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Narrative Strukturen: Die fundamentalen Grundlagen — »Amerika«

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Kafka — Poetik der sinnlichen Welt
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Zusammenfassung

Kafkas Kunst des Erzählens zeichnet sich gegenüber der Tradition, zugleich aber auch im Unterschied zu vielen Werken seiner Zeitgenossen von Rang, durch die systematische Reduktion von Sprache, Erzählhaltung und epischer Aussagemittel aus. Doch Einschränkung und Beschränkung wurzeln nicht im Ungefähren, noch sind sie bloß Zeichen stilistischer Sparsamkeit. Sie haben Ursachen und Gründe, sprachkritische, erkenntniskritische, und sie sind vor allem Methode im zweifachen Sinn des Wortes. K. Ramm, der die »Reduktion als Erzählprinzip« [1] bezeichnete, hat umrißhaft formuliert, welche Forderung dieser »Rückzug, der nicht nur destruktives Moment ist« [2], an eine Analyse der Kafkaschen Poetik stellt: es müßte sich »[…] jener Rückzug auf das Elementare — das sich gerade dadurch als elementar erweist, daß es von der durch den Rückzug erreichten Position aus sich als Frage stellt — […] als konstitutives Element dieser Prosa nachweisen lassen«.[3] Und mehr noch müßte er expliziert und begründet werden. Denn Ursachen hat der Rückzug; und der Reduktion des Erzählens wie der Armut der Sprache liegt eine Kritik zugrunde, die in der Konsequenz der epischen Realisierung um 1900 ihresgleichen kaum findet.

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Anmerkungen

  1. Klaus Ramm, Reduktion als Erzählprinzip bei Kafka, Frankfurt am Main 1971.

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  2. K. Ramm, a.a.O., S. 15.

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  3. K. Ramm, a.a.O., S. 15.

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  4. Friedrich Beißner, Kafka der Dichter. Ein Vortrag. 2., unveränd. Aufl. Stuttgart 1961 (11958).

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  5. F. Beißner, Kafka der Dichter, S. 12. Der Begriff wird bereits in F. Beißners Vortrag, Der Erzähler Franz Kafka, Stuttgart 41961, S. 28ff., erarbeitet.

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  6. F. Beißner, Kafka der Dichter, S. 12.

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  7. F. Beißner, Der Erzähler, S. 10.

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  8. Für die Stichhaltigkeit des Beißnerschen Ansatzes liefert die Studie von Jörgen Kobs, Untersuchungen, S. 25 ff. überzeugende Argumente und Hinweise. Der These ist gelegentlich widersprochen worden, jüngst von Jürgen Steffan, Darstellung und Wahrnehmung der Wirklichkeit in Franz Kafkas Romanen, Nürnberg 1979, der zu einem terminologisch sehr fragwürdigen Ergebnis kommt: »Der einzige Erzähler ist der Autor.« (S. 32)

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  9. Hartmut Binder, Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka. Bonn 1966.

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  10. H. Binder, a.a.O., S. 119.

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  11. H. Binder, a.a.O., S. 120.

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  12. F. Beißner, Kafka, der Dichter, S. 12. — Von ähnlichen, terminologisch ziemlich eigenwillig definierten Voraussetzungen ging Martin Walser, Beschreibung einer Form, München 1961, aus; vgl. hier bes. S. 21 u. S. 26f.

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  13. Winfried Kudszus, Erzählhaltung und Zeitverschiebung in Kafkas ›Prozeß‹ und ›Schloß‹. In: DVjs 38, 1964, H. 2, S. 192–207.

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  14. W. Kudszus, a.a.O., S. 194.

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  15. W. Kudszus, a.a.O., S. 195.

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  16. Winfried Kudszus, Erzählperspektive und Erzählgeschehen in Kafkas ›Prozeß‹, in: DVjs 44, 1970, H. 2, S. 306–317, S. 306.

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  17. Friedrich Beißner, Kafkas Darstellung des »traumhaften innern Lebens«. Ein Vortrag. Bebenhausen 1972.

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  18. F. Beißner, a.a.O., S. 35.

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  19. Wahrnehmung, Erlebnisqualitäten, Denken usw. ist dann die perspektivische Interpretation von Sachverhalten, oder bildlich gesprochen, das Hineintragen von Sinnzusammenhängen und Empfindungsqualitäten in eine Welt von Gegenständen, die sonst nur relational bestimmt und ›leblos‹ sind, wobei die jeweilige Perspektive nicht wahr oder falsch ist, sondern dem Sachverhalt nur mehr oder weniger angemessen.

