Zusammenfassung
Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs selbst zu erzeugen und sich selbst und die eigene Familie in Richtung Subsistenzwirtschaft zu entwickeln, kann als Reaktion auf Krisen im weitesten Sinne begriffen werden: als Antwort auf die Finanzkrise und die Erkenntnis der Unsicherheit des eigenen beruflichen Karriereweges oder Arbeitsplatzes, als Antwort auf als „unwirtlich“ empfundene städtische Wirklichkeiten, als Reaktion auf die Komplexität und Undurchschaubarkeit der spätmodernen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen, welchen die Unmittelbarkeit des Agrarischen gegenübergestellt wird.
Anhand dreier Beispiele, die stellvertretend für insgesamt sieben Schauplätze und Einzelpersonen beziehungsweise Netzwerke von Personen stehen, soll in dem Beitrag das Phänomen „Hühnerhaltung in deutschen Städten“ skizziert und aus dem Fachkontext der Kulturanthropologie heraus kommentiert werden.
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Notes
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Nach Angaben des Verlags beträgt die „garantiert verkaufte Auflage“ jeder Ausgabe des Magazins 850.000 Exemplare. Erreicht würden damit 3,75 Mio. Leserinnen und Leser (Landlust 2014, Grafik 2 und 5).
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Der Prinzessinnengarten begreift sich als „soziale und ökologische urbane Landwirtschaft“ (Prinzessinnengarten 2013).
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Die Ausstellung wurde von 15.03. bis 25.06.2012 im Architekturzentrum Wien (2013) gezeigt.
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Verstanden in dem von Horkheimer und Adorno (2003) gemeinten Sinn eines Verlustes von unmittelbaren Erfahrungen.
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LOHAS steht für Lifestyles of Health and Sustainability. Damit gemeint ist ein Lebensstil, der sich an Gesundheit und Nachhaltigkeit orientiert, gleichzeitig aber auch genussorientiert und technikfreundlich ist und häufig von Personen mit überdurchschnittlichem Einkommen ausgeübt wird. Seine Anhänger werden auch als Lohas bezeichnet.
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CSA steht für Community supported agriculture. Hierunter werden Partnerschaften zwischen Landwirtschaftstreibenden und lokalen Konsumenten verstanden. Die Zielsetzung dieser Partnerschaften besteht in der Schaffung stabiler wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Erzeugern und Verbrauchern, welche Ersteren eine kontinuierliche Abnahme der Produkte, Letzteren eine kontinuierliche Belieferung mit lokal erzeugten Agrarerzeugnissen und eine größere Nähe zu Orten und Prozessen der Nahrungsproduktion gewährt (Henderson und Van En 2007).
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Bewegung aus den USA, die eine radikale Rückkehr zu vorindustriellen Lebensformen anstrebt und Selbstversorgung sowie eigene Landwirtschaftsformen praktiziert.
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Im Falle der von Rudolf Steiner begründeten biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise ist die Haltung von Tieren grundsätzlich vorgesehen und zumindest dann Pflicht, wenn es sich im Einzelfall um einen Betrieb handelt, der das Warenzeichen „demeter“ führen will. Dabei kommt der Tierhaltung nicht nur eine Bedeutung im Zusammenhang mit der Nahrungsmittelproduktion, sondern vor allem auch in der Konzeption eines als „natürlich“ gedachten Stoffkreislaufs zu, da der verkompostierte Mist als Düngemittel Verwendung findet (Sattler und von Wistinghausen 1985). Bei anderen Ansätzen alternativer Landwirtschaft sind Tiere nicht zwangsläufig vorgesehen, werden jedoch aus ebendiesem Grund gleichwohl als wertvoll erachtet.
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- 10.
Zu einer Ethnografie mit geschärften Sinnen s. Bendix 2006.
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Im Folgenden beziehe ich mich auf eigene Feldnotizen vom 16./17.08.2012 und vom 28./29.12.2012.
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Mit einigen Unterbrechungen vergibt der NABU – Naturschutzbund Deutschland e. V. seit 1993 mit dem „Dinosaurier des Jahres“ jährlich eine Art Negativ-Preis für Personen, welche sich aus Sicht der Organisation durch eine besonders umweltschädliche bzw. dem Tier- und Naturschutzgedanken abträgliche Politik oder Handlungsweise auszeichnen. An Ilse Aigner wurde insbesondere „ihre passive Rolle bei der Umsetzung der aktuellen Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik der EU“, ihre vom Einfluss der Jagd-Lobby geprägte Handlungsweise bei der Novellierung des Bundesjagdgesetzes und ihre Haltung zu Massentierhaltung, Mais-Monokulturen und Pestizideinsatz kritisiert. Siehe hierzu die Webseite des NABU (2012).
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Im Folgenden beziehe ich mich auf eigene Feldnotizen vom 28.06. und 08.07.2012.
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Laut Feuilleton der FAZ hat Douglas Tompkins 1990 seine Anteile an „Esprit“ für einen Betrag zwischen 125 und 250 Mio. US-Dollar veräußert und im Laufe der Zeit 900.000 ha Land in Chile und Argentinien – Wälder, Berge, Gewässer und Vulkane inklusive – erworben, um dieses teils unter Schutz zu stellen oder aufzuforsten bzw. extensiv landwirtschaftlich zu nutzen (FAZ 2008).
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Laut Spiegel Online sagte Steve Jobs in seiner berühmt gewordenen Rede an der Universität Stanford wörtlich: „Und das ist so, wie es sein sollte, denn der Tod ist höchstwahrscheinlich die beste Erfindung des Lebens. Er bewirkt den Wandel. Er entrümpelt das Alte, um Platz zu machen für das Neue.“ (Spiegel Online 2011).
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Mit dieser „Irrlehre“ ist jene These des Chemikers Justus von Liebig gemeint, die eine Gleichwertigkeit organischer und mineralischer Düngemittel unterstellt (z. B. Liebig 1840, 1878). Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Ansätze „biologischer“ Wirtschaftsweisen besteht darin, dass diese Gleichwertigkeit bestritten, der Einsatz mineralischer Düngemittel als Ursache von Bodenerosion und „Versteppung“ kritisiert und die Höherwertigkeit organischer Düngung proklamiert wird. Siehe hierzu beispielsweise Welten 1981, S. 17.
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Träger des Projektes war zum Zeitpunkt meiner Erhebungen der Verein Ökolöwe – Umweltbund Leipzig e. V. (2013). Mittlerweile wird der Gemeinschaftsgarten unabhängig auf der Basis einer gemeinnützigen GmbH betrieben und präsentiert sich mit einer neuen Internetseite (Annalinde 2014).
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Der Begriff des „Anwärters“ beschreibt den Status nur unzureichend, denn das Projekt ist seinem Selbstverständnis nach relativ „offen“ für die Mitarbeit im Garten. Für die engere Projektarbeit indessen – etwa im angeschlossenen Garten-Café – sind freilich Einweisungen erforderlich. Insofern ließe sich Stefans Präsenz zu diesem Zeitpunkt eher als ein wechselseitiges Kennenlernen bei der Arbeit begreifen.
Literatur
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Bendix, R. (2006). Was über das Auge hinausgeht: Zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung. Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 102, 71–84.
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Hörz, P. (2015). Wenn der Garten zum Hof wird – Hühnerhaltung in der Stadt. In: Hirschfelder, G., Ploeger, A., Rückert-John, J., Schönberger, G. (eds) Was der Mensch essen darf. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01465-0_13
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