Zusammenfassung
Shmuel Noah Eisenstadts Studie „The Absorption of Immigrants“ gehört zu einer der ersten Arbeiten, die sich vom klassischen Assimilationsparadigma der Migrationsforschung der frühen Chicago School abheben. Im Gegensatz zu den einflussreichen Arbeiten um Robert E. Park, Ernst Burgess und Everett Stonequist, die sich vor allem mit den Auswirkungen von Migration auf Seiten der Migrant_innen in Form von Marginalisierungsphänomenen im Aufnahmeland auseinandersetzen, lenkt Eisenstadts Studie den Blick stärker auf die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen von Migration sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland.
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Notes
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Park gehört neben Burgess, Albion W. Small, William I. Thomas et al. zu den bekannten Protagonisten der für die amerikanische Soziologie zentralen „Chicago School“, die sich ihrem Selbstverständnis nach als eine sozialreformerisch ausgerichtete und empirisch arbeitende Soziologie verstand und in deren Arbeiten die Migration nach Chicago in ihren unterschiedlichen Dimensionen zum Gegenstand gemacht wurde (vgl. hierzu Oswald 2007, S. 94). Annette Treibel schreibt daher über die frühe amerikanische Soziologie: „Soziologie war also zunächst weitgehend gleichzusetzen mit Migrationssoziologie“ (Treibel 1990, S. 84).
- 2.
Das Lehrbuch, das Park gemeinsam mit Ernest W. Burgess veröffentlicht hat, ist in der amerikanischen Soziologie aufgrund des grünen Einbands als „Green Bible“ bekannt (vgl. hierzu Sica 2012).
- 3.
Treibel erkennt eine Ähnlichkeit zwischen dem Assimilationsparadigma der Chicago School und politisch-normativen Diskussionen, die darauf ausgerichtet sind, an Migrant_innen die Forderung nach Anpassung zu stellen. „Einwanderer werden sich langfristig so sehr an die Aufnahmegesellschaft angeglichen haben, dass das Personenmerkmal ‚ethnische Herkunft‘ bzw. ‚ethnische Identität‘ bedeutungslos wird. Assimilation gilt als umfassender Prozess, in dem die Zuwanderer sich an das etablierte, länger ansässige System angleichen“ (Treibel 1990, S. 109).
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Shmuel Noah Eisenstadt wurde am 10. September 1923 in Warschau geboren. Er starb am 2. September 2010 in Jerusalem. Nach dem Tod seines Vaters wanderte er 1935 mit seiner Mutter nach Jerusalem aus, wo er ab 1940 Soziologie studierte. 1947 wird er bei Martin Buber promoviert, in dessen Arbeiten Eisenstadt die klassischen Themen der Soziologie auffindet (vgl. Eisenstadt 2006, S. 69). Von 1959 bis 1990 lehrte er an der Hebrew University in Jerusalem. Zunächst ist er vom Strukturfunktionalismus Talcott Parsons beeinflusst. In der Migrationsstudie rekurriert Eisenstadt vor allem auf Parsons Überlegungen in The Social System (1951). Darüber hinaus greift er insbesondere Parsons und Mertons Fortsetzung (vgl. Eisenstadt 2006, S. 249 ff.; Merton 1995, S. 127 ff.) der von Durkheim begonnenen Auseinandersetzung mit Anomie auf (vgl. Durkheim 1973, S. 289). In erster Linie ist es aber nicht die Migrationsstudie, sondern es sind Eisenstadts zivilisationstheoretischen Arbeiten, durch die er bekannt wird (vgl. König 2011, S. 702). Im Kern setzt er sich komparativ mit Variationen der Modernisierung auseinander, um die These zu widerlegen, der zufolge sich die europäische Modernisierung in der restlichen Welt ausgebreitet hat (vgl. Eisenstadt 2000, S. 21, 2007, S. 21, 2008, S. 11). Er greift den Begriff der Achsenzeit auf, um Spannungen nachzugehen, die sich aus dem Auseinanderdriften von diesseitigen und jenseitigen Ordnungen ergeben (vgl. Eisenstadt 1987, S. 12). Der Begriff hilft ihm schließlich für die Analyse zivilisatorischer Entwicklungsschritte (vgl. Eisenstadt 1982, S. 298).
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Anthony D. Smith bemerkt dies als einer der Ersten. Er schreibt: „[…] the study of society was always ipso facto the study of the nation, which was never disentangled as a separate dimension or issue. It would also help to explain the popularity of ‚methodological nationalism‘, in which basic social data are always collected and evaluated in terms of large-scale entities called ‚nation-states‘“ (Smith 1983, S. 26).
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Andreas Wimmer und Nina Glick Schiller (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2002, S. 309 ff.), benennen vier Symptome, an denen schwerpunktmäßig am „Container“ orientierte Migrationsforschung erkennbar werden: Zunächst nennen sie Zweifel an der Loyalität der Migrant_innen. Daran ist die Unterstellung geknüpft, der zufolge die Loyalität der Migrant_innen nicht dem Staat des Aufnahme-, sondern des Herkunftslandes gilt. Diese Unterstellung ist für Wimmer und Glick Schiller ein häufiger Ausgangspunkt der Migrationsforschung, um politische Aktivitäten von Migrant_innen zu untersuchen. Als zweites verweisen sie auf die Annahme der kulturellen Homogenität einer Gesellschaft, für die Migration zu einem Störfaktor wird, weil sie kulturelle Heterogenität verschuldet. Daraus ergibt sich für Migrationsforschung die Frage danach, inwiefern kulturelle Differenzen die Eingliederung der Migrant_innen beeinträchtigen. Sie nennen drittens die Herausforderung, die Migration für die national ausgerichtete Wohlfahrt darstellt, da Migrant_innen ursprünglich kein Teil von Solidargemeinschaften sind. Migrationsforschung befasst sich vor diesem Hintergrund mit besonderen Armutsverhältnissen, von denen Migrant_innen betroffen sind. Der vierte Grund für die besondere Berücksichtigung der Migration ergibt sich daraus, dass sie im Widerspruch zum Niederlassungsprinzip steht, das von der Ansiedlung der Angehörigen einer Gesellschaft auf dem ihr zugeschriebenen Territorium ausgeht. Daher wird sie, anders als die innernationale Mobilität, als abweichende Erscheinung erfasst (vgl. Wimmer und Glick Schiller 2002, S. 311).
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Anastasopoulos, C. (2015). Gesellschaftlicher Wandel als Folge von Migration. Shmuel Noah Eisenstadts Studie „The Absorption of Immigrants“. In: Reuter, J., Mecheril, P. (eds) Schlüsselwerke der Migrationsforschung. Interkulturelle Studien. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02116-0_9
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