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  20. Vgl. P. U. Beicken, Einführung in die Forschung, S. 70–74 u. S. 137–145; vgl. ferner Peter U. Beicken, Erzählweise, in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, 36–48, S. 40f.

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  21. Dies ist jener in der oben zitierten These Kafkas zur »Urteilsmöglichkeit« erkannte Bruch, der dort als Widerspruch ausgespielt wird.

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  22. Vgl. H. Schnelle, Sprachphilosophie und Linguistik, S. 193 ff.

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  23. Dies erklärt auch die minimale Differenz an jenen Stellen, an denen Erzähl- und Figurenaussage nicht identisch sind. Kritik und Ironie des Erzählbewußtseins sind aus derselben Normen- und Bewertungswelt wie der des Figurenbewußtseins gefällt (vgl. etwa die oben S. 25 zitierte Stelle).

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  24. Vgl. unten Kap. III. 3.1.

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  25. Vgl. P. U. Beicken, Erzählweise, S. 39 u. S. 41.

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  26. H. Kraft, Wirklichkeit und Perspektive, Bebenhausen 1972, S. 5.

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  27. Lothar Fietz, Möglichkeiten und Grenzen einer Deutung von Kafkas Schloß-Roman, in: DVjs 37, 1963, H. 1, S. 71–77.

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  28. L. Fietz, a.a.O., S. 75.

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  29. W. Kudszus, Erzählperspektive und Erzählgeschehen, S. 309.

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  30. Jörgen Kobs, Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten, hrsg. v. U. Brech, Bad Homburg v. d. H. 1970.

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  31. J. Kobs, a.a.O., S. 413.

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  32. Peter U. Beicken, Erzählweise, in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 36–48.

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  33. P. U. Beicken, a.a.O., S. 41. Beickens Formulierung ist ungemein treffend mehr noch für die späteren Werke Kafkas; vgl. die Analyse unten zum »Prozeß« (Kap. III).

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  34. Vgl. auch J. Kobs, Untersuchungen, S. 146 ff.

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  35. J. Kobs, a.a.O., S. 146–173: »Die Subjektivität der ›reinen‹ Beobachtung«.

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  36. J. Kobs, a.a.O., S. 155.

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  37. Vgl. etwa die folgende Passage: »Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulichschwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale, zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen, als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund eilend und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken, über die der Zug fuhr, und sie waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte.« (A 331)

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  38. Klaus Hermsdorf, Kafka. Weltbild und Roman, 2., bearb. Aufl. Berlin 1966, S. 103; ähnlich H. Richter, Werk und Entwurf, S. 78 ff.

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  39. K. Hermsdorf, a.a.O., S. 104.

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  40. Verglichen mit Josef K. und K. ist die Erfahrung von Einsamkeit und Isolation für Karl Roßmann tragisch im eigentlichen Sinn, da nur noch er naiv bleibt und bis zum Ende sentimentale Erwartungen an die Welt stellt. Fragt man nach einer künstlerischen Entwicklung Kafkas, die Inhalt und Form umfaßt (zu den wenig umfangreichen Forschungsergebnissen vgl. Ingeborg Henel, Periodisierung und Entwicklung, in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 220–241), so zeigt sich besonders an den drei Romanen eine zunehmende Ernüchterung; während im »Verschollenen« Karl immerhin noch von »meine Kameraden« (A 138, mehrfach) oder neutraler: »die Kameraden« (A 139) spricht, sind solche Personen im »Schloß« nur gemäß ihrer hierarchischen Struktur als untereinander austauschbare »Gehilfen« (S 28, vgl. S 29f.) bezeichnet. Formal ist diese fortschreitende Ernüchterung auch an der zunehmenden Tilgung von gefühls- und moralbezogenen Ausdrücken abzulesen.

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  41. Heinz Politzer, Franz Kafka, der Künstler. Frankfurt am Main 1965.

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  42. H. Politzer, a.a.O., S. 212. Politzer bleibt allerdings eine Explikation dieses Begriffs schuldig, obwohl gerade diese »sentimentale Erziehung« Sein (bzw. Nichtsein) Roßmanns bestimmt.

