Zusammenfassung
Das neoliberale Projekt hinterlässt unübersehbar Spuren sozialer Verwerfungen und erschöpfter Subjekte. Beschleunigte, entgrenzte und prekarisierte Arbeits- und Lebensverhältnisse scheinen heute normalisiert. Selbstsorge erscheint in diesem Kontext als eine Praxis des Schutzes des Subjekts. Der folgende Beitrag unterzieht diese Position einer kritischen Betrachtung. Er diskutiert im Anschluss an feministische Analysen und unter Rekurs auf die Foucaultsche Perspektive der Gouvernementalität, dass der Aufruf zur Selbstsorge heute zu einem wesentlichen Moment gegenwärtiger Regierungsweisen im neoliberalen Post-Wohlfahrtsstaat geworden ist. Dies führt mit Blick auf Sorge- und Geschlechterverhältnisse zu der Erkenntnis, dass im Kapitalismus der Gegenwart nicht nur von einer neuerlichen, radikalisierten Abwertung von Sorgearbeiten und somit von einer Sorglosigkeit zu sprechen ist. Vielmehr wird durch Rekonstruktion diverser Selbstsorgeformen gezeigt, dass das Reden über und das Tun von Selbstsorge zugleich angereizt, d. h. permanent hervorgebracht und vervielfältigt wird, und zwar auf privatisierende, Abhängigkeiten dethematisierende, maskulinistische Weise.
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Notes
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Cornelia Klingers (2014) Zugang ist gleichwohl interessant und einer kritischen Perspektive verpflichtet. Sie unterscheidet zwischen Selbstsorge als emanzipativer Praxis und Selbsttechnologie als einer dem kapitalistischen Marktsystem unterwerfende Praxis. Dadurch erhält der Begriff der Selbstsorge allerdings etwas Unschuldiges, ausschließlich Schützendes.
- 2.
Ein Blick in die Einführung in die Arbeits- und Industriesoziologie von Heiner Minssen (2006) mag dafür als Beleg dienen. Gleichwohl ist anzumerken, dass sich die Rezeptionssperren gegenüber feministischen industrie- und arbeitssoziologischen Autorinnen und (Gesellschafts-)Analysen in den letzten fünfzehn Jahren gelockert haben und Bewegung ins Feld kommt.
- 3.
Die sozialwissenschaftliche Diagnose der Transformation vom welfare zum workfare state und damit verknüpft einer Engführung sozialer Teilhabe auf Erwerbsarbeit (Dahme und Wohlfahrt 2002) bestätigt diesen Gedanken.
- 4.
Beispiele des Umschlagens finden sich bei Karina Becker (2016).
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Sicherlich muss hier zwischen Therapieansätzen unterschieden werden. So ist die Psychoanalyse im Vergleich mit etwa der Verhaltenstherapie grundlegend sperriger gegenüber einer neoliberalen Vereinnahmung, gleichwohl ist auch sie nicht völlig davor gefeit.
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Die Perspektive ist somit auf die mittelschichtsorientierte, ideologisch privilegierte Subjektposition einer Mutter eingestellt.
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Siehe etwa die von unterschiedlichen Anbietern entwickelten Checklisten zur Schulreife, hier exemplarisch des Klett-Verlags: https://www2.klett.de/sixcms/media.php/10/DO01929244_Deutsch_93_95_120dpi.666876.pdf (zugegriffen: 28. November 2019).
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Gabriele Winker und Tanja Carstensen haben dargelegt, dass die Handlungsprämissen des Arbeitskraftunternehmers gleichermaßen Anforderungen an das Reproduktionshandeln evozieren (2007), daher sprechen sie von ArbeitskraftmanagerInnen. Diese Perspektive ist instruktiv, der Blick auf die Selbstsorgeformen liegt gleichwohl quer zu den getrennten Sphären der Produktion/Reproduktion und kann als Versuch gelesen werden, das organische Ineinandergreifen bzw. das Verbundensein dieser Sphären in der Erfahrung des Subjekts sichtbar zu machen.
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Wenn daher die Erkenntnis stimmt, dass die Psyche ein Ort geworden ist, an dem gearbeitet werden kann und muss, dann ist für den Aspekt feministischer Kritik sicherlich nicht irrelevant, dass für die Bearbeitung dieses Ortes im kindlichen Selbst es die Bedeutung der Mutter ist, die als zentrales Konstituens für dieses Selbst immer wieder aufgerufen wird.
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Diese führen häufig soziale Konflikte mit sich, etwa im Kontext geteilter elterlicher Sorgeverantwortung und den damit entstandenen Abhängigkeiten auf der Ebene der Paarbeziehung, wenn es darum geht, wer sich nun um das Kind kümmern muss und wer sich um sich selbst kümmern „darf“.
- 11.
Wie etwa das Reinigen von Toiletten. Dies ist eine Vermutung, keine empirische Evidenz. „Staubsaugen“ hingegen hat sich als legitime männliche Hausarbeit etablieren können (Grunow und Baur 2014).
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Hier ist sicherlich zuvörderst an die Psychoanalyse (in ihrer Doppelfunktion als Therapieansatz und als Gesellschaftstheorie) zu denken.
- 13.
Vgl. Winker (2015) zu Care Revolution.
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Rau, A. (2020). Selbstsorge und Geschlecht im neoliberalen Post-Wohlfahrtsstaat. In: Becker, K., Binner, K., Décieux, F. (eds) Gespannte Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im Marktkapitalismus. Geschlecht und Gesellschaft, vol 72. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22315-1_8
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