Zusammenfassung
Warum werden Bevölkerungsprojektionen, trotz gegenteiliger Hinweise, in den Medien fast immer als Prognosen rezipiert? Fehlinterpretationen durch Journalist/innen werden bereits seit längerem von renommierten Demograf/innen thematisiert. Neu ist jedoch, dass dies bspw. in Bezug auf Fertilitäts- und Altersmaße vermehrt selbstreflexiv stattfindet, wenngleich derartige Reflexivität bislang noch sehr selten zu beobachten ist. Die Demografisierung des Gesellschaftlichen (Eva Barlösius) basiert folglich nicht nur auf Missverständnissen: der teilweise problematisch verengte „formale Kern“ der Demografie trägt dazu ebenso bei, wie die massenmediale Funktionslogik der Dramatisierung. Hinter der Patina vermeintlicher bevölkerungswissenschaftlicher Objektivität als Rechtfertigung für Einflussnahmen auf soziale Verteilungskonflikte, bspw. zur Privatisierung der Altersvorsorge stehen oft konkrete politische Interessen. Die Ergebnisse einer Foucaultschen Diskursanalyse sowohl epistemologischer Grundlagen demografischen Zukunftswissens als auch deren massenmedialer Vermittlung in über 3800 Presseartikeln von 2000 bis 2013 verdeutlichen eine demografisch „legitimierte“ Gouvernementalität vermeintlich unausweichlicher Sachzwänge. Die Gesellschaft wird einem demografischen Zukunftswissen unterworfen, dessen epistemologische Grundlagen keinesfalls derartig sicher sind, wie es massenmedial oftmals dargestellt wird.
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Notes
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Titel und Zitate in diesem Absatz sind Übersetzungen des Verfassers.
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Das 2009 im Rahmen eines Stipendiums an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne begonnene Dissertationsprojekt wurde mittlerweile erfolgreich verteidigt und wird zeitnah als Monografie veröffentlicht. Projekt wird 2016 abgeschlossen.
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Diese hier weiter auszuführen, würde den Rahmen des Beitrags überschreiten, daher sei einführend auf Bauer und Ernst (2010) bzw. Schmidt-Burkhardt (2012) sowie zur grundsätzlich möglichen Anschlussfähigkeit Foucaultʼscher Diskursanalyse zum Pragmatismus auf Koopman (2011) bzw. Rabinow (2011) verwiesen.
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Unabhängig von dem in ihrem Buchtitel enthaltenen zeitdiagnostischen Begriff Postmoderne findet dieser Umbruch insbesondere auch im Hinblick auf demografischen Wandel bereits in der Disziplin statt.
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Messerschmidt, R. (2017). Demografischer Wandel und gesellschaftliche Zukunft – Deutsche Alterungsdiskurse der Gegenwart und die wachsende Kritik an deren medialer Dramatisierung. In: Gummert, H., Henkel-Otto, J., Medebach, D. (eds) Medien und Kulturen des Konflikts. Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16108-8_6
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