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  43. So z. B. schreibt Emrich, Kafka, S. 233, über Karl: »Aber seine Güte, seine ›Schuldlosigkeit‹ (T 481), verhindert seine Aufnahme […]. Denn all sein gutes und selbstloses Handeln verkehrt sich in den Augen der Umwelt ins Böse, da dieser Umwelt ein gutes Handeln schlechterdings unfaßlich, undenkbar und töricht erscheint. Ein unschuldiges ›Kind‹ selbst noch unter der Herrschaft Bruneidas (A 258), ist dieser sechzehnjährige Junge von seinen Prager Eltern verstoßen worden […]. Trotz der Verstoßung bewahrt er den Eltern Anhänglichkeit und Treue, ist bereit, für die Photographie seiner Eltern alles, was er besitzt, zu opfern. «

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  44. Vgl. ( 38): »Würgend umarmte sie seinen Hals […], schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen herausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn […]«.

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  45. H. Richter, Werk und Entwurf, bes. S. 181f.

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  46. Klaus Hermsdorf, Weltbild und Roman, 2., bearb. Aufl. Berlin 1966.

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  47. K. Hermsdorf, a.a.O., S. 96ff.

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  48. Vgl. u. a. W. Emrich, Kafka, S. 227ff., H. Politzer, K., der Künstler, S. 181ff.; J. Kohs, Untersuchungen, S. 502 ff.

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  49. H. Richter, a.a.O., S. 181.

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  50. P. U. Beicken, Erzählweise, S. 41.

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  51. Vgl. hierzu Kap. III.

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  52. Wolfgang Jahn führt in seinem Bericht: ›Der Verschollene‹ (›Amerika‹), in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 407–420, an, daß sich dieses Unternehmen »kompromittiert« (S. 413); genauer besehen entlarvt es eine bestimmte Utopie als bloße Ideologie.

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  53. P. U. Beicken, Einführung in die Forschung, S. 259; W. Emrich, Kafka, S. 248, spricht vom »Ausbruchsversuch ins ›Künstlertum‹« und sieht darin die »Möglichkeit des Menschen, nämlich sich selbst, sein ›Unzerstörbares‹, das in ihm liegende ›Sein‹ verwirklichen zu können« (S. 248).

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  54. P. U. Beicken, a.a.O., S. 260, sieht dies in der Naturtheaterutopie für gegeben an. Anders H. Richter, Werk und Entwurf, S. 190.

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  55. Kafkas Ästhetik entlarvt diesen auktorialen Erzähler ex negativo als ebenso historisch bedingte (deshalb aber zu einer Zeit nicht unberechtigte) Fiktion wie den Objektivitätsgedanken.

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  56. Alfred Wirkner, Kafka und die Außenwelt. Quellenstudien zum ›Amerika‹-Fragment. Stuttgart 1976.

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  57. Anders als »erblickte« impliziert die Aussage: »die längst beobachtete Statue« einen point of view, der mit dem aktuellen Roßmann — »erblickte« — nicht identisch ist; diese antithetische Perspektive relativiert diejenige Roßmanns nur durch ihr Vorhandensein, unabhängig davon, was man als dazugehöriges ›Subjekt‹ annimmt (episches Subjekt, doppeltes Bewußtsein Roßmanns selbst oder einen Undefinierten Außenstandort).

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  58. L. Fietz, Möglichkeiten und Grenzen einer Deutung, S. 73; daß es eine von dem subjektiven Bewußtsein unabhängige ›Welt‹ gibt, hat bereits H. Binder, Motiv und Gestaltung, S. 293ff., gegen Fietz geltend gemacht.

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  59. Vgl. hierzu auch P. U. Beicken, Einführung in die Forschung, S. 137ff., und P. U. Beicken, Erzählweise, S. 39–44.

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  60. Vgl. die sich anschließende Wiederbegegnungsszene mit dem ›»Bekannten«‹ (A 9, Zeile 15–27), der über einen von Karl ihm anvertrauten Gegenstand, seinen Koffer, »nicht sehr beglückt schien« (A 9).

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  61. Unbeschadet möglicher Fehlleistungen und Störfaktoren, die zu korrigieren sind, vgl. etwa (A 282f.) den verstellten Operngucker; an einem Punkt kann Karl »nun tatsächlich, wenn auch nur sehr undeutlich, alles unterscheiden« (A 283); oder (A 288) »das Täuschende des Dunkels« als die Automobillaternen ausgestellt worden waren.

