Die Faszination von Bourdieus Ansatz geht zunächst wohl von seinen milieutheoretischen Studien aus. Verblüffend und zugleich intuitiv einleuchtend ist seine Koppelung von Sozialstruktur und Geschmackskultur. Mindestens ebenso inspirierend sind jedoch auch die handlungstheoretischen Implikationen, die mit der Habitustheorie verbunden sind. In ihrem Zentrum steht die Auffassung, dass menschliches Handeln ganz wesentlich „jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ (Bourdieu 1987: 730) abläuft. Damit grenzt sich die Habitustheorie von rationalistischen Handlungskonzepten ab, die von bewusst, autonom und zielgerichtet agierenden Subjekten ausgehen. Diesen präreflexiven Handlungsmodus des praktischen Sinns hat Bourdieu auch auf die Handlungsbereiche des Denkens, Wahrnehmens und Beurteilens ausgedehnt (vgl. ders. z.B. 1974: 40; 1987: 730) – auf Bereiche also, die einem intellektualistischen Selbstverständnis zufolge in besonderem Maße der bewussten Kontrolle und intellektuellen Autonomie zu unterliegen scheinen. ‚Hinter unserem Rücken’ greift der Habitus in unser Denken, Handeln und Fühlen ein und drückt ihm seinen Stempel nach milieuspezifischen Mustern auf. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen ‚regiert’ die Außenwelt in die vermeintlich abgeschottete ‚Kommandozentrale’ unserer Innenwelt hinein, eine Trennung von Innen und Außen kann somit nicht mehr aufrecht erhalten werden. Damit bricht die Habitustheorie mit der cartesianischen Annahme vom im Körper ein- bzw. abgeschlossenen Geist, die Gilbert Ryle als Vorstellung vom „Gespenst in der Maschine“ verspottet hat (ders. 1949, hier 1997: 13 passim). Zum anderen bedeutet die gesellschaftliche Prägung unseres Denkens, Wollens und Fühlens auch, dass es entlang kollektiv geteilter, d.h. überindividueller Bahnen verläuft. Vermeintlich einzigartige Gedanken und Regungen sind keineswegs so originell, wie sie dem Akteur erscheinen mögen – sie sind vielmehr Produkt seiner sozialen Lage und somit typisch für seine gesellschaftliche Position, die er mit anderen teilt. Die Habitustheorie führt damit zur „Entdeckung der Äußerlichkeit im Herzen der Innerlichkeit, der Banalität in der Illusion der Seltenheit, des Gewöhnlichen im Streben nach dem Einzigartigen“ (Bourdieu 1993: 44f.) und demaskiert so „alle Hoch stapeleien der narzisstischen Ichbezogenheit“ (ebd.). Als vierte „narzisstische Kränkung“ der Menschheit wurde die Habitustheorie daher auch bezeichnet – nach den von Kopernikus, Darwin und Freud zugefügten Erniedrigungen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 167).
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Michel, B., Wittpoth, J. (2009). Habitus at Work. Sinnbildungsprozesse beim Betrachten von Fotografien. In: Friebertshäuser, B., Rieger-Ladich, M., Wigger, L. (eds) Reflexive Erziehungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91645-3_5
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