Zusammenfassung
Um Begriff und Funktion der Elite im vormärzlichen Liberalismus zu klären, ist es notwendig, zunächst den realpolitischen und realsoziologischen Standort des deutschen Bürgertums im Vergleich zur westeuropäischen Situation zu bestimmen. Hier wie dort entstand mit der Auflösung feudaler Ordnungen ein neues Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft. England hatte diese Spannung nach 1688 so gelöst, daß das »government« im dauernden Wechsel zwischen Regierungs- und Oppositionspartei zur Exekutive der Gesellschaft wurde. Diese Verbindung von politischer und gesellschaftlicher Verfassung war geeignet, gefährliche Konflikte, die im Zuge der industriellen Revolution hereinzubrechen drohten, aufzufangen und eine unüberwindbare Frontstellung von Staat und Gesellschaft erst gar nicht entstehen zu lassen. Demgegenüber beschwor die französische Situation auf Grund der ungelösten Spannungen zwischen ständischen Oberschichten, die allein den Staat repräsentierten, und aufstrebenden bürgerlichen Eliten, die auf den gesellschaftlich-ökonomischen Raum beschränkt blieben, einen Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft herauf, der sich in der Großen Revolution entlud. Die Große Revolution hob den Gegensatz nicht auf, ließ aber das Bewußtsein einer notwendigen Lösung der verfassungspolitischen Krise in Frankreich nie wieder erlahmen 1. Die neue bürgerliche Gesellschaft in Frankreich nach 1789 stand vor der Aufgabe, sowohl die revolutionären Ideale von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen als auch die bürgerliche Führungsstellung in Staat und Gesellschaft zu sichern.
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Literatur
Werner Conze: Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, hrsg. v. Werner Conze, Stuttgart 1962, S. 208 f.
Vgl. Rudolf v. Albertini: Freiheit und Demokratie in Frankreich, die Diskussion von der Restauration bis zur Résistance, München 1957, S. 8 ff.
Vgl. Gerhard Funke: Maine de Biran, die philosophische Begründung der Juste-milieu-Politik, in: HZ 179, 1955, besonders S. 12ff.
a Vgl. dazu besonders Heinz Kläy: Zensuswahlrecht und Gleichheitsprinzip, Aarau 1956, S. 130 f.
Vgl. Salwyn Schapiro: Liberalism and the challenge of fascism, social forces in England and France (1815–70), New York/Toronto/London 1949, S. 156, 161.
Guido de Ruggiero: Geschichte des Liberalismus in Europa, München 1930, S. 1611f., 169 ff.
Zum Parlament nach 1830 und dem parlamentarischen Regime unter Louis Philippe vgl. J.-J. Chevallier: Histoire des intitutions politiques de la France de 1789 â nos jours, Paris 1952, S. 221, 235 ff., vgl. auch Albertini, Freiheit und Demokratie, S. 18 ff.; Maurer, a. a. O., S. 1951f. Dazu Schapiro, a. a. O., S. 230.
Lorenz v. Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, mit einem Vorwort hrsg. v. Gottfried Salomon, München 1921, Bd. I, S. 237 f.
Zur Entwicklung des Gleichheitsgedankens, d. h. des eigentlich revolutionären Gedankens in Frankreich vgl. Emile Faguet: Le libéralisme, Paris 1903, S. 229 ff.
Albertini, Freiheit und Demokratie, S. 22, 44; über die daraus resultierenden Umstände und Folgen der Revolution von 1848 vgl. Chevallier, a. a. O., S. 240 ff.
Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Bonn 1929, S. 125 f.
Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation, über die politische Verführbarkeit bürger-lichen Geistes, Stuttgart 1959; zum Folgenden bes. S. 41 ff., 56 ff. Ferner Rudolf Stadel-mann: Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, in: Deutschland und Westeuropa, drei Aufsätze, Laupheim 1948, S. 16 f.
Gerhard Ritter: Die Dämonie der Macht, Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, 6. Aufl. München 1948, S. 118.
Hajo Holborn: Der deutsche Idealismus in sozialgeschichtlicher Beleuchtung, in: HZ 174, 1952, S. 366
vgl. audi Stadelmann, Deutschland und die westeuropäischen Revolutionen, a. a. 0., S. 14, 28 ff. Zum liberalen Revolutionspessimismus und seinen Folgen vgl. Th. Schieder: Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: HZ 170,1950, bes. S. 236 ff.
Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik, eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 3. Aufl., Villingen/Schwarzwald 1960, S. 3–11.
Karl Buchheim: Leidensgeschichte des zivilen Geistes oder die Demokratie in Deutschland, München 1951, S. 6 ff.
Carlo Schmid, Politik und Geist, Stuttgart 1961, S. 67.