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  62. Vgl. zu dieser ›Fehlleistung‹ Karls auch H. Politzer, Kafka, der Künstler, S. 187.

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  63. Der von der Kafka-Forschung in der Regel geteilt wird, vgl. etwa Wolfgang Jahn, Kafkas Roman »Der Verschollene« (»Amerika«), Stuttgart 1965, der von einer »objektiven Wirklichkeit« (S. 3) oder der »Unterscheidung zwischen subjektiver Erfahrung und objektivem Geschehn« (S. 3) spricht.

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  64. Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Noten zur Literatur. In: Th. W. A., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 11, Frankfurt am Main 1974, S. 41–48.

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  65. Th. W. Adorno, a.a.O., S. 41.

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  66. Ulrich Füllehorn, Zum Verhältnis von Perspektivismus und Parabolik in der Dichtung Kafkas, in: Wissenschaft als Dialog. Studien zur Literatur und Kunst seit der Jahrhundertwende. Hrsg. v. R. v. Heydehrand u. K. G.Just, Stuttgart 1969, S. 289–312 u. 509–513, hat sich mit diesem Aphorismus Kafkas befaßt, ihn aber gründlich mißverstanden und für die eigene Argumentation zurechtgebogen. Kafka sagte: »Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt […] niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden«; Fülleborn folgert aus dem hier zitierten Aphorismus für Kafkas Texte: daß deren »verabsolutierte Parabolik, in der die Sprache nicht mehr ›vergleichsweise gebraucht‹ wird, davon frei zu werden vermag, ›nur vom Besitz und seinen Beziehungen‹ zu handeln.« (S. 294); »niemals« bedeutet nicht: ›jemals- und-nicht-mehr‹, und empfehlenswert wäre, wenn die Sprache wenigstens annähernd so wiedergegeben würde, wie der Text Kafkas sie gebraucht.

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  67. Wolfgang Jahn, Kafkas Roman »Der Verschollene« (»Amerika«), Stuttgart 1965, S. 66. Wolfgang Jahn hat in seinem Aufsatz: Kafka und die Anfänge des Kinos, in: JbSchG 6, 1962, S. 353–368 (ähnlich in W.J., Kafkas Roman »Der Verschollene«, S. 53 ff.), diese Darstellungsweise zu begründen versucht. Zur Bedeutung des Gegenständlichen stellt er fest: »alles Sichtbare schlechthin ist niemals bloß illustrierendes Zubehör, sondern bildet die innerste Substanz des in dramatischem Ablauf erzählten Handlungsgeschehens« (S. 358) — dies mit der Kinematographie in Zusammenhang zu bringen, hat nur historisch-vergleichenden Wert, liefert jedoch keine poetologische Erklärung noch erklärt dies kausal etwas von der Genese.

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  68. In einer Ahnung des Richtigen ist Kafka immer wieder fälschlicherweise des »Realismus« geziehen worden. Bei Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 16. Aufl. Stuttgart 1972, heißt es, S. 573, sogar »Kafkas magischer Realismus«, oder, Kafka führe »Traumhaftes und nüchternen Realismus in eine nahtlose Stileinheit« (S. 574) zusammen. Trotz der gewiß vorhandenen Theorien- und Sprachlücken in der Ästhetik empfiehlt sich zur Erhaltung des brauchbaren Vokabulars Vorsicht im Umgang mit dem Begriff »Realismus«, »der im 19. Jahrhundert aufkommt und auf dieses Jahrhundert auch beschränkt bleiben sollte, wenn er den historischen Sinn nicht verlieren soll, der seine Verwendung einzig legitimiert«, Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, 2., durchges. Aufl. Stuttgart 1980, S. 462.

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  69. Negativ-kritisch in dem Sinn, daß sie durch die kritische Negation des Überkommenen hindurchgegangen ist, dieses negiert und gleichsam aus dem verfügbaren sprachlichen Inventar ›ausgeschieden‹, ›abgetrennt‹ (χϱινειν — trennen, scheiden, schneiden) hat; was bleibt, ist negativ auch in dem Sinn, daß es keine geistige Utopie im naiven Sinn mehr übrigläßt.

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  70. J. Kobs, Untersuchungen, S. 173.

