Zusammenfassung
Die Rede von der »Agonie des Realen«, von der in der Aufklärungs- und Zivilisationskritik der achtziger Jahre so viel die Rede ist, hat ihre Tradition, zumal in Kriegs- und Krisenzeiten. »Das Irreale ist in gewissen Fällen wahrer als das Reale«, schrieb Gustav Le Bon in seiner seit der Jahrhundertwende in Deutschland so einprägsamen Psychologie des foules (1895).1 »Das Leben quillt aus dem Irrationalen«, behauptete Döblin gegen die Sucht, im Roman alles erklären zu wollen.2 Faszinierend und erschreckend zugleich war die Entdeckung der unbewußten und gewaltsamen Wirkungen der »Massenseele«, der, so Le Bon, »magischen Gewalt der Worte und Formeln«, ganz »unabhängig von ihrer Bedeutung«.3 Nicht wenige deutsche Schriftsteller erlagen dieser Rhetorik, erlebten sie als Befreiung der Kultur von der Zivilisation:
»Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sättigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung«,
schrieb Thomas Mann zum Kriegsausbruch im Novemberheft der Neuen Rundschau von 1914.4
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Literatur
Gustave Le Bon, Psychologie der Masse, 3. Aufl. Leipzig: Kröner 1919, S. VII
Alfred Döblin, Über Roman und Prosa (geschrieben 1917) in: Kleine Schriften I. Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1985, S. 231
Le Bon (vgl. Anm. 1), S. XIII, 70 f.
Thomas Mann, Politische Schriften und Reden, Bd. 2. Frankfurt a. M. und Hamburg: Fischer 1968, S. 7
Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Kriegund Tod, in: Freud-Studienausgabe, Bd. 9. Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 35–60
Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Tachenbuchausgabe (dtv) von 1983 (nach den Ausgewählten Werken Bd. 10, Olten und Freiburg: Walter 1965)
Alfred Döblin, Schriften zur Politik und Gesellschaft, Ölten 1972, S. 27; hier auch das folgende Zitat (S. 29)
Alfred Döblin, Der Dreißigjährige Krieg, in: Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Ignaz Ježower. Berlin, Leipzig usw.: Bong 1921, S. 49. Aus diesem Aufsatz auch die folgenden Zitate
Neben den geradezu rauschhaften Lobeshymnen z. B. auch von Lion Feuchtwanger in der Weltbühne herrschte in den Rezensionen Skepsis angesichts der Vergewaltigung des Historischen. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Dieter Mayer, Alfred Döblins Wallenstein, München: Fink 1972, S. 16 ff. — Mayer hat die Entstehung des Wallenstein aus dem Nachlaß genau ermittelt und die deutschen Fragmente eines auf Tschechisch erschienenen Aufsatzes Döblins zu seinem Roman mitgeteilt (S. 11 f.)
Hans Vilmar Gepp, Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Niemeyer 1976. — Wichtige Vorgaben für meine nachträglichen Beobachtungen finden sich u. a. in Günter Grass’ Rede Über meinen Lehrer Döblin (Akzente H. 4, 1967, S. 290–309) und bei Dieter Mayer (Anm. 9); außerdem Adalbert Wickert, Alfred Döblins historisches Denken. Zur Poetik des modernen Geschichtsromans, Stuttgart 1978; Georg W. Klymiuk, Kausalität und moderne Literatur. Eine Studie zum epischen Werk Alfred Döblins, Bern, Frankfurt a. M.: Lang 1984; Harro Müller, Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20 Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Athenäum 1988. Wichtige Anregungen verdanke ich auch den Arbeiten von Dietrich Harth, z. B.: Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens »Alexander« und Rankes »Wallenstein«, in: DVJs 54/1980, S. 59–104
Als Grenzgang dieser Art versteht sich die theoretisch avancierteste, aber auch das Textmaterial spekulativ überanstrengende Arbeit von Axel Hecker, Geschichte als Fiktion. Alfred Döblins »Wallenstein« — eine exemplarische Kritik des Realismus, Würzburg: Könighausen & Neumann 1986
So Hans Ulrich Gumbrecht zur Gattung des historischen Romans insgesamt (»Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre«. Versuch zur Anthropologie der Geschichtsschreibung, in: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen, Formen der Geschichtsschreibung, Beiträge zur Historik, Bd. 4. München: dtv 1982, S. 508). Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman vgl. Eberhard Lämmert, Geschichten von der Geschichte, in: Poetica 17/1985, S. 228–254
Der historische Roman und wir, in: Aufsätze zur Literatur. Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1963, S. 169
Aufsätze zur Literatur, S. 339
Brief an Herwarth Waiden, in: Briefe. Olten und Freiburg: Walter 1970, S. 72
Aufsätze zur Literatur, S. 339. Hier auch die folgenden Zitate. — Zur ‘Erotisierung’ des historischen Romans, die in Döblins Wallenstein genauer zu untersuchen wäre, vgl. Fredric Jameson, Flauberts Libidinal Historicism: Trois Contes, in: N. Schor, H. F. Majewski (Hg.), Flaubert and Postmodernism. Univ. of Nebrasca Press 1984, S. 76–83
Auskunft geben die seitenweisen Notate von Titeln, die erhaltenen Leihscheine, Ausschnitte und Exzerpte im Nachlaß (Deutsches Literaturarchiv Marbach).
