Zusammenfassung
Eine Frage nach »Geschichte als Literatur« widerstrebt dem fachlichen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft. Die Historiker und Historikerinnen verstehen sich als Wissenschaftler und nicht als Literaten und ihr Tun als Wissenschaft und nicht als Kunst. Andererseits kann aber nicht geleugnet und übersehen werden, daß das Produkt dieser wissenschaftlichen Tätigkeit Texte sind, die als Literatur verstanden und interpretiert werden können. Zwischen der Betrachtung der Geschichtsschreibung als Literatur und dem Selbstverständnis ihrer Autoren als Wissenschaftler gibt es ein Spannungsverhältnis, das bis zu einem Widerspruch gesteigert werden kann. Diese Spannung ist nicht neu, sondern hat die Entwicklung der Geschichtswissenschaft von ihren Anfangen bis zur Gegenwart begleitet. In jüngster Zeit hat sie eine eigenartige Ausprägung gefunden: Sie trägt sich als Alternative zwischen einer modernen und einer postmodernen Auffassung von Geschichtsschreibung aus. Die moderne Auffassung betont ihren Forschungsbezug: Geschichtsschreibung präsentiert ein historisches Wissen, das durch methodisch geregelte empirische Forschungsprozesse gewonnen wird und sich daher durch die wissenschaftsspezifische Qualität methodischer Rationalität ausgezeichnet. Die postmoderne Auffassung betont die Gestaltungskraft, mit der Autoren historisches Wissen formen und ihr Publikum ansprechen und die der Geschichtsschreibung eine primär poetische oder rhetorische Qualität verleiht. In der aktuellen geschichtstheoretischen Debatte darüber, was die für das historische Denken und die Geschichtsschreibung maßgeblichen Faktoren und Prozeduren des menschlichen Bewußtseins eigentlich sind, treten diese beiden Auffassungen als scharfe Gegensätze hervor, so daß die Wissenschaftlichkeit auf Kosten des literarischen Charakters und umgekehrt der literarische Charakter auf Kosten der Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung geht.
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Similar content being viewed by others
Literatur
Eine ausführlichere Fassung meiner Überlegungen erscheint in History and Theory 29 (1990).
Leopold von Ranke: Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber, 2. Aufl. (Sämtl. Werke 33–34), Leipzig 1874, S. 24.
Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, 2. Aufl. (Sämtl. Werke 33–34), Leipzig 1874, S. VII.
Idee der Universalgeschichte, in: Vorlesungseinleitungen, hrsg. v. Volker Dotterweich u. Walter Peter Fuchs (Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4). München 1975, S. 72.
Ebd.
Ebd.
Ebd. S. 73.
Ebd. S. 72.
Ebd.
Dazu Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S. 24 ff.
Dazu Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüssen (Hrsg.): Formen der Geschichtsschreibung (Beiträge zur Historik, Bd. 4), München 1982, S. 514–605; überarbeitet in: ders: Zeit und Sinn. Strategie des historischen Denkens. Frankfurt (Main) 1990, S. 153 ff.
Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten (Sämtliche Werke, Bd. 37), Leipzig 1874, S. 23.
Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1 (Sämtliche Werke, Bd. 1), Leipzig 1867, S. 143.
So etwa Roland Barthes: Die Historie und ihr Diskurs, in: Alternative 11 (1968), S. 171–180.
Idee der Universalgeschichte (Anm. 4), S. 73.
Zum Dominantwerden der narrativen Darstellungsweise in der Historiographie vgl. Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung bis zum Frühhistorismus (1765–1830), Diss. Osnabrück 1983, S. 42ff (demnächst als Bd. 2 der Reihe Fundamenta Historica, Stuttgart 1990).
Dazu Jörn Rüsen: Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissenschaft, in: ders.: Zeit und Sinn (Anm. 11), 135 ff.
Leopold von Ranke: Über die Verwandschaft und den Unterschied der Historie und der Politik. Eine Rede zum Antritt der ordentlichen Professur an der Universität zu Berlin im Jahre 1836, in: ders.: Abhandlungen und Versuche (Sämtliche Werke, Bd. 24), Leizig 1877, S. 290.
Zum Theoretisierungsschub, den die Geschichtsschreibung bei Ranke erfährt, vgl. Dietrich Harth: Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens Alexander und Rankes Wallenstein, in: Deutsche Viertelsjahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 58–104.
Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtschreibers (1821), in: ders.: Werke in 5 Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, S. 585–606, zit. S. 597.
Englische Geschichte vornehmlich im 17. Jahrhundert, Bd. 2 (Sämtliche Werke, Bd. 15), Leipzig 1877, S. 103.
Vgl. Anm. 18.
Auf diese drei Ebenen der Rankeschen Historiographie hat schon Hermann von der Dunk aufmerksam gemacht: Die historische Darstellung bei Ranke: Literatur und Wissenschaft, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, S. 131–165, besonders S. 151 ff.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 1990 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Rüsen, J. (1990). Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke. In: Eggert, H., Profitlich, U., Scherpe, K.R. (eds) Geschichte als Literatur. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03341-3_1
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00736-0
Online ISBN: 978-3-476-03341-3
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)