Zusammenfassung
Atlas Shrugged, das literarisch-ideologische Hauptwerk der russisch-amerikanischen Autorin Ayn Rand, hat sich in den USA seit seiner Erstauflage millionenfach verkauft. Das Werk will die politische Kultur liberaler Gesellschaften gegen eine als dominant und zerstörerisch empfundene (marxistische) Gleichheitsideologie immunisieren und dem Liberalismus ein stützendes Narrativ zur Verfügung stellen. Die These des vorliegenden Beitrags ist, dass die narrativ transportierten Ideen Rands, in ihrem antitotalitären, individualistischen Impetus dabei jedoch selbst in totalitäre Denkmuster umschlagen, was in der Konsequenz eine Grundlagenreflexion des liberalen Selbstverständnisses erforderlich macht. Der Beitrag offeriert damit einerseits eine Interpretation und Kritik von Rands politischem Denken wirft andererseits die Frage auf, welche Rolle narrativ vermittelte Ideen in einer freiheitlichen Gesellschaft spielen, und wie literarische Narrative und politische Kultur sich zueinander verhalten.
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Notes
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So ist beispielsweise zu beobachten, dass der Erfolg des SM-Romans Shades of Grey zu bemerkenswerten Umsatzsteigerungen bei den Anbietern von Sex-Paraphernalia geführt hat, die für Praktiken benötigt werden, welche bislang gesellschaftlich tabuisiert waren. Ein weiteres Beispiel für gesellschaftliche Auswirkung von Literatur ist der sogenannte „Werther-Effekt“ (Ziegler und Hegerl 2002, S. 41–49), der einen Zusammenhang zwischen der Lektüre von Goethes Leiden des jungen Werther und der zeitgenössischen Vielzahl von Suiziden bei dessen Leserschaft impliziert.
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Die Autorin wurde 1905 in St. Petersburg als Alissa Sinowjewna Rosenbaum geboren und nahm den Namen Ayn Rand erst nach ihrer Flucht in die USA an. Zur Lebens- und Werkgeschichte von Rand sind zwei Monographien jüngeren Datums (Burns 2009; Heller 2009) zu empfehlen. Für einen informierten Überblick über Leben, Werk, Figurenzeichnung, etc. ist auf den Ayn Rand Companion von Gladstein (1999) zu verweisen, wobei die Autorin dem Lager der Rand-Anhänger zuzurechnen ist.
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Zur Entstehungszeit dieses Beitrags wurde in den USA eine hitzige Debatte darüber ausgetragen, ob und inwiefern der „running mate“, Paul Ryan, des republikanischen Präsidentschaftskandidaten 2012, Mitt Romney, durch Rands Ideen beeinflusst sei. In einer Rede bei der Atlas Society bekannte er sich unzweideutig zum maßgeblichen Einfluss ihrer Romane auf seine Überzeugungen (Wallaschek 2012, S. 9–13; Quack 2012; Atlas Society 2012).
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Eine neue deutschsprachige Übersetzung (Rand 2012) ist im Jahr 2012 erschienen und hat zwar ein gewisses Echo in der Qualitätspresse erhalten, wird aber voraussichtlich in Deutschland kein Verkaufsschlager werden, da Rand hierzulande weitgehend unbekannt ist.
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Ein ähnlicher Antagonismus zwischen Charakteren, die Rand als prime mover und second-hander bezeichnet, wird in dem Roman The Fountainhead verhandelt. Atlas Shrugged greift diese Opposition auf und setzt sie in einen größeren sozialen Kontext.
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Zum Vergleich der ähnlichen Denkstrukturen vgl. Zehnpfennig (2008).
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Diese Aussage trifft nur für Atlas Shrugged zu. In The Fountainhead wird die Gleichheitsideologie gewollt und bewusst als Machtmittel von dem – interessanterweise als körperlich minderwertig beschriebenen – Ellsworth Toohey verwendet und verbreitet. Er ist freilich auch nicht deren Erfinder, sondern wendet sie nur umfassend an.
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Wenn es daran geht, die Herkunft des Menschen und der Natur zu bestimmen, antwortet Marx mit dem berühmten „Frageverbot“, das Voegelin (1999, S. 69–73) sehr anschaulich herausgearbeitet hat.
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Dass der Ayn Rand Kult in den USA in sich bereits totalitäre Züge trägt, kritisierte der amerikanische „Anarchokapitalist“ Murray N. Rothbard (1972), dessen wirtschaftspolitische Vorstellungen denen von Rand eigentlich sehr ähnlich sind.
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Ein Einwand gegen diese Argumentation könnte darin bestehen, auf die fiktionale Qualität des Werkes zu verweisen: Ein Roman sei nun einmal kein politisches Traktat. Dem ist entgegenzusetzen, dass Rand die Ideen, die sie zunächst narrativ vermittelt, nach den Erfolgen von TF und AS auch in non-fiktionaler Form in diversen Aufsätzen und Vorträgen vertreten hat. Die Kerninhalte ihres Denkens sind jedoch in der zentralen Rede John Galts enthalten.
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Ideengeschichtlich lässt sich dieser Umschwung bereits in der Kritik Rousseaus an Locke nachweisen. Rousseau argumentiert im Diskurs über die Ungleichheit, dass die ökonomische Ungleichheit des Eigentums zu einer politischen Ungleichheit der Bürger führen muss. Die Folgerung für den Gesellschaftsvertrag ist es, dass zunächst einmal die Eigentumsverhältnisse neu geordnet werden müssen, damit alle Bürger die Chance darauf haben können, frei zu sein (Kainz 2012, S. 195–207, 210–212).
Literatur
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Danksagungen
Der Verfasser dankt Dominik Hammer, der ihn auf Ayn Rands Werk aufmerksam gemacht hat, und Michael Jungert für zahlreiche wertvolle Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge
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Kainz, P. (2014). Wenn der Liberalismus totalitär wird – Ayn Rands Roman Atlas Shrugged und der Wettstreit um die hegemoniale politische Kultur im liberalen Staat. In: Hofmann, W., Renner, J., Teich, K. (eds) Narrative Formen der Politik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02744-5_8
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