Skip to main content

»Ein Kolossalgemälde für Kurzsichtige«. Das Andere der Geschichte in Alfred Döblins »Wallenstein«

  • Chapter
Geschichte als Literatur

Zusammenfassung

Die Rede von der »Agonie des Realen«, von der in der Aufklärungs- und Zivilisationskritik der achtziger Jahre so viel die Rede ist, hat ihre Tradition, zumal in Kriegs- und Krisenzeiten. »Das Irreale ist in gewissen Fällen wahrer als das Reale«, schrieb Gustav Le Bon in seiner seit der Jahrhundertwende in Deutschland so einprägsamen Psychologie des foules (1895).1 »Das Leben quillt aus dem Irrationalen«, behauptete Döblin gegen die Sucht, im Roman alles erklären zu wollen.2 Faszinierend und erschreckend zugleich war die Entdeckung der unbewußten und gewaltsamen Wirkungen der »Massenseele«, der, so Le Bon, »magischen Gewalt der Worte und Formeln«, ganz »unabhängig von ihrer Bedeutung«.3 Nicht wenige deutsche Schriftsteller erlagen dieser Rhetorik, erlebten sie als Befreiung der Kultur von der Zivilisation:

»Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sättigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung«,

schrieb Thomas Mann zum Kriegsausbruch im Novemberheft der Neuen Rundschau von 1914.4

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Similar content being viewed by others

Literatur

  1. Gustave Le Bon, Psychologie der Masse, 3. Aufl. Leipzig: Kröner 1919, S. VII

    Google Scholar 

  2. Alfred Döblin, Über Roman und Prosa (geschrieben 1917) in: Kleine Schriften I. Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1985, S. 231

    Google Scholar 

  3. Le Bon (vgl. Anm. 1), S. XIII, 70 f.

    Google Scholar 

  4. Thomas Mann, Politische Schriften und Reden, Bd. 2. Frankfurt a. M. und Hamburg: Fischer 1968, S. 7

    Google Scholar 

  5. Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Kriegund Tod, in: Freud-Studienausgabe, Bd. 9. Frankfurt a. M.: Fischer 1974, S. 35–60

    Google Scholar 

  6. Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Tachenbuchausgabe (dtv) von 1983 (nach den Ausgewählten Werken Bd. 10, Olten und Freiburg: Walter 1965)

    Google Scholar 

  7. Alfred Döblin, Schriften zur Politik und Gesellschaft, Ölten 1972, S. 27; hier auch das folgende Zitat (S. 29)

    Google Scholar 

  8. Alfred Döblin, Der Dreißigjährige Krieg, in: Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg. von Ignaz Ježower. Berlin, Leipzig usw.: Bong 1921, S. 49. Aus diesem Aufsatz auch die folgenden Zitate

    Google Scholar 

  9. Neben den geradezu rauschhaften Lobeshymnen z. B. auch von Lion Feuchtwanger in der Weltbühne herrschte in den Rezensionen Skepsis angesichts der Vergewaltigung des Historischen. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Dieter Mayer, Alfred Döblins Wallenstein, München: Fink 1972, S. 16 ff. — Mayer hat die Entstehung des Wallenstein aus dem Nachlaß genau ermittelt und die deutschen Fragmente eines auf Tschechisch erschienenen Aufsatzes Döblins zu seinem Roman mitgeteilt (S. 11 f.)

