-Fühlen-Lassen“: „sich selber darbieten, damit etwas in uns eine Möglichkeit des In-der-Welt-Seins-finden kann“ (Perniola 2009, S. 139).
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Es lässt sich aber noch eine andere Form der Täuschung vermerken, denn die subjektiv wahrgenommene Gefahr ist oft bedeutsamer als die einfachen Tatsachen (Ben-Ze’ev 2009, S. 138).
- 9.
Das aktuelle DSM V unterscheidet analog in anxiety, fear und panic attack.
- 10.
Bauman geht etwa mit Michael Bachtin davon aus, dass die etablierten Mächtigen in den Urzeiten ihre Macht einer Umformung der „kosmischen Angst“ (etwa vor Naturkatastrophen) in offizielle, menschliche Ängste verdanken; diese verwandelten die Urängste mithin in den „Schrecken eines Verstoßes gegen das Gesetz“ (Bauman 2017, S. 52–55).
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„Ein wichtiger Teil der Erziehung besteht darin, diese Reaktionen zu identifizieren, im Kontext der Szenarien dem Kind Namen für sie zu geben und ihm dadurch beizubringen, dass es ein besonderes Gefühl erfährt. Darin besteht zum Teil das, was es bedeutet zu lernen, die richtigen Gefühle zu fühlen …“ (de Sousa 2009, S. 300).
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Vgl. die Parallelisierung von Fink-Eitel (1993, S. 80) der Begriffe Kierkegaards: 1. Freiheit und Möglichkeit, 2. Notwendigkeit und Wirklichkeit, 3. Dualismus der Begriffe im Vergleich zu Heidegger: 1. Entwurf, 2. Faktizität, Geworfenheit, 3. Verfallensein. Während Kierkegaard die Angst von der Freiheit her versteht, denkt Heidegger sie von der Faktizität, d. h. dem Verfallensein aus.
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An dieser Stelle lässt sich ein Zusammenhang mit Freuds kleiner Schrift über Das Unheimliche von 1919 herstellen, in der Freud das Unheimliche, Schreckliche, Angst- und Grauenerregende zum Bestandteil des eigenen Selbst erklärt. Er schreibt: „Wenn die psychoanalytische Theorie in der Behauptung recht hat, dass jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig welcher Art, durch die Verdrängung in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen lässt, dass dieses Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche, und dabei muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst ängstlich war oder von einem anderen Affekt getragen“ (Freud 1982a, Bd. 4, S. 263–264). Das Unheimliche hat einen Furcht erregenden, überragenden Charakter, die den Wahrnehmenden Gefahr laufen lässt, die Wahrnehmung zu verlernen und zu verlieren – nicht mehr wahrnehmen zu können. Die Identität wird fragwürdig, weil die (Eigen-)Wahrnehmung angesichts des Unheimlichen implodiert. Das Unheimliche ist auch der Ort der Desorientierung als Verirren in einem Raum, in dem man (immer schon) gefangen ist, einem unheimlichen Raum, in dem die Identität aus den Fugen gerät. „Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt. Je besser ein Mensch in der Umwelt orientiert ist, desto weniger leicht wird er von den Dingen oder Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen“ (Freud 1982a, Bd. 4, S. 244–245; vgl. Zirfas 2016).
- 14.
Ich übergehe hier das frühe biologische Angstkonzept von Freud, das Angst auf eine Störung im aktuellen Sexualverhalten der Patienten zurückführt (Ermann 2012, S. 36–39).
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Michael Ermann (2012, S. 25–26) hat eine Phänomenologie der Angst vorgelegt, die zwischen unbewusster (verdrängter) und bewusster, manifester Angst unterscheidet. Diese wiederum wird in die realistische Signalangst und die pathologische Symptomangst unterschieden und letztere wiederum in die neurotisch und die strukturelle Symptomangst. – Die Mechanismen zur Angstabwehr hat Anna Freud herausgearbeitet: Rationalisierung, Verdrängung, Reaktionsbildung, Affektisolierung, Ungeschehenmachen, Verleugnung, Projektion, Wendung gegen das Selbst, Introjektion, Regression (Freud 1996).
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Unter dem Gesichtspunkt der Unberechenbarkeit ist es wohl der Terrorismus, der das Gefühl der Verwundbarkeit am rigorosesten ausnutzt (Townshend 2005).
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Unter Folter werden hier Institutionen und Handlungen verstanden, durch denen Menschen vorsätzlich und systematisch körperliche und seelische Schmerzen zugefügt werden, wobei diese Schmerzen sowohl von einer Person des öffentlichen Dienstes, einem ihrer Stellvertreter oder mit deren stillschweigenden Einverständnis als auch von Privatpersonen oder Mitgliedern verschiedener Organisationen verursacht werden.