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  71. Vgl. H. Kraft, Wirklichkeit und Perspektive, S. 24 ff. Kraft meint, in der »Verselbständigung des Details zeigt sich die Unverbundenheit der Einzelheiten und die Unabhängigkeit der Dinge vom Menschen« (S. 24); Krafts These ist sicher nicht falsch; allerdings kommt dem Detail in der Poetik Kafkas eine andere Funktion als die Formulierung weltanschaulicher Thesen zu. Es hat ästhetisch einen anderen Mitteilungswert, vgl. unten Kap. III. 3.3.

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  72. Vgl. unten Kap. III. 3.3. u. Kap. IV. 2.

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  73. Vgl. P. U. Beicken, Einführung in die Forschung, S. 137–142.

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  74. L. Fietz, Möglichkeiten und Grenzen einer Deutung, S. 73.

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  75. L. Fietz, a.a.O., S. 75.

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  76. Jost Schillemeit, Zum Wirklichkeitsproblem der Kafka-Interpretation, in: DVjs 40, 1966, H. 4, S. 577–596.

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  77. J. Schillemeit, a.a.O., S. 578.

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  78. J. Schillemeit, a.a.O., S. 579.

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  79. W.Jahn, Kafkas Roman »Der Verschollene«, S. 3.

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  80. W. Kudszus, Erzählhaltung und Zeitverschiebung, S. 206.

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  81. H. Politzer, Kafka, der Künstler, S. 185.

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  82. J. Kobs, Untersuchungen, S. 97.

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  83. Georg Lukács, Franz Kafka oder Thomas Mann? In: G. L., Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg 1958, S. 49–96, S. 56: Bei Kafka »wird aber die wirkliche Einheit der Welt zerrissen und die — dem Wesen nach — subjektive Vision als Wesen der objektiven Wirklichkeit dargestellt.« (Positiv Hermsdorf, S. 16ff., H. Richter, S. 287ff.).

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  84. Sabina Kienlechner, Negativität der Erkenntnis im Werk Franz Kafkas. Eine Untersuchung zu seinem Denken anhand einiger später Texte, Tübingen 1981.

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  85. S. Kienlechner, a.a.O., S. 103. Kafka sagt in dem dort angeführten Aphorismus (H 91) nicht: ›die Wirklichkeit dieser Welt auflösen‹, sondern: »Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen […]« (H 91), was wohl eher heißt: ›bei sehr genauer Betrachtung der Sachverhalte kann man die allgemeinen Vorstellungen über die Welt auflösen‹

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  86. Historische Realität i.d.S. hat damit zumindest (je nach Thema oder Stoff des Werkes) zwei Dimensionen, nämlich ba) die geschichtegewordene Wirklichkeit der Zeit, um die und unter deren Bedingungen das Werk entstand und bb) die in ihm dargestellte historische Wirklichkeit.

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  87. Einschließlich der Figuren.

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  88. Es versteht sich von selbst, daß die Punkte a) und b) von c), unserem Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis etc., abhängen.

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  89. Das Wirklichkeitsproblem wird hier nicht nur deshalb am »Verschollenen« erörtert, weil das Geschichts- und Wirklichkeitsbewußtsein Kafkas dort auf der Hand liegt, sondern auch, weil die historische Valenz der beiden anderen Romane von dorther, wo alles immerhin noch recht handgreiflich Bezüge aufweist, am zugänglichsten ist. Und daß mitunter nicht wahrgenommen wird, was nicht augenfällig ist, zeigt Martin Walsers These: »Kafkas Werk ›spielt‹ außerhalb jeder bekannten historischen Vergangenheit oder Gegenwart«, M. Walser, Beschreibung einer Form, S. 44.

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  90. Vgl. zur Forschungslage P. U. Beicken, Einführung in die Forschung, S. 251–261 und W. Jahns Bericht: ›Der Verschollene‹ (›Amerika‹), in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 407–420.

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  91. Die spendable Großzügigkeit des Onkels endet nach den ersten Werbegeschenken in der kaufmännischen Opportunität. Den Schreibtisch soll Karl nicht benutzen, weil »die Wiederherstellung sehr kostspielig« (A 52) sei, auf dem Klavier darf er auf die »Mahnung« (A 53f.) Jakobs hin kaum spielen, den Komfort, »auf dem Balkon zu stehen« (A 50) nicht genießen, und der praxisbezogene Englischunterricht bei dem Lehrer »einer Handelshochschule« (A 54) soll ihm außer dem sprachlich Notwendigsten »eine gute Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke« (A 60) beibringen, business english also.

