Zusammenfassung
Im Fokus dieses Sammelbandes stehen grenzüberschreitende Austauschprozesse, Strategien und Handlungsorientierungen von kollektiven Akteuren der Arbeitsbeziehungen, das heißt, der Gewerkschaften, Euro-Betriebsräte, Unternehmen, Arbeitgeberverbände und von staatlichen, nationalen und supranationalen Akteuren. Wir fragen nach deren möglichen Beitrag, die bestehende Inkongruenz von Ökonomie und Sozialintegration innerhalb der Europäischen Union (EU) zu reduzieren oder zu verstärken. Dabei nehmen wir eine Perspektive ein, die es erlaubt, durch Akteure induzierte Entwicklungsmöglichkeiten und Rückschläge europäischer Integrationsprozesse zu analysieren.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
In ähnlicher Weise definiert Pries (2008, S. 44) den Begriff der Transnationalisierung als „Prozess der Herausbildung relativ dauerhafter und dichter pluri-lokaler und nationalstaatliche Grenzen überschreitender Beziehungen von sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten“.
- 2.
Das Konzept der horizontalen Europäisierung grenzt sich analytisch von Konzepten der vertikalen Europäisierung ab, welche auf die vorwiegend politisch-administrativen und rechtlichen Beziehungen zwischen der supranationalen Ebene der EU und den Mitgliedstaaten abzielen (Heidenreich et al. 2012). Im Mittelpunkt des Konzepts der horizontalen Europäisierung stehen Prozesse der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung in Europa als räumlicher und sozialer Bezugspunkt. Darüber hinaus nehmen wir an, dass die Europäische Union und ihre politischen Machtzentren besondere Formen der horizontalen Verflechtung von Staaten, Organisationen, sozialen Bewegungen und Individuen hervorzubringen vermag.
- 3.
Im Laufe der 1990er Jahre kam es zum Abschluss mehrerer Rahmenabkommen der Europäischen Sozialpartner, die in der Folge vom Ministerrat in Form von EU-Richtlinien verbindlich gemacht wurden, darunter sind besonders zu erwähnen die Richtlinie über Europäische Betriebsräte (RL 94/45/EG) oder mehrere Richtlinien zum Thema „atypische Beschäftigung“ (detailliertere Ausführungen vgl. Keller 1997; Falkner 1998).
- 4.
Durch die Verordnung (EWG) 1408/71 wurde allerdings die Portabilität von Wohlfahrtsrechten ermöglicht und damit transnationale Mobilität durch die Ausweitung individueller Rechte begünstigt.
- 5.
Die Haltung der europäischen BürgerInnen zu Europa wurde in den ersten Jahrzehnten als „permissiver Konsens“ beschrieben, eine Mischung aus Wohlwollen und Gleichgültigkeit, der spätestens Anfang der 2000er Jahre ein Ende gefunden hat (Rauh und Zürn 2014).
- 6.
Durch die Forcierung „autonomer“ Sozialdialoge (z. B. Keller und Platzer 2003) und die aktuelle Krisenpolitik (European Economic Governance) kam es zu einem Entzug politischer und institutioneller Unterstützung von Arbeitnehmerorganisationen und zu invasiven Eingriffen in nationale Institutionen der Lohnfindung und Tarifpolitiken von Schuldnerländern (Lehndorff 2012; Hermann und Hinrichs 2012).
- 7.
Das finnische Reederei-Unternehmen Viking flaggte seine Fährschiffe auf Estland um günstigere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu erzielen. Im Viking Fall gab es Streikandrohungen der finnischen Gewerkschaft. Gleichzeitig weigerte sich die nunmehr zuständige estnische Gewerkschaft aus Solidarität mit den finnischen ArbeiterInnen Tarifverhandlungen mit dem Unternehmen zu führen.
- 8.
Die Rechtsprechungen des EuGH, in denen die Grundfreiheiten gegenüber sozialen Grundrechten abgewogen werden, stellen in zweifacher Hinsicht eine problematische Kompetenzanmaßung des EuGH dar (Höpner 2009). Erstens setzt sich der EuGH hier über primärrechtliche Regelungen (Art 157 Abs. 5 EGV), die eine Sperrklausel der Gesetzgebungskompetenz in den Bereichen Arbeitsentgelt, Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht beinhalten, weitgehend sanktionslos hinweg. Zweitens lässt die wiederholte Urteilspraxis des EuGH zulasten der sozialen Dimension europäischer Integration darauf schließen, dass die vorhandenen politischen Mittel auf supranationaler Ebene zur Regulierung der Kapitalseite äußerst begrenzt sind. Um ein Urteil des EuGH, das sich auf Primärrecht stützt, zu revidieren, ist eine Änderung des EU-Vertrages erforderlich, die von allen Mitgliedsländern zu ratifizieren ist (Scharpf 2010).
- 9.
Whipsawing-Strategien beziehen sich auf Managementstrategien, die darauf abzielen verschiedene Produktionsstandorte gegeneinander auszuspielen um von diesen Konzessionen in Fragen der Lohn- und Arbeitszeitgestaltung zu erhalten.
