Auszug
Die Theorien der Verbändeklassiker, wie sie in diesem Sammelband in Einzelfallbeispielen dargestellt wurden, sind auch stets Reaktionen auf die gesellschaftlichen und politischen Realitäten gewesen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich bis heute die prägenden Ansätze in ihrem Kern erhalten haben, wenngleich deutlich geworden ist, dass es den Untersuchungen Webers, von Gierkes, Michels, Laskis etc. an der Berücksichtigung der Differenzierungsprozesse der Moderne gebricht. Nichtsdestoweniger aber sind die Grundgedanken der Verbändeklassiker von bemerkenswerter Gültigkeit geblieben und haben selbst Neuinterpretationen und von ihnen ausgehende Theorieansätze hervorgebracht. Diese theoretischen Modifikationen sind als Anpassungen an das erhebliche gesellschaftliche Innovationspotential des 20. Jahrhunderts zu interpretieren. Wie in den einzelnen überkapiteln deutlich geworden ist, zählen zu den Klassikern der Verbändetheorien auch politische und philosophische Denker, die den Verbänden gerade nicht die in diesem Sammelband prognostizierte positive Konnotation zugedachten oder zumindest andere Wirkabsichten verfolgten. Für Tocqueville 1 waren Verbände Ausdruck oligarchischer Machtbegrenzung, während für von Gierke 2 das Genossenschaftsrecht der Ansatzpunkt war, sich überhaupt erst verbandlich von der preußischen Staatsmacht zu emanzipieren und gesellschaftliche Autonomiereservate zu erkämpfen. Dennoch haben beide Verbände erstmals als gesellschaftliche Realität begriffen und ihre zukünftige Wirkmacht gleichsam sibyllinisch und nicht ohne Erfolg zu deuten versucht. Die grundlegend positive Interpretation von Verbandsmacht als Ausdruck gesellschaftlicher Selbststeuerung erfolgte erstmals durch die Pluralismustheorie und ihre Folgeentwicklungen. Die darin vorgenommene Betonung der Entlastungs-, Partizipationsoder Aggregationsfunktionen (Straßner 2005: 233-253, Straßner 2006: 10-17) ist das entscheidende Wesensmerkmal des neopluralistischen Theorieansatzes. Auch wenn die Epoche machende Interpretation von Verbänden als Ausdruck gesellschaftlicher Autonomie durch Ernst Fraenkel der entscheidende Schritt der Verbändetheorien auf dem Weg ihrer Ausdifferenzierung nach dem Zweiten Weltkrieg war, so stützte sich Fraenkel doch auf das pluralismustheoretische Vorbild David Truman.3
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Straβner, A., Sebaldt, M. (2006). Klassik und Moderne: Neue Verbändetheorien und ihre gesellschaftliche Reflexion. In: Sebaldt, M., Straßner, A. (eds) Klassiker der Verbändeforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90439-9_17
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