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  92. Auf der Textebene kann der Satz doppelsinnig gelesen werden, auf der Figurenebene kaum: »›Das grenzt ja ans Wunderbares‹, sagte Karl« (A 59).

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  93. P. U. Beicken, Einführung in die Forschung, S. 259.

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  94. Vgl. H. Politzer, Kafka, der Künstler, S. 220f.

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  95. Carl Steiner, Kafkas »Amerika«: Illusion oder Wirklichkeit? In: Franz Kafka. Eine Aufsatz- sammlung nach einem Symposium in Philadelphia. Hrsg. u. eingel. v. M. L. Caputo-Mayr. Berlin/Darmstadt 1978, S. 46–58.

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  96. C. Steiner, a.a.O., S. 56.

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  97. C. Steiner, a.a.O., S. 56. Die angelsächsische Variante ›Illusion vs. Wirklichkeit‹ deckt sich nicht völlig mit der Version aus dem deutschen Sprachraum, für die ›Wirklichkeit‹ und ›Realität‹ nicht dasselbe sind und deren begriffliche Negation nicht unbedingt ›Illusion‹ heißt.

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  98. Vgl. H. Politzer, Kafka, der Künstler, S. 185: »Wirklichkeit zweiter Hand«.

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  99. Gerhard Loose, Franz Kafka und Amerika, Frankfurt am Main 1968, S. 26.

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  100. Vgl. C. Steiner, a.a.O., S. 57, über Kafkas Amerika: »Als poetisches Modell eines modernen industriellen Staates hat es ein eindrucksvolles und durchaus im realen Bereich stehendes Eigenleben. «

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  101. Im oben angeführten Sinn von ba): historische Realität der Entstehungszeit des Werkes und bb) diejenige der dargestellten Welt. Realzeitlich liegen die beiden Aspekte hier wie die Probleme selbst nicht allzu weit auseinander.

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  102. Während die Lebenswege der Oberköchin und des Onkels (vor etwa »dreißig Jahren« hatte er »im Hafenviertel ein kleines Geschäft«[A 59]) beispielhafte Figuren für eine geschichtliche Einwanderergeneration zwischen 1870–1880 erkennen lassen (wenn man über alle Realien, ungefähres Alter der Figuren und deren Generationsfolge einen vergleichbaren (›real-‹) geschichtlichen Zeitraum ermittelt), ist der Liftjunge Renell bereits »ein geborener Amerikaner« (A163). Der Macht- und Einflußproporz innerhalb der Vereinigten Staaten trägt in vielem noch heute die Zeichen nationalkultureller Dominanzen aus dieser Zeit.

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  103. Zu den Problemen in Böhmen vgl. die bereits erwähnten Berichte über die Zeit von Peter Hilsch, Böhmen in der österreichisch-ungarischen Monarchie und den Anfängen der tschechoslowakischen Republik, bes. S. 8 ff. zum Nationalitätenproblem, und Christoph Stölzl über Prag, bes. S. 58 ff.

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  104. Und als jüdisches Problem seit Jahrhunderten immer wieder akut.

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  105. J. Kobs, Untersuchungen, S. 371, hat das Problem angeschnitten und betont mit Recht, wie kritisch die Anklage Kafkas ist: »Schonungsloser ist der Chauvinismus kaum je der Lächerlichkeit preisgegeben worden.« (S. 377)

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  106. Mitleid war immerhin eine der Kardinaltugenden der christlichen ›Nächstenliebe‹; daß sie dem Pragmatismus nicht viel gilt, ist kaum eine nur literarisch fiktive Feststellung des Romans.

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  107. »Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen« (A 73); Green ißt entweder oder er ißt und spricht, »ohne vom Teller aufzusehen« (A 73), »mit seinem Essen beschäftigt« (A 73); vgl. die oben zitierte Stelle (A 72), beides mit der gleichen Hemmungslosigkeit, vgl. (A 70–77).

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  108. Zu Struktur, Genese und Funktion von Riten, Sitten und Kulturformen vgl. die so aufschlußreiche wie ernüchternde Analyse von René Girard, La Violence et le sacré. Paris 1972.

