Zusammenfassung
[III] Wie im politischen Leben, so in der Literatur und Poesie, läßt sich seit mehrern Jahren eine entschiedne Richtung gegen das Wirkliche und Vorhandengewesene, eine historische Tendenz bemerken. Die Mehrzahl der Zeitgenossen wünscht ihre Zustände an frühere in stätiger Entwicklung anzuknüpfen, sie verlangt von poetischen Erzeugnissen Wahrheit des Inhalts. Im Ganzen strebt die Welt durch eine Reaction gegen die frühere Herrschaft allgemeiner und unbedingter Verstandesbegriffe, in ein gewisses Gleichgewicht zu kommen. Wir überlassen Untersuchungen über das politische und gesellige Verhältniß Andern. Wir fragen nur: spricht sich in dem Verlangen nach Wahrheit des Inhalts einer poetischen Erscheinung, ein eigentlich ästhetisches Bedürfniß aus? Die Frage muß verneint werden. Denn wenn eine Dichtung nichts andres ist, als der Abdruck frei und gesetzmäßig in bestimmter Thätigkeit wirkenden Phantasie, so wird es klar, daß nur die Gesetze der Phantasie es sind, welche darin befolgt werden müssen, daß nur nach deren Wahrnehmung uns gelüsten soll, wenn wir ein Gedicht empfangen wollen. Nun [IV] sind aber diese Gesetze ganz andre, als die, nach welchen sich die Ereignisse in der wirklichen Welt gestalten, es ist der Kunstverstand auch ein andrer, als der Weltverstand, und es ergehn an den Dichter andre Gebote, als die der praktischen Vernunft. Wenn man daher von der historischen Treue, von der psychologischen Wahrheit, von der sittlichen Gesinnung eines dichterischen Werks redet, so bezeichnet man damit noch nicht seinen künstlerischen Charakter, man giebt Eigenschaften des Stoffs an, oder hebt Seiten am Dichter hervor, durch welche er mit der Menschheit, nicht aber mit der Kunst zusammenhängt.
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Nachweise und Anmerkungen
auf welchen: verbessert aus: auf welchem
die Bemerkung von Lessing im Laocoon: Vgl. in Lessings »Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie« (1766) z. B. Kapitel 16.
Doch wann: verbessert aus: Doch wenn
Semperfreien: ursprünglich sendbar-frei, d. h. des höchsten Grades von Freiheit teilhaftig
nach mehrern bereits erschienenen Uebersetzungen des Ivanhoe: Vor Immermanns Übersetzung erschienen u. a. Übertragungen von Karl Ludwig Methusalem Müller (1820), Elise von Hohenhausen (1823) und Sophie May (1824).
ausgelassen oder zusammengezogen: Immermann kürzte den Roman um etwa ein Fünftel, rund 100 Seiten. Er strich viele vorwiegend geschichtlich interessierende Passagen und weitläufige Beschreibungen.
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Immermann, K. (1976). Aus: Vorrede zur Übersetzung von Walter Scotts »Ivanhoe« 1826. In: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_9
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-03055-9_9
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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Online ISBN: 978-3-476-03055-9
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