Zusammenfassung
Franz Kafkas Werk führt uns mitten in ein grundlegendes existentielles Problem, das die westliche Welt unseres Jahrhunderts bewegt und charakterisiert, nämlich in das Problem der ständigen Selbstrechtfertigung unserer Reden und Handlungen. Diese Rechtfertigung ist untrennbar mit dem Bewußtsein und der Psychologie des Subjekts sowie mit dem ihm umgebenden sozialen Kontext verbunden. Sie kann zu einem Problem der Identität werden und das Individuum, wie Kafka es als erster in seinen Romanen zu veranschaulichen wagte, das Individuum in die Einbahnstraße zur Hölle der ewigen Rechtfertigung seiner selbst durch sich selbst führen. Kafka schreibt in seinem Tagebuch:
Wieviel bedrückender als die unerbittlichste Überzeugung von unserem gegenwärtigen sündhaften Stand ist selbst die schwächste Überzeugung von der einstigen ewigen Rechtfertigung unserer Zeitlichkeit. Nur die Kraft im Ertragen dieser zweiten Überzeugung, welche in ihrer Reinheit die erste voll umfaßt, ist das Maß des Glaubens.2
Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; Was wir Weg nennen, ist Zögern.
Kafka, Aphorismus 261
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Notizen
Vgl. Gershom SCHOLEM, „Walter Benjamin und sein Engel“, in Zur Aktualität Walter Benjamins, hg. von Siegfried UNSELD, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1972, S. 47. Behauptete die antike Metaphysik seit Parmenide eine Identität zwischen Denken und Sein und dachte sie diese Identität, indem sie vom Sein ausging, so behauptet die moderne Metaphysik seit Kant dieselbe Identität, indem sie vom Denken ausgeht. Unseres Erachtens nach betrachtet Benjamin Franz Kafka zu Recht als einen Metaphysiker, insofern jener die ständige Rechtfertigung des Subjekts als einen Versuch darstellt, die zwischen ihm selbst und seinem Über-Ich vermutete Harmonie, mit der es sich identisch glaubt, als autonomes Subjekt zu verwirklichen und zu bewahren.
Walter BENJAMIN, „Über das Programm der kommenden Philosophie“, in Gesammelte Schriften II, 1, hg. von Rolf TIEDEMANN&Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1977, S. 157.
Vgl. E. KANT, „Vorrede zur ersten Ausgabe (1781)“; der Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Felix Meiner Verlag, 1956, S. 7.
J.J. POLLET, in L’explication de textes de littérature allemande, Paris, Verlag Nathan, 1998, S. 8. Anm. : Die Übersetzungen ins Deutsche der frz. Quellen stammen vom Autor.
Vgl. z.B. Fritz MARTINI, der in Das Wagnis der Sprache, Stuttgart, 1964, S. 287–335, Kafkas Schreiben als ein radikal anhistorisches Schreiben bezeichnet.
Vgl. z.B. die Studie von Malcolm PASLEY, „Die Schrift ist unveränderlich…“, in Essays zu Kafka, Frankfurt a.M., Fischer Tb, 1995, die auf eine völlige Ausschließung der Person des Autors zugunsten des Schriftstellers schließt (S. 118).
Vgl. A. GEHLEN, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M, Athenäum, 1965, S. 128.
Friedrich NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral (1886–7), in Werke II, Berlin, Walter de Gruyter&Co., 1968, S. 361.
Rosemarie FERENCZI, Kafka. Subjectivité, Histoire et Structures, Paris, Verlag Klincksieck, 1975, S. 7.
Alexandre VIALATTE schreibt, daß man in Kafkas Bibliothek das Buch Amerika von heute und morgen. Reiseerlebnisse von Arthur Holitscher gefunden habe und daß zahlreiche Details dieser Beschreibung in Kafkas Roman aufzufinden seien. Kafka selbst habe zugegeben, er habe sich von Charles Dickens Roman David Copperfield inspirieren lassen. S. Alexandre VIALATTE in Œuvres Complètes, Paris, Bibliothèque de la Pléiade, 1989, Bd. I, S. 823.
D. SALLENAVE, Le Don des morts. Sur la littérature, Paris, Gallimard, 1991, S. 120.
Vgl. Walter BENJAMIN, „Der Erzähler, Betrachtungen zum Werk Nicolaj Lesskows“, in Illuminationen, Frankfurt a.M, Suhrkamp, 1969.
H.G. GADAMER, Wahrheit und Mehtode, in Gesammelte Werke 1 , Tübingen; Mohr Verlag, 1986, S. 102–103.
F. KAFKA, Tagebucheintragung vom 19. Okt. 1921, in Tagebücher 1914–1923, Fischer Tb, Nr. 12451, kritische Ausgabe, S. 190. Man beachte hier den Gebrauch des Wortes „Trümmer“, der an die Interpretation erinnert, die W. Benjamin uns von jenem Engel liefert, der auf dem Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee die Trümmer der Geschichte betrachtet. S. W. BENJAMIN, „Über den Begriff der Geschichte IX“, in Gesammelte Schriften, Band 1.2, p. 697.
Vgl. M. HEIDEGGER, Identität und Differenz, Pfullingen, Verlag Neske, 1957, S. 28. Vgl. auch H.G. GADAMER, „Fortwirken durch Verwandeln“, Interview mit Joachim Becker, in Forum für Kultur, Politik und Geschichte, Asendorf, Mut Verlag, Nr. 358, Juni 1997, S. 35.
Paul RICŒUR, Soimême comme un autre, Paris, Seuil, 1990, S. 195.
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Poulain, E. (2003). Einleitung: Die Hölle der Selbstrechtfertigung als Identitätsproblem. In: KAFKA. Einbahnstraße zur Hölle. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02931-7_1
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