    Google Scholar 

  10. Hans Vilmar Gepp, Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung. Tübingen: Niemeyer 1976. — Wichtige Vorgaben für meine nachträglichen Beobachtungen finden sich u. a. in Günter Grass’ Rede Über meinen Lehrer Döblin (Akzente H. 4, 1967, S. 290–309) und bei Dieter Mayer (Anm. 9); außerdem Adalbert Wickert, Alfred Döblins historisches Denken. Zur Poetik des modernen Geschichtsromans, Stuttgart 1978; Georg W. Klymiuk, Kausalität und moderne Literatur. Eine Studie zum epischen Werk Alfred Döblins, Bern, Frankfurt a. M.: Lang 1984; Harro Müller, Geschichte zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20 Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Athenäum 1988. Wichtige Anregungen verdanke ich auch den Arbeiten von Dietrich Harth, z. B.: Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens »Alexander« und Rankes »Wallenstein«, in: DVJs 54/1980, S. 59–104

    Google Scholar 

  11. Als Grenzgang dieser Art versteht sich die theoretisch avancierteste, aber auch das Textmaterial spekulativ überanstrengende Arbeit von Axel Hecker, Geschichte als Fiktion. Alfred Döblins »Wallenstein« — eine exemplarische Kritik des Realismus, Würzburg: Könighausen & Neumann 1986

    Google Scholar 

  12. So Hans Ulrich Gumbrecht zur Gattung des historischen Romans insgesamt (»Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre«. Versuch zur Anthropologie der Geschichtsschreibung, in: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen, Formen der Geschichtsschreibung, Beiträge zur Historik, Bd. 4. München: dtv 1982, S. 508). Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Geschichtsdarstellung im Roman vgl. Eberhard Lämmert, Geschichten von der Geschichte, in: Poetica 17/1985, S. 228–254

    Google Scholar 

  13. Der historische Roman und wir, in: Aufsätze zur Literatur. Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1963, S. 169

    Google Scholar 

  14. Aufsätze zur Literatur, S. 339

    Google Scholar 

  15. Brief an Herwarth Waiden, in: Briefe. Olten und Freiburg: Walter 1970, S. 72

    Google Scholar 

  16. Aufsätze zur Literatur, S. 339. Hier auch die folgenden Zitate. — Zur ‘Erotisierung’ des historischen Romans, die in Döblins Wallenstein genauer zu untersuchen wäre, vgl. Fredric Jameson, Flauberts Libidinal Historicism: Trois Contes, in: N. Schor, H. F. Majewski (Hg.), Flaubert and Postmodernism. Univ. of Nebrasca Press 1984, S. 76–83

    Google Scholar 

  17. Auskunft geben die seitenweisen Notate von Titeln, die erhaltenen Leihscheine, Ausschnitte und Exzerpte im Nachlaß (Deutsches Literaturarchiv Marbach).

    Google Scholar 

  18. Döblin selber nennt den Sinologen, der sogar die Hauptfigur seines chinesischen Romans für echt befand. (Aufsätze zur Literatur, S. 338). — In Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands findet Wolfgang Abendroth, der Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, eine »greifbare« Historie, die keine Organisations- und Sozialgeschichte jemals leisten kann (Die »Ästhetik des Widerstands lesen«, hrsg. v. K.-H. Götze und Klaus R. Scherpe, Berlin: Argument 1981, S. 18–28)

    Google Scholar 

  19. Döblin, Unser Dasein, Olten und Freiburg: Walter 1964, S. 263

    Google Scholar 

  20. So die Fragestellung von Karlheinz Stierle und die von Dietrich Harth (Fiktion, Erfahrung, Gewißheit. Second Thoughts, in Koselleck, Lutz, Rüsen, Formen der Geschichtsschreibung (vgl. Anm. 12), S. 626

    Google Scholar 

  21. Gumbrecht, ebd., (vgl. Anm. 12), S. 507

    Google Scholar 

  22. Kunst, Dämon und Gemeinschaft. In: Döblin, Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1989, S. 194

    Google Scholar 

  23. Aufsätze zur Literatur, S. 66

    Google Scholar 

  24. Zuletzt hierzu auch Reinhart Koselleck, Sprachwandel und Ereignisgeschichte, in: Merkur, Nr. 483, 43/1989, S. 657–673