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In jüngerer Zeit wird die Foltertechnik des Schlagens immer stärker durch die technologische Folter der Elektroschocks ersetzt, denn diese hinterlassen keine bleibenden sichtbaren Spuren. Auch diese Technik ist eine der Beherrschung: schwere Schmerzen, Bewegungsunfähigkeit, Verlust der Muskelkontrolle, Brechreiz, Ohnmacht, Magen- und Darmentleerungen, Angstzustände und Depressionen sind die Folgen. Durch die Technologie gelingt es der Macht mehrere Effekte auf einmal zu erzielen. Sie wird erstens selbst weniger unmittelbar, ja unsichtbarer, insofern etwa der moderne Elektroschockgürtel die Möglichkeit bietet, über die Entfernung von achtzig bis neunzig Meter dem Träger einen Schock zu versetzten; sie wird dadurch auch unberechenbarer, da in vielen Fällen das Opfer die Aktionen der Folterer nicht mehr antizipieren kann und sie bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die Hemmschwellen der Folterer noch weiter herabzusetzen, die jetzt nicht mehr unmittelbar selbst Hand anlegen müssen. – Neben der Technik lassen sich im Kontext der Folter auch noch die Indifferenz des Folterenden und die (religiöse und politische) Glorifizierung der Macht im „Syndrom einer absoluten Gewalt“ (Popitz 1992, S. 66–69) verhandeln.
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Dennoch haben auch sprachliche Verletzungen nie nur ermächtigende, unterwerfende, sondern auch ermächtigende, befreiende Wirkungen. Butler spricht hierbei von einer „ermächtigenden Verletzbarkeit“ (2013, S. 10), die spezifische Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet.
- 20.
Wie kaum eine andere Philosophie hat – neben der Psychoanalyse (Bittner 1995) –die Existenzphilosophie die Gegenwart des Todes im Leben und das Todesbewusstsein reflektiert. Versteht man die Formel, dass der Tod einen Schatten über das Leben wirft, nicht metaphorisch, sondern existenziell, so erscheinen nicht nur Ängste und Gewalterfahrungen, sondern auch Phänomene wie Einsamkeit, Krankheit, Melancholie, Nacht, Schlaf, Übergangsrituale, Verluste, ja selbst die Liebe oder die Erotik als negative Vorspiele des Todes im Leben (Theunissen 1991). Angst und Gewalt lassen sich mithin als wichtige Formen der Gegenwart des Todes im Leben festhalten. Hierbei sind Unbestimmbarkeit, Kontingenz, Verlust und Abschiedlichkeit zentrale Bestimmungsfaktoren (Zirfas 2009).
- 21.
„Unser ganzes Leben lang steht immer die Möglichkeit unseres Todes im Hintergrund; sie erinnert uns an unsere profunde Verletzlichkeit“ (Ben-Ze’ev 2009, S. 27).
- 22.
Anders und zwar bildungstheoretisch formuliert: Die Angst wird zur Gewalt, wenn sie Bildung unmöglich macht. Bildung ist der Versuch, im Verhältnis zu sich und zu anderen mit Ängsten gewaltfrei umzugehen. Gewalt ist der Versuch, die anthropologische Verletzlichkeit zu negieren.
- 23.
Diese vier Angstformen kann man als Formen der Selbst-und Weltentfremdung verstehen, die – wenn sie pathologisch werden – keine „Rückkehr aus der Entfremdung“ (Buck) mehr ermöglichen. – Es lässt sich allerdings auch eine Angst denken, die sich davor fürchtet, keine Angst mehr zu haben. Man könnte diese Angst die Angst vor der Unmöglichkeit von Bildung nennen. So wie der Gastgeber bei Klossowski (1996, S. 126) „ängstlich den Fremden, den er am Horizont als Befreier auftauchen sieht“ mit dem Zuruf begrüßt: „,Tritt rasch ein, denn ich fürchte mich vor meinem Glück‘“, so kann man Angst davor haben, dass das Glück des Fremden das bisher maßgebliche Glück übersteigt; und man kann Angst davor haben, dass genau diese Situation nicht mehr eintreten wird (Derrida 2001, S. 93–96) – dass es keine Bildung mehr geben wird.
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Man kann sie auch mit Durkheims Selbstmordformen kombinieren; Die Angst vor Selbsthingabe korrespondiert dem altruistischen, die Angst vor Selbstwerdung dem egoistischen, die Angst vor Veränderung dem anomischen und die Angst vor der Notwendigkeit dem fatalistischen Selbstmord (Rosa 2016, S. 192–195).
Literatur
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Zirfas, J. (2020). Angst und Vulnerabilität. Anthropologische Zugänge. In: Ecarius, J., Bilstein, J. (eds) Gewalt – Vernunft – Angst. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23582-6_4
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