Literatur
Anner, M., Greer, I., Hauptmeier, M., Lillie, N., & Winchester, N. (2006). The industrial determinants of transnational solidarity: Global interunion politics in three sectors. European Journal of Industrial Relations, 12(1), 7–27.
Bach, M. (2008). Europa ohne Gesellschaft. Politische Soziologie der europäischen Integration. Wiesbaden: Springer Verlag.
Beck, U., & Grande, E. (2004). Das kosmopolitische Europa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Beckert, J. (1999). Agency, entrepreneurs and institutional change: The role of strategic choice and institutionalized practices in organisations. Organisation Studies, 20(5), 777–799.
Bernaciak, M. (2013). Labour solidarity in crisis? Lessons from general motors. Industrial Relations Journal, 44(2), 139–153.
Blanke, T. (2008). Die Entscheidungen des EuGH in den Fällen Viking, Laval und Rueffert - Domestizierung des Streikrechts und europaweite Nivellierung der industriellen Beziehungen. Universität Oldenburg. www.cetro.uni-oldenburg.de/download/Nr._18_jm.pdf. Zugegriffen: 21. Nov. 2013.
Brinkmann, U., Choi, H.-L., Detje, R., Dörre, K., Holst, H., Karakayali, S., & Schmalenstieg, C. (2008). Strategic Unionism – Aus der Krise zur Erneuerung der Gewerkschaften: Umrisse eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Brint, S., & Karabel, J. (1991). Institutional origins and transformations. The case of American community colleges. In W. Powell & P. DiMaggio (Hrsg.), The new institutionalism in organizational analysis (S. 337–360). Chicago: University Press.
Deutsch, K.W., Burrell, S.A., Kann, R.A., Lee, M., Lichterman, M., Lindgren, R.E., Loewenheim, F.L. & Van Wagenen, Richard W. (1957). Political community and the North Atlantic area: International organization in the light of historical experience. New York: Greenwood.
DiMaggio, P. (1988). Interest and agency in institutional theory. In L. G. Zucker (Hrsg.), Institutional patterns and organizations. Culture and environment (S. 3–22). Cambridge: HarperBusiness.
DiMaggio, P., & Powell, W. (1983). The iron cage revisited: Institutional isomorphism and collective rationality in organizational fields. American Sociological Review, 48(2), 147–160.
Durkheim, E. (1977) [1893]). Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fabbrini, F. (2012). Europe in need of a new deal: On federalism, free market, and the right to strike. Georgetown Journal of International Law, 43(4), 1175–1258.
Falkner, G. (1998). EU social policies in the 1990s: Towards a corporatist policy community. London: Routledge.
Fligstein, N. (2008). Euroclash: The EU, European identity, and the future of Europe. Oxford: Oxford University Press.
Fligstein, N., & Stone-Sweet, A. (2002). Constructing polities and markets: Institutionalist account of European integration. American Journal of Sociology, 107(5), 1206–1243.
Friedland, R., & Alford, R. R. (1991). Bringing society back: Symbols, practices, and institutional contradictions. In W. Powell & P. DiMaggio (Hrsg.), The new institutionalism in organisational analysis (S. 232–263). Chicago: Chicago University Press.
Gerhards, J., Lengfeld, H., & Häuberer, J. (2014). The EU Crisis and citizens support for a European welfare state. Arbeitspapier Nr. 30. Berliner Studien zur Soziologie Europas des Instituts für Soziologie. Freie Universität Berlin.
Giddens, A. (1987). Social theory and modern sociology. Stanford: Stanford University Press.
Greer, I., & Hauptmeier, M. (2008). Political entrepreneurs and co-managers: Labour transnationalism at four multinational auto companies. British Journal of Industrial Relations, 46(1), 76–97.
Haas, E. B. (1958). The uniting of Europe. Stanford: Stanford University Press.
Heidenreich, M., Delhey, J., Lahusen, C., Gerhards, J., Mau, S., Münch, R., & Pernicka, S. (2012). Europäische Vergesellschaftungsprozesse: Horizontale Europäisierung zwischen nationalstaatlicher und globaler Vergesellschaftung. Working Papers of DFG Research Unit „Horizontal Europeanization“.
Hermann, C., & Hinrichs, K. (2012). Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf Sozialstaaten und Arbeitsbeziehungen - ein europäischer Rundblick. Eine Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Wien. November 2012. Forba – Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt Arbeiterkammer Wien.
Hoffman, A. J. (1999). Institutional evolution and change: Environmentalism and the US chemical industry. Academy of Management Journal, 42(4), 351–371.
Höpner, M. (2009). Integration durch Usurpation - Thesen zur Radikalisierung der Binnenmarktintegration. WSI Mitteilungen, 62(8), 407–415.
Höpner, M. (2013). Die Verschiedenheit der europäischen Lohnregime und ihr Beitrag zur Eurokrise: Warum der Euro nicht zum heterogenen Unterbau der Eurozone passt. MPIfG Discussion Paper, 13(5), 1–28.
Hürtgen, S. (2013). Gewerkschaftliche Transnationalisierung um den Preis nationaler sozialer Desintegration? Vortrag am ÖGS-Kongress 2013, Linz.