    Google Scholar 

  25. Die Parole »Los vom Buch« verkündete Döblin als Propagandist einer neuen Epik der unmittelbaren Welterfahrung mehrfach, z. B. »Das Buch ist der Tod der wirklichen Sprache.« (Aufsätze zur Literatur, S. 132). Der futuristisch inspirierte Protest gegen die Musealisierung der Kultur erschien bei ihm auch politisch gewendet: als chauvinistische Rechtfertigung des deutschen Angriffs auf Reims und seine Kathedrale: »Die Kunst und die Kultur sind nicht gebunden an die Steinmassen in Reims … Kultur ist kein Gegenstand, sondern eine Handlung, eine Bewegung, ein Geschehen … Der Haß gegen Museen stammt aus dieser Quelle. (Schriften zur Politik und Gesellschaft, Olten und Freiburg i. Br.: Walter 1972, S. 21)

    Google Scholar 

  26. Schriften zu Leben und Werk, S. 230

    Google Scholar 

  27. Hierzu wie überhaupt zur Versammlung der vielfältigen Strategien und sprachlichen Besonderheiten der Fiktionalisierung in Döblins Wallenstein hat Hecker (Geschichte als Fiktion, vgl. oben Anm. 11) vieles erarbeitet, was hier nicht wiederholt werden soll

    Google Scholar 

  28. Dies fordert Döblin in seiner Eloge auf Flauberts Salammbô. (Aufsätze zur Literatur, S. 338)

    Google Scholar 

  29. Zum Verhältnis von Erzählen und Beschreiben in Historiographie und Literatur vgl. Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs, in: R. Koselleck (Hrsg.), Geschichte, Ereignis und Erzählung, München: Fink, München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5)

    Google Scholar 

  30. Aufsätze zur Literatur, S. 62

    Google Scholar 

  31. Ebd.

    Google Scholar 

  32. Moritz Goldstein, Döblins Wallenstein-Roman. Ein Brief an den Verfasser, in: Vossische Zeitung vom 13. November 1921 (zit. nach Dieter Mayer, Alfred Döblins Wallenstein, S. 19; vgl. Anm. 9)

    Google Scholar 

  33. Aufsätze zur Literatur, S. 129

    Google Scholar 

  34. Dies setze ich in Gegensatz zu Heckers Deutung (Geschichte als Fiktion, Anm. 11). Hecker leitet aus der zweifellos gegebenen Rationalismuskritik Döblins nicht nur eine entsprechende Schreibweise ab, sondern neigt auch dazu, dieser eine Verwerfung jeglichen Logozentrismus’ in Sprache und Stil zu unterstellen (»Vernichtung des Realen«). Dagegen: Der deutsche Wortkünstler und Akademiker war letztlich doch mehr unwilliger »Buch-Halter« als Surrealist?!

    Google Scholar 

  35. Christian Enzensberger, Größerer Versuch über den Schmutz, München: Hanser 1969, S. 56

    Google Scholar 

  36. Georg Lukács, Der historische Roman (1937), Berlin: Luchterhand 1956

    Google Scholar 

  37. Michael Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Foucault, Von der Subversion des Wissens, München: Hanser 1974, S. 95

    Google Scholar 

  38. Le Bon, Psychologie der Massen (s. Anm. 2), S. VIII, 23

    Google Scholar 

  39. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M.: Fischer 1985

    Google Scholar 

  40. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur, München: Hanser 1972, S. 150

    Google Scholar 

  41. Aufsätze zur Literatur, S. 18

    Google Scholar 

Download references

Authors

Editor information

Hartmut Eggert Ulrich Profitlich Klaus R. Scherpe

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 1990 Springer-Verlag GmbH Deutschland

About this chapter

Cite this chapter

Scherpe, K.R. (1990). »Ein Kolossalgemälde für Kurzsichtige«. Das Andere der Geschichte in Alfred Döblins »Wallenstein«. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_19

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_19

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart

  • Print ISBN: 978-3-476-00736-0

  • Online ISBN: 978-3-476-03341-3

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics