Zusammenfassung
Somatoforme Beschwerden und somatoformer Schmerz sind universelle Symptome; sie stellen Korrelate psychischen Stresses dar. Ihre Form und Ausprägung wird durch Laientheorien, im kulturellen Kontext eingebettet, wesentlich mitbestimmt. Ob somatoforme Beschwerden bei Migranten häufiger vorkommen als bei Einheimischen und ob die Bereitschaft, psychische Belastungen durch somatoforme Syndrome darzustellen, mit der zunehmenden Integration in die neue Gesellschaft abnimmt, wurde in vielen Studien untersucht und in der Mehrheit bestätigt. Die Somatisierungsbereitschaft der Migranten wurde nicht nur durch den kulturellen Unterschied, sondern auch durch den Migrationsstress erklärt. Auch das Nachlassen der somatoformen Beschwerden bei zunehmender Aufenthaltsdauer im neuen Land kann im Zusammenhang mit der Abnahme des Migrationsstresses gesehen werden. Diese These wurde in neueren Studien auch für deutsche Verhältnisse bestätigt. Neben einer »unterschiedlichen kulturellen Prägung« scheinen also die schwierigen Lebensbedingungen und schichtspezifische Belastungen eine wichtige Rolle in der Genese somatoformer Beschwerden bei Migranten zu spielen. Nicht nur sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, sondern insbesondere unzureichende kulturspezifische Kenntnisse und Kompetenzen der Behandler sowie geringe Kenntnisse über die Angebote des Versorgungssystems aufseiten der Migranten behindern Akzeptanz und Wirksamkeit therapeutischer Angebote. In der Diagnostik sollte deswegen eine ausführliche Anamnese der aktuellen Lebensbedingungen einschließlich der stattgefundenen Veränderungen erhoben werden. Wichtige Prädiktoren für chronischen Schmerz bei Migranten sind geringe Adaptation in die Aufnahmegesellschaft, Inaktivität, weibliches Geschlecht und unkritischer Umgang mit Schmerzmitteln. Aus diesem Grunde sollten die Förderung der Integration in die neue Lebenswelt, körperliche Aktivierung und Psychoedukation Ziele in der Psychotherapie sein.
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Erim, Y., Glier, B. (2011). Schmerz bei Migranten aus der Türkei. In: Kröner-Herwig, B., Frettlöh, J., Klinger, R., Nilges, P. (eds) Schmerzpsychotherapie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-12783-0_15
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