Zusammenfassung
Konstruktivistische Theorien der Politik unterstellen für sich keinen privilegierten Zugang zu außerkommunikativen Wirklichkeiten, der ihnen Halt bieten könnte. Auch diskursintern verzichten sie auf eine vielleicht wissenschaftlich auffindbare oder verfahrensmäßig herzustellende, überwölbende Rationalität. Diskurse reproduzieren ihre eigene Regelhaftigkeit, die vom Standpunkt eines abweichenden Regelsystems inkommensurabel bleibt. Ohne externe Wahrheitskriterien und ohne Einheitspotentiale in Vernunft und Sprache schreiben sich konstruktivistische Theorien der Politik in das diskursive Gewimmel ein. Was aber bedeutet diese Haltlosigkeit für den Status des eigenen Sprechens und der eigenen Wissenschaft? Der vorliegende Beitrag zeigt zwei unterschiedliche Wege auf, wie konstruktivistische Theorien der Politik, die sich in symbolischen Feldern bewegen, sich selbst in diese Felder einschreiben. Luhmann´sche System- und Foucault´sche Diskurstheorie vollziehen diese Operation auf denkbar unterschiedliche Art und Weise. Die abweichende Verortung des eigenen Sprechens mag zunächst wissenschaftstheoretische Setzung sein, zeitigt aber genauso politisch-normative Folgen.
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Notes
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„Emergenz bezeichnet das Auftreten eines neuen Ordnungsniveaus, das aus den Eigenschaften des materiellen und energetischen Unterbaus nicht erklärt werden kann“ formulieren Kneer und Nassehi griffig (Kneer und Nassehi 1997, S. 62).
- 2.
Walter L. Brühl verneint diese Generalisierungsfähigkeit. Nur durch die Übernahme, so Brühl, der Husserl’schen Sinnform einerseits, bei gleichzeitigem Auslassen aller Momente der Reziprozität und Fungibilität andererseits könne die Form transzendentaler Subjektivität mit System gleichgesetzt werden: „Nur so kann Luhmann flugs zu einer allgemeinen Form der Systembildung durch ‚selbstreferentielle Schließung‘ und einer wahrhaft allgemeinen Theorie der Autopoiesis kommen, in der ‚Bewusstsein‘, Leben und Gesellschaft in einer nur formalen, höchst abstrakten und völlig unbegründeten Analogie gleichgesetzt werden“ (Brühl 2000, S. 230).
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Mitterer (2011, S. 114 ff.) führt diese einschlägige Argumentation gegen Maturana ins Feld.
- 4.
Die Unterscheidung, die Semantiken der Struktur hinterherhinken lassen, weist überraschende Parallelen zum Basis-Überbau-Schema auf, schreibt Urs Stäheli (2004, S. 14) nicht ohne Polemik.
- 5.
In „Die Ordnung der Dinge“ behauptet Foucault noch die Totalität der Episteme in einem historischen Augenblick: In diesem „gibt es immer nur eine episteme, die die Bedingungen definiert, unter denen jedes Wissen möglich ist“ (Foucault 1974, S. 213).
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Schlee, T. (2014). Wahrheitszumutungen im Feld konstruktivistischer Theorien der Politik: Die Erzählungen von Niklas Luhmann und Michel Foucault im Vergleich. In: Martinsen, R. (eds) Spurensuche: Konstruktivistische Theorien der Politik. Politologische Aufklärung – konstruktivistische Perspektiven. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02720-9_7
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