Zusammenfassung
Die Verdrängung der Erinnerung an eine traumatische Vergangenheit charakterisiert den Alltag der namenlosen Familie des ebenso namenlosen Ich-Erzählers in Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene (1998). Während der Flucht vor Soldaten der Roten Armee verlieren die aus Ostpreußen stammenden Eltern ihren ältesten Sohn (Arnold) und der Mutter wird vermutlich Gewalt angetan. Der Ich-Erzähler ist das später geborene zweite Kind, das bis zu einem gewissen Zeitpunkt über keine bzw. nur falsche Informationen über diese vergangenen Ereignisse verfügt. Erst als die Möglichkeit besteht, Arnold eventuell wieder auffinden zu können, wird der Ich-Erzähler mit einer lückenhaften Rekonstruktion der Familienvergangenheit konfrontiert, die auf sein Selbstbewusstsein äußerst störend wirkt: Schuldbewusstsein, Schamgefühl, Angst und körperliche Störungen sind die Symptome einer Identitätskrise, in der sein Ich zum ersten Mal erfährt, dass sein bisheriges Familienleben auf Täuschungen, dem Verschweigen von Tatsachen, und sogar Lügen konstruiert war. Die autobiographisch gefärbte Lebensgeschichte der Familie hat allerdings nicht nur privaten Wert, sondern an ihr werden Verdrängungen und lügenhafte Rekonstruktionen der Kriegszeit im Nachkriegsdeutschland veranschaulicht. Im Aufsatz werden diese Verbindungen hervorgehoben und der Nexus zwischen Geschichte, Erinnerung und literarischem Schreiben in Treichels Werk analysiert. Es wird erläutert, in welcher besonderen Hinsicht Der Verlorene als Gedächtnisnarrativ gelesen werden kann. Schließlich wird auf die komischen Formen und auf die ironische Schreibweise im Zusammenhang mit dem behandelten Themenkomplex eingegangen.
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Grazzini, S. (2018). Erinnerte Vergangenheit und subjektive Wahrnehmung: Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene. In: Maldonado-Alemán, M., Gansel, C. (eds) Literarische Inszenierungen von Geschichte. J.B. Metzler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21671-9_6
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