Zusammenfassung
Wenn man sich fragt, wie alles angefangen hat, wie und mit welchen Ideen und Veröffentlichungen konstruktivistische Autoren zunächst Aufmerksamkeit erzeugt haben, dann entdeckt man eine Art Gründungsdokument – wenn man so will: ein Manifest, ein Programm, das viele Motive des konstruktivistischen Denkens bereits in kompakter Form enthält. Der Titel dieses Gründungsdokuments lautet: „Biology of Cognition“ (1970). Sein Autor ist der chilenische Neurobiologe Humberto R. Maturana. Maturana schlägt in diesem Aufsatz in einer eindringlichen Sprache vor, den Prozess des Erkennens aus einer biologischen Perspektive zu betrachten, also den Philosophen gewissermaßen die Erkenntnisfrage abzunehmen, sie auf dem Terrain der Neurobiologie wieder zu stellen, um sie dann auch dort zu beantworten. Ziel ist es, den Erkennenden, den Beobachter, selbst ins Zentrum des Forschens zu rücken, ihn als Quelle allen Wissens sichtbar zu machen. Wer sich, so Humberto R. Maturana, aus der Sicht eines Biologen mit der Wahrheit des Wahrgenommenen befasst, dem wird unvermeidlich klar, dass er selbst zu den Objekten gehört, die er beschreiben will. Er ist ein lebendes System, das lebende Systeme verstehen möchte. Das Subjekt studiert ein Objekt, das es selbst sein könnte. Die Situation rutscht ins Zirkuläre, geht es doch stets darum, als Wahrnehmender die Prozesse der Wahrnehmung zu verstehen. Man fühlt sich an die mythologische Figur des Ouroboros erinnert: Die Schlange beißt sich in den Schwanz; ein Gehirn erklärt das Gehirn; ein Erkennender erkennt das Erkennen. Das Subjekt ist sich sein eigenes Objekt.
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Notes
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Siehe exemplarisch die nach wie vor grundlegende Einführung, die Siegfried J. Schmidt (1991) herausgegeben hat.
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An dieser Stelle nur einige ausgewählte Beispiele: So erschien die (inzwischen eingestellte) Zeitschrift DELFIN, die sich vornehmlich der Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus widmete, viele Jahre im renommierten Suhrkamp-Verlag. Im Vieweg-Verlag publizierte Siegfried J. Schmidt in einer eigenen Buchreihe zahlreiche Originalarbeiten von konstruktivistischen Autoren (Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Humberto R. Maturana) in übersetzter Form. Die Gruppe der Heidelberger „Systemiker“ organisierte diverse weithin bekannt gewordene Kongresse. Zahlreiche maßgebliche Bücher zu konstruktivistischen Themen erschienen und erscheinen nach wie vor im Heidelberger Carl-Auer-Verlag.
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Zur Naturalisierung der Epistemologie siehe Fischer (1992, S. 20) mit Hinweis auf die Arbeit von Williard Van Orman Quine.
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In seinem berühmten Buch Sprache, Denken, Wirklichkeit formuliert Whorf (1963, S. 20) das so genannte „linguistische Relativitätsprinzip“ prägnant: „Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen“, so heißt es hier, „werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt. Sie sind daher als Beobachter einander nicht äquivalent, sondern gelangen zu irgendwie verschiedenen Ansichten von der Welt.“
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Andere, ebenso philosophisch orientierte Konstruktivisten haben sich – mitunter auch in entschiedener Abgrenzung vom so genannten Radikalen Konstruktivismus – um eine konsequent kulturalistisch fundierte Rekonstruktion von Konstruktionsprinzipien bemüht; Ziel ist es, systematisch jene Operationen, Regeln und Methoden ausfindig zu machen, die Phänomenbereiche einer Wissenschaft entstehen lassen (so z. B. der Erlanger bzw. später auch Methodische Konstruktivismus).
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Kybernetik lässt sich grob als die Wissenschaft von der Regelung im allgemeinsten Sinne bestimmen. Siehe Winter (1999, S. 125).