Döblin selber nennt den Sinologen, der sogar die Hauptfigur seines chinesischen Romans für echt befand. (Aufsätze zur Literatur, S. 338). — In Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands findet Wolfgang Abendroth, der Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, eine »greifbare« Historie, die keine Organisations- und Sozialgeschichte jemals leisten kann (Die »Ästhetik des Widerstands lesen«, hrsg. v. K.-H. Götze und Klaus R. Scherpe, Berlin: Argument 1981, S. 18–28)
Döblin, Unser Dasein, Olten und Freiburg: Walter 1964, S. 263
So die Fragestellung von Karlheinz Stierle und die von Dietrich Harth (Fiktion, Erfahrung, Gewißheit. Second Thoughts, in Koselleck, Lutz, Rüsen, Formen der Geschichtsschreibung (vgl. Anm. 12), S. 626
Gumbrecht, ebd., (vgl. Anm. 12), S. 507
Kunst, Dämon und Gemeinschaft. In: Döblin, Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1989, S. 194
Aufsätze zur Literatur, S. 66
Zuletzt hierzu auch Reinhart Koselleck, Sprachwandel und Ereignisgeschichte, in: Merkur, Nr. 483, 43/1989, S. 657–673
Die Parole »Los vom Buch« verkündete Döblin als Propagandist einer neuen Epik der unmittelbaren Welterfahrung mehrfach, z. B. »Das Buch ist der Tod der wirklichen Sprache.« (Aufsätze zur Literatur, S. 132). Der futuristisch inspirierte Protest gegen die Musealisierung der Kultur erschien bei ihm auch politisch gewendet: als chauvinistische Rechtfertigung des deutschen Angriffs auf Reims und seine Kathedrale: »Die Kunst und die Kultur sind nicht gebunden an die Steinmassen in Reims … Kultur ist kein Gegenstand, sondern eine Handlung, eine Bewegung, ein Geschehen … Der Haß gegen Museen stammt aus dieser Quelle. (Schriften zur Politik und Gesellschaft, Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1972, S. 21)
Schriften zu Leben und Werk, S. 230
Hierzu wie überhaupt zur Versammlung der vielfältigen Strategien und sprachlichen Besonderheiten der Fiktionalisierung in Döblins Wallenstein hat Hecker (Geschichte als Fiktion, vgl. oben Anm. 11) vieles erarbeitet, was hier nicht wiederholt werden soll
Dies fordert Döblin in seiner Eloge auf Flauberts Salammbô. (Aufsätze zur Literatur, S. 338)
Zum Verhältnis von Erzählen und Beschreiben in Historiographie und Literatur vgl. Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in: R. Koselleck (Hrsg.), Geschichte, Ereignis und Erzählung, München: Fink, München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5)
Aufsätze zur Literatur, S. 62
Ebd.
Moritz Goldstein, Döblins Wallenstein-Roman. Ein Brief an den Verfasser, in: Vossische Zeitung vom 13. November 1921 (zit. nach Dieter Mayer, Alfred Döblins Wallenstein, S. 19; vgl. Anm. 9)
Aufsätze zur Literatur, S. 129
Dies setze ich in Gegensatz zu Heckers Deutung (Geschichte als Fiktion, Anm. 11). Hecker leitet aus der zweifellos gegebenen Rationalismuskritik Döblins nicht nur eine entsprechende Schreibweise ab, sondern neigt auch dazu, dieser eine Verwerfung jeglichen Logozentrismus’ in Sprache und Stil zu unterstellen (»Vernichtung des Realen«). Dagegen: Der deutsche Wortkünstler und Akademiker war letztlich doch mehr unwilliger »Buch-Halter« als Surrealist?!
Christian Enzensberger, Größerer Versuch über den Schmutz, München: Hanser 1969, S. 56
Georg Lukács, Der historische Roman (1937), Berlin: Luchterhand 1956
Michael Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Foucault, Von der Subversion des Wissens, München: Hanser 1974, S. 95
Le Bon, Psychologie der Massen (s. Anm. 2), S. VIII, 23
Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M.: Fischer 1985
Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, München: Hanser 1972, S. 150
Aufsätze zur Literatur, S. 18
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Scherpe, K.R. (1990). »Ein Kolossalgemälde für Kurzsichtige«. Das Andere der Geschichte in Alfred Döblins »Wallenstein«. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_19
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