Zusammenfassung
Soziologische Zeitdiagnosen der fortgeschrittenen Moderne konstatierten seit langem eine Auflösung kultureller Gewissheiten und eine Pluralisierung sozialer Orientierungsmuster. Statt Verbindlichkeiten gebe es eine Vielfalt an Optionen; Notwendigkeiten würden zunehmend zu Möglichkeiten. In der „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) erweitert sich die Palette des Wünschbaren und des Machbaren im schnellen Takt des Zeitgeistes; für jede Entscheidung (oder Nicht-Entscheidung) scheint es gleich gute wie schlechte Gründe zu geben. Dies trifft auch auf kollektive kulturelle Überzeugungen und individuelle Lebenspläne zu. Auch sie unterliegen Trends und Moden. Die Individuen, wenn sie sich nicht ohnehin durchs Leben treiben lassen, treffen Entscheidungen über ihre absehbare Zukunft immer weniger mit Blick auf feste Lebensziele, sondern aus der Situation und der Gelegenheit heraus. Die Sozialisation, hier verstanden als Bindung an kollektive Werte und Normen, bleibt offen; die Identität – wie von Riesman (s. o. Kap. 8) oder Berger, Berger und Kellner (s. o. Kap. 16.3) prognostiziert – bleibt ein vorläufiger Entwurf. Die Postmoderne ermöglicht jedem Einzelnen, im „kulturellen »Supermarkt« für Weltdeutungsangebote aller Art“ (Hitzler und Honer 1994, S. 308) seine eigene Existenz ständig (neu) zu entwerfen und zusammenzubasteln, aber das fordert sie auch von jedem Einzelnen. Diese Bastelexistenz heißt aber nicht „Autonomie des Menschen; heißt nicht: Entwurf eines befreienden Lebensdesigns. Bastelexistenz heißt: irgendwie sich durchwursteln; mit den vorgefundenen »Materialien« irgendwie überleben.“ (Hitzler 2003, S. 69) Das Subjekt sieht sich einerseits aufgewertet, andererseits aber auch mit zunehmenden kulturellen und sozialen Ungewissheiten konfrontiert.
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Literatur
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Abels, H., König, A. (2016). Selbstsozialisation – strukturloser Subjektzentrismus?. In: Sozialisation. Studientexte zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-13229-3_23
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