Zusammenfassung
Gibt es zeitbedingte Formen von Glück? Dazu muss zunächst geklärt werden, in welchem Sinn im Folgenden der Begriff der Zeit mit dem der Eudaimonie in Beziehung gesetzt werden soll. Hier sind unterschiedliche Aspekte denkbar. Glück als das höchste und spezifische menschliche Gut beruht nach Aristoteles auf der Aktualisierung des besten und vollkommensten Vermögens der menschlichen Seele. Dies aber bedeutet die Aktivität der Vernunft (in praktischer oder theoretischer Hinsicht), wenn sie sich über eine hinreichende Dauer erstreckt (EN I 6, 1098a3–20). Keinem menschlichen Individuum ist jedoch der Zustand optimaler, umfassender charakterlicher Vollendung, auf dem solche Aktivität beruht, von Natur aus mitgegeben. Vielmehr ist selbst bei guter Veranlagung die optimale Entfaltung des Charakters — und damit die innere Voraussetzung zur Ausübung derjenigen Handlungen, auf denen das Glück (eudaimonia) beruht — erst durch Lernen und Übung möglich. Die Erlangung der glücksrelevanten Voraussetzungen vollzieht sich daher ganz selbstverständlich in einem zeitlichen Prozess.1 Ebenso selbstverständlich ist es, dass auch die Umsetzung dieser charakterlichen Voraussetzungen, sind sie erst einmal erworben, in optimale Handlungsvollzüge an zeitliche Prozesse gebunden ist, denn Glück ist für Aristoteles kein fester Zustand, sondern realisiert sich immer wieder neu in der Fülle kohärenter menschlicher Handlungen.2 Sehr viel weniger selbstverständlich ist dagegen die Frage, ob es nach Aristoteles historisch sich wandelnde, d. h. der Zeit unterworfene Formen von Eudaimonie gibt, nämlich genau dann, wenn die Umstände, unter denen der Mensch sein Handeln vollzieht, einem historischen Wandel unterworfen sind. Diese Fragestellung ist es, der im Folgenden nachgegangen werden soll.
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Pietsch, C. (2013). Gibt es zeitbedingte Formen von Glück?. In: Mesch, W. (eds) Glück — Tugend — Zeit. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05343-5_4
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