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  109. Zu dem von Milena übersetzten »Heizer« schrieb er ihr: »Im übrigen aber ist es mir unbegreiflich, daß Sie diese große Mühe auf sich genommen haben, und tief rührend, mit welcher Treue Sie es getan haben, Sätzchen auf und ab, einer Treue, deren Möglichkeit und schöne natürliche Berechtigung, mit der Sie sie üben, ich in der tschechischen Sprache nicht vermutet habe. So nahe deutsch und tschechisch?« (M 14f.). Zu den Übersetzungsschwierigkeiten von Kafkas Texten in Syntax und Semantik ganz anderer Sprachen vgl. etwa den Bericht von Junichi Kuroiwa, Die Aufnahme in Japan, in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 732–743, bes. S. 734f.

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  110. Milena war offensichtlich von Kafkas Äußerung verletzt und muß ihm dies zu erkennen gegeben haben, denn kurz darauf schreibt Kafka wieder im Bezug auf diese Stelle: »[…] aus Angst mißverstehen wir einander, bitte zwing mich nur nicht, tschechisch zu schreiben, keine Spur des Vorwurfs war darin […]« (M 57).

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  111. Das Elend holt auch Karls Leidensgenossen Giacomo ein, wohl Einwanderer italienischer Muttersprache; aus anderen Ursachen strandet auch er. Am Ende jedenfalls spricht er noch immer, der Begriff aus der amerikanischen Soziolingustik liegt auffallend nahe: »Nonstandard English« (William Labov, The Logic of Nonstandard English, in: James E. Alatis (ed.), Report of the Twentieth Annual Report Round Table Meeting on Linguistics and Language Studies, Washington (Georgetown Univ. Press) 1970, S. 1–43).

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  112. Salcia Landmann, Jiddisch. Abenteuer einer Sprache, München 1964, hat Geschichte und Umwelten dieser Sprache, ihre Einflüsse und Formen untersucht und gezeigt, wie die ursprünglich »armselige Sprache« (S. 23) ihren Reichtum gleichsam auf der Flucht (und im Rückgriff auf die hebräisch-aramäische Sprachtradition) entwickelt hat.

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  113. Hartmut Binder, Nichtepische Arbeiten und Lebenszeugnisse, ›Rede über die jiddische Sprache‹, in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 503–505, S. 504.

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  114. H. Binder, a.a.O., S. 504; sie ist wohl eher Dokument seiner Beschäftigung mit Fragen der jüdischen Geschichte und Kultur.

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  115. Zum Problem von Sprache und Identität der böhmischen Juden vgl. Ch. Stölzl, Kafkas böses Böhmen, der zeigt, wie Sprache hier Voraussetzung der jüdischen Emanzipation wurde: »für den jüdischen Großhandel wie für die jüdische Intelligenz war die deutsche Sprache als lingua franca der Monarchie notwendige Voraussetzung des Überlebens« (S. 24).

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  116. Zu denken ist an Elias Canettis Studie: Masse und Macht. Hamburg 1960.

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  117. » ›Der Heizer‹ ist die Erinnerung an einen Traum, an etwas, was vielleicht nie Wirklichkeit war.« (J 53)

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  118. A 277–288.

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  119. Beim Nachbarbalkon »mußte Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen« (A 279).

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  120. Le Bons »Psychologie des foules«, welche eine Reihe von Gefahren, die Kafka epische Wirklichkeit werden ließ, erkannt (und verwertbar gemacht) hatte, war 1895 erschienen.

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  121. Vgl. (A 57f.): das Geschäft des Onkels »bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufer, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfaßte und ganz genaue, unaufhörliche telephonische und telegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten mußte«

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  122. Vgl. oben S. 42.

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  123. Vgl. die sozialen Strukturen im »Verschollenen«; außer dem ihr Kinderwägelchen vor sich herschiebenden Ehepaar im ›Naturtheater‹ gibt es keine einzige Familie.

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  124. Das Prosastück, dem der Satz entnommen ist, entstand vermutlich um 1920 und ist von Max Brod mit dem Titel »Das Stadtwappen« versehen. Das Stück stellt die oben zitierte Passage als »Man argumentierte« vor. Es endet: »Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurzen aufeinanderfolgenden Schlägen zerschmettert werden wird. Deshalb hat die Stadt auch die Faust im Wappen.« (B 95)

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Kessler, S. (1983). Narrative Strukturen: Die fundamentalen Grundlagen — »Amerika«. In: Kafka — Poetik der sinnlichen Welt. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03176-1_3

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