Dazu Th. Schieder: Der Liberalismus und die Strukturwandlungen der modernen Gesellschaft vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Relazioni del congresso internazionale di science storiche (Roma 1955), vol. V, Firenze 1955, S. 154; ebdt., S. 145 ff. auch eine kritische Würdigung der Arbeiten von Watkins, Schapiro, C. J. Friedrich, Laski und Sell.
Über die Differenzierung der sozialen Klassen im 19. Jahrhundert vgl. Werner Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts, 5. Aufl., Berlin 1921, S. 440 ff.
Vgl. Ludwig Beutin: Das Bürgertum als Gesellschaftsstand im 19. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 90. Jg. 1953, S. 138 ff., 142.
Zum Problem der Massengesellschaft im Vormärz vgl. L. Beutin: Die »Massengesellschaft« im 19. Jahrhundert, in: Die Welt als Geschichte, 17, 1957, S. 72 f., 84 ff.
Vgl. Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 2. Bd., 2. Aufl., Freiburg 1949, S. 94.
Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, Stuttgart 1957, S. 98.
Vgl. Conze, Staat und Gesellschaft, a. a. O., S. 223 ff., 226 f., 242. Immerhin jedoch nennt Nikolaus v. Preradovich: Die Führungsschichten in Osterreich und Preußen (1804–1918), mit einem Ausblick bis zum Jahre 1945, Wiesbaden 1955, S. 1041f. für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts einen bürgerlichen Anteil von 36 bis 45 Prozent in der preußischen Verwaltung.
So Theodor Geiger: Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949, S. 88; zur bürgerlichen Intelligenz vor allem S. 91 ff.
Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930, S. 9.
Dazu Gertrud Bäumer: Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts, die Grundzüge der modernen Sozialphilosophie, Heilbronn 1910, S. 366.
Imanuel Kant: Ober den Gemeinspruch (1793), in: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilo-sophie, Ethik und Politik, hrsg. u. eingel. v. Karl Vorländer, Leipzig 1913, S. 87 f.
Zum Kantschen Freiheitsbegriff, dessen nähere Erörterung den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, vgl. Bäumer, a. a. 0., S. 139.
Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1795), S. 126, in: Staatsphilosophische Schriften, hrsg. v. Hans Schulz und Reinhard Strecker, Leipzig 1925
Hervorh. v. F., Zur weiteren Entwicklung des Freiheitsgedankens bei Fichte, die zur Überwindung der nur persönlich bestimmten, atomisierenden Freiheit führte und in der Möglichkeit eines absoluten Staates gipfelte, der sich alle individuellen Kräfte unterordnete, vgl. ders.: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1804–05, in: Volk und Staat, eine Auswahl aus seinen Schriften, zusammengestellt und mit einer Einl. v. Otto Braun, München 1921, S. 81 ff. Diese Entwicklung, so wichtig sie auch für die weitere Ausbildung des liberalen Freiheitsbegriffes ist, kann hier nicht verfolgt werden, da sie nicht in den engeren Rahmen einer Untersuchung des liberalen Eliteproblems gehört.
Vgl. Hans-Georg Schroth: Welt-und Staatsideen des deutschen Liberalismus in der Zeit der Einheits-und Freiheitskämpfe 1859–66, ein Beitrag zur Soziologie des deutschen politischen Denkens, Berlin 1931, S. 17.
Weil, a. a. O., S. 164 drückt den Tatbestand etwas überspitzt aus: »Wie auch immer diese Angehörigen politischer Eliten im gesellschaftlichen Machtkampf stehen, sie revoltieren niemals gegen den Geist.«
Zum Spezialproblem der »politischen Intelligenz« vgl. Geiger, a. a. O., besonders S. 132.
Wilhelm v. Humboldt: Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates, mit einer Einführung von Rudolf Pannwitz, Nürnberg 1954; dazu Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, hrsg. und eingel. v. Hans Herzfeld, München 1962, S. 40 ff.; Weil, a. a. O., S. 84–148.
Dazu die ausgezeichnete Erörterung der Probleme, die sich aus dem Humboldtschen Liberalismus ergeben, bei Dietrich Schindler: Verfassungsrecht und soziale Struktur, Zürich 1944, S. 891f.
So Friedrich C. Sell: Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 44.
Humboldt, a. a. O., S. 99. Siegfried A. Kähler: Wilhelm v. Humboldt, ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, München und Berlin 1927, S. 138 spricht von einer »Proklamierung des äußersten politischen Individualismus«. Zu Humboldts Staatsauffassung vgl. auch J. L. Talmon: Politischer Messianismus, die romantische Phase, Köln und Opladen 1963, S. 283.
Humboldt, a. a. O., S. 202. Dazu die kritischen