Zusammenfassung
Eine phänomenologische Bildanalyse muss, wie jede andere Bildanalyse auch, primär nach dem Bildsinn fragen. Dabei darf sie aber den Verweisungszusammenhang, der für den Sinn des Dargestellten konstitutiv ist, nirgendwo anders hernehmen als allein aus dem Bild – und das auch dann, wenn nur ein einzelner Gegenstand dargestellt ist. Das bedeutet, dass Verweisungszusammenhang und dargestellter Gegenstand, Bild und Bildsinn zugleich gesehen werden müssen. Darin, dass dies möglich ist, liegt, so soll in diesem Beitrag gezeigt werden, die philosophische Bedeutung des Bildes. Das Bild lässt über das hinaus, was sich in ihm zeigt, die Dimension des Sich-zeigens selbst mit aufgehen und sichtbar werden. Es ist mehr als ein bloßer Wahrnehmungsgegenstand, es ist ein Wahrnehmungsereignis, das es möglich macht, dass der Sehende an ihm und damit am Prozess des Sichtbarwerdens und Sich-zeigens selbst teilhat. Anders als beispielsweise in der hermeneutischen Theorie angenommen, gründet solche Teilhabe nicht im positiven Vorurteil des Bildbetrachters, sondern im Widerfahrnischarakter des Sehens. Besonders charakteristisch ist dieser Widerfahrnischarakter für das Sehen des Künstlers. Der Künstler bildet nicht das ab, was sichtbar vor ihm liegt, sondern er lässt sich vom Sichtbaren berühren und befremden und forscht nach der unsichtbaren Herkunft des Sichtbaren. Zu sehen vermag der Künstler erst in dem Augenblick, in dem sich das Moment des Unsichtbaren als das Sichtbarwerden selbst erweist. Das geschieht, wenn das Sichtbare von neuem sichtbar wird – nun aber so, dass der Prozess des Sichtbarwerdens den Künstler mit einschließt, weil das Sichtbare für ihn sichtbar wird. Sein Sehen hat am Sichtbarwerden des Gesehenen teil. Tatsächlich setzt Sichtbarkeit immer ein solches Sehen voraus und ist nie einfach gegeben. Deswegen gilt auch für den Betrachter des Bildes etwas ganz Ähnliches wie für den Künstler. Er muss das, was dem Künstler im Schaffensprozess wiederfährt, in der Betrachtung zu wiederholen versuchen. Eben deshalb, weil das Sehen von Bildern vom Betrachter fordert, sich auf das Ereignis des Sichtbarwerdens einzulassen, anstatt die Bilder mithilfe eines von außen herangezogenen Wissens zu interpretieren, sind Bilder in einem interkulturellen Kontext von besonderem Interesse. Sie vermögen auch solche Sinnzusammenhänge sicht- und erfahrbar zu machen, für die der Betrachter noch kein positives Vorurteil ausgebildet hat und für die ihm deshalb auch adäquate diskursive Anknüpfungspunkte fehlen.
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Weidtmann, N. (2018). Das Sichtbarwerden des Unsichtbaren. In: Seitz, S., Graneß, A., Stenger, G. (eds) Facetten gegenwärtiger Bildtheorie. Reihe Interkulturelle Philosophie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22827-9_5
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