Zusammenfassung
In den 1980er Jahren beginnt in der soziologischen Forschung eine zunehmende Beschäftigung mit dem geistigen Verhältnis von Max Weber zu Friedrich Nietzsche. Diese Thematik erwächst aus den Bemühungen um ein geschichtlich-genetisches Verständnis des Weberschen Werkes. Ein solches, so konstatiert Wilhelm Hennis 1987, sei bisher ungenügend geleistet, ja sogar ausgeblendet worden (Hennis 1987: 382ff.). Mit dem Neubeginn der Weber-Rezeption nach 1945 kam Weber hauptsächlich als Vertreter einer anknüpfungsfähigen empirisch-wertfreien Soziologie in die Textbücher (ibid.: 383). Eine Anknüpfung — oder besser: Interpretation — wurde alsbald von der systemfunktionalistischen Schule, insbesondere von Talcott Parsons geleistet und beherrschte das Weber-Bild bis in die 70er Jahre hinein. Im Vordergrund standen hierbei vor allem Aspekte der Methode, so z.B. die Idealtypen, soziales Handeln als Basiskategorie und nicht zuletzt die Werturteilsthematik. Diesbezüglich bot sich Weber „als freiheitliche Alternative zu einem dogmatisch erstarrten oder sektiererisch-revolutionsseligen Marxismus an“, wobei die „Werturteilsfreiheit ... als Waffe gegen Ideologisierungsansprüche“ nutzbar gemacht werden konnte (Peukert 1989: 5). Zu einer Historisierung Webers, also zu besagtem geschichtlich-genetischem Verständnis, kommt es erst nach dem Rückgang der Vorherrschaft systemfunktionalistischer Interpretationen. Aus dieser Perspektive erscheint Weber nun vielmehr als Persönlichkeit des fin de siècle und damit als Denker seiner spezifischen Zeit, als deren Diagnostiker er gleichsam tiefe und scharfsinnige Einsichten formuliert. Mit dieser Sicht gelangt man laut Hennis zu Webers eigentlichem Anliegen, zu „Max Webers Fragestellung“ (Hennis 1982), nämlich nach der Frage des „Schicksals” des modernen Menschen unter den Bedingungen eben dieser Modernität. Webers Werk läßt sich damit vor allem mit Bezugnahme auf das Epochenbewußtsein der Jahrhundertwende lesen, wodurch sich Fragen nach den Beziehungen und Einflüssen zeitgenössischer Autoren auftun. So mag das Denken Webers gerade „im Kontrastbild des Zeitgeistes, in der Herausarbei-tung der Gemeinsamkeiten und Differenzen mit den Zeitgenossen erst seine vollen Konturen“ gewinnen (Peukert 1989: 55; i.d.S. siehe auch: Mommsen/Schwentker 1988).
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Literatur
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Steinmann, L. (2001). Religiöse Ethik und Ressentiment im Werk von Friedrich Nietzsche und Max Weber. In: Klingemann, C., Neumann, M., Rehberg, KS., Srubar, I., Stölting, E. (eds) Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1997/98. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-99644-2_6
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