Zusammenfassung
Der Titel klingt paradox. Setzt doch das sinnvolle Sprechen von Prozessen bereits die Konstitution von Zeit voraus, wenn man sie als „Sequenzen zeitlich irreversibler Ereignisse“ versteht. Prozesse und Strukturen scheinen für die Soziologie die fundamentalen Konzepte zu sein, mit Hilfe derer das „so und nicht anders Gewordensein“ unserer Wirklichkeit verstanden und erklärt werden kann. Der Soziologie liegt mithin eine spezifische zeitliche Perspektive zugrunde. Es ist diese Vorstellung eines subjektunabhängigen gerichteten Zeitpfeils, die allein schon deshalb als paradigmatisch bezeichnet werden muss, weil nahezu jede Kausalerklärung auf ein eindeutiges zeitliches Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung verweist. Ursachen sind Ereignisse, die zeitlich vor ihren Wirkungen eintreten. Gleichzeitig aber informieren uns phänomenologisch orientierte Betrachtungen der Zeit darüber, dass Zeit in den unterschiedlichsten Formen erst in Handlungen und konstituierten Sinnzusammenhängen entsteht. Zeit ist eine hochgradig variable, kontext- und subjektabhängige Größe – so lässt sich ein zweites, unwiedersprochenes Paradigma der Soziologie auf den Punkt bringen. Das Verhältnis dieser beiden so widersprüchlich erscheinenden Paradigmen zu bestimmen und darauf aufbauend vorzuführen, wie mit einem differenzierten Konzept der Zeit empirische Forschung in einer historischen Perspektive über den Gegenstand Zeit gelingen kann, ist das Anliegen dieses Textes.
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Alle in doppelte Anführungszeichen gesetzen Aussagen im Rahmen der Fallbeschreibungen sind Zitate aus den Interviews.
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Weidenhaus, G. (2015). Prozesse, die Zeit erschaffen? Empirische Betrachtungen zum Wechselverhältnis von sozialen Prozessen und geschichtlichen Strukturen. In: Schützeichel, R., Jordan, S. (eds) Prozesse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93458-7_7
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