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In diesem Zusammenhang ist das Buch von Steve Joshua Heims The Cybernetics Group (1991) einschlägig; eine stärker epistemologisch interessierte Rekonstruktion liefern Foerster und Pörksen (1998, S. 105–121); Pias (2003) hat die vorhandenen Protokolle der Macy-Conferences in einer zweisprachigen Ausgabe wieder zugänglich gemacht.
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Kybernetik erster und zweiter Ordnung vergleicht Winter (1999, S. 121 ff.) im Detail.
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Sehr präzise beschreibt diese Zusammenhänge Willke (1987).
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Zur Definition dieser und der folgenden Begriffe siehe die klaren Erläuterungen von Weber (2000a, S. 84 ff.).
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Eigenwerte – stabile Werte, auch im Bereich des Sozialen – beschreibt Heinz von Foerster mit Hilfe mathematischer Analogien eben als Resultat zirkulärer bzw. rekursiver Prozesse (s. Foerster und Pörksen 1998, S. 60 ff.).
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Man denke nur an das bekannte „Kreter-Paradoxon“, das folgende Konstellation beinhaltet: Der Kreter Epimenides behauptet, dass alle Kreter lügen. Wenn es stimmt, was er sagt, kann es nicht stimmen, was er sagt. Der Satz wird falsch, wenn man ihn für wahr hält und wahr, wenn man ihn für falsch hält (s. Foerster und Pörksen 1998, S. 119).
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Siehe hierzu die Überblicksdarstellung von Foerster (in: Foerster und Pörksen 1998, S. 118 ff.).
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Als Schlüsselwerk gilt in der Regel ein Buch, das den Diskurs mehr oder minder stark geprägt und das eine gewisse Wirkung entfaltet hat bzw. eine besondere Bedeutung besitzt. Schlüsselwerke zeichnen sich, so die unvermeidlich etwas unscharfe Bestimmung, durch die Relevanz der Fragestellung, die Innovationskraft der Problemlösung und die Intensität der Rezeption und Wirkung aus.
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Die Einwände, die gegen den Konstruktivismus vorgebracht wurden und werden, sind massiv; dies wird auch in vielen Beiträgen zur Rezeptionsgeschichte deutlich. Der Konstruktivismus begünstige eine ethisch-moralische Beliebigkeit, so heißt es; man propagiere ein modisches „Anything goes“ und einen haltlosen Relativismus. Der Konstruktivismus sei eigentlich eine Spielform des Solipsismus oder aber des verkappten Realismus, denn er ontologisiere die eigenen Befunde gleichsam unter der Hand.
Literatur
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Fischer, Hans Rudi (1992): Zum Ende der großen Entwürfe. Eine Einführung. In: Hans Rudi Fischer/Arnold Retzer/Jochen Schweitzer (Hrsg.): Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 9–34.
Foerster, Heinz von (1993): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Hrsg. Siegfried J. Schmidt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Schmidt, Siegfried J. (1995): Sprache, Kultur und Wirklichkeitskonstruktion(en). In: Hans Rudi Fischer (Hrsg.): Die Wirklichkeit des Konstruktivismus. Zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. S. 239–251.
Schmidt, Siegfried J. (2000): Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Watzlawick, Paul (1994): Epilog. In: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. 8. Aufl. München/Zürich: Piper. S. 310–315.
Weber, Stefan (2000a): Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung. Konstanz: UVK Medien.
Weber, Stefan (2002b): Konstruktivismus und Non-Dualismus, Systemtheorie und Distinktionstheorie. In: Armin Scholl (Hrsg.): Systemtheorie und Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK. S. 21–36.
Whorf, Benjamin Lee (1963): Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Hrsg. und übersetzt von Peter Krausser. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Willke, Helmut (1987): Strategien der Intervention in autonome Systeme. In: Dirk Baecker/Jürgen Markowitz/Rudolf Stichweh/Hartmann Tyrell/Helmut Willke (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 333–361.
Winter, Wolfgang (1999): Theorie des Beobachters. Skizzen zur Architektonik eines Metatheoriesystems. Frankfurt am Main: Neue Wissenschaft.
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Pörksen, B. (2015). Schlüsselwerke des Konstruktivismus. In: Pörksen, B. (eds) Schlüsselwerke des Konstruktivismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19975-7_1
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