Hyman, R. (1999). Imagined solidarities: can trade unions resist globalization? In P. Leisink (Hrsg.), Globalization and labour relations (S. 94–117). Cheltenham: Edward Elgar.
Keller, B. (1997). Europäische Arbeits- und Sozialpolitik. München: Oldenburg.
Keller, B., & Platzer, H.-W. (Hrsg.). (2003). Industrial relations and European integration: Trans- and supranational developments and prospects. Aldershot: Ashgate.
Klemm, M., Kraetsch, C., & Weyand, J. (2011). „Das Umfeld ist bei ihnen völlig anders“: Kulturelle Grundlagen der europäischen betrieblichen Mitbestimmung. Berlin: Edition Sigma.
Lawrence, T. B., & Suddaby, R. (2006). Institutions and institutional work. In S. Clegg, C. H. Steward, T. B. Lawrence, & R. W. Nord (Hrsg.), The sage handbook of organisation studies (S. 215–254). Thousand Oaks: SAGE.
Lawrence, T. B., Suddaby, R., & Leca, B. (Hrsg.). (2009). Institutional work. Actors and agency in institutional studies of organisations. Cambridge: Cambridge University Press.
Lehndorff, S. (2012). Ein Triumph gescheiterter Ideen: Warum Europa tief in der Krise steckt. Zehn Länder-Fallstudien. Hamburg: VSA Verlag.
Mau, S. (2014). Horizontale Europäisierung – eine soziologische Perspektive. In U. Liebert & J. Wolff (Hrsg.), Interdisziplinäre Europastudien. Wiesbaden: VS Springer (i.E.).
Meyer, J. W., & Rowan, B. (1977). Institutional organizations: Formal structure as myth and ceremony. American Journal of Sociology, 83(2), 340–363.
Münch, R., & Büttner, S. (2006). Die europäische Teilung der Arbeit. Was können wir von Emile Durkheim lernen? In M. Heidenreich (Hrsg.), Die Europäisierung sozialer Ungleichheit. Zur transnationalen Klassen- und Sozialstrukturanalyse (S. 65–107). Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
Pernicka, S., & Glassner, V. (2014). Transnational trade union strategies towards European wage policy: A neoinstitutional framework. European Journal of Industrial Relations. doi:10.1177/0959680113518232.
Pries, L. (2008). Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Rauh, M., & Zürn C. (2014). Zur Politisierung der EU in der Krise. In M. Heidenreich (Hrsg.) Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. (S. 121–145) Wiesbaden: VS-Verlag.
Recchi, E. (2008). Cross-state mobility in the EU. European Societies, 10(2), 197–224.
Scharpf, Fritz W. (1996). Negative and Positive Integration in the Political Economy of European Welfare States. In G. Marks, F.W. Scharpf, P.C. Schmitter, & W. Streeck (Hrsg.) Governance in the European Union. (S. 15–39 ). London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage Publications.
Scharpf, F. W. (2010). The asymmetry of European integration, or why the EU cannot be a 'social market economy’. Socio-Economic Review, 8(2), 211–250.
Scott, R. (2008). Institutions and organisations: Ideas and interests. Thousand Oaks: SAGE.
Scott, R. W., Rueff, M., Mendel, P. J., & Caronna, C. A. (2000). Institutional change and healthcare organizations. Chicago: Chicago University Press.
Silver, B. (2003). Forces of labour. Workers’ movements and globalisation since 1870. Cambridge: Cambridge University Press.
Stone Sweet, A., Sandholtz, W., & Fligstein, N. (Hrsg.). (2001). The institutionalization of Europe. Oxford: Oxford University Press.
Streeck, W. (1998). The internationalization of industrial relations in Europe: Prospects and problems. In: Politics and Society, 26(4), 429–459.
Streeck, W. (2013). Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.
Thornton, P., Ocasio, W., & Lounsbury, M. (2012). The institutional logics perspective: A new approach to culture, structure and process. Oxford: Oxford University Press.
Tilly, C. (2006). Regimes and repertoires. Chicago: Chicago University Press.
Vobruba, G. (2010). Gesellschaftstheoretische Grundlagen der Europasoziologie. Die soziologische Beobachtung der Gesellschaft in der Europäischen Integration. In M. Eigmüller & S. Mau (Hrsg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung (S. 431–470). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Vobruba, G. (2013). The Eurozone in crisis: No way back. Open Democracy. www.opendemocracy.net/georg-vobruba/eurozone-crisis-no-way-back. Zugegriffen: 20. Okt. 2013.
Wright, E. O. (2000). Working-class power, capitalist-class interest, and class compromise. American Journal of Sociology, 105(4), 957–1002.
Zietsma, C., & Lawrence, T. (2010). Institutional work in the transformation of an organizational field: The interplay of boundary work and practice work. Administrative Science Quarterly, 55, 189–221.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Pernicka, S. (2015). Einleitung. In: Pernicka, S. (eds) Horizontale Europäisierung im Feld der Arbeitsbeziehungen. Europa – Politik – Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07556-9_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-07556-9_1
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-07555-2
Online ISBN: 978-3-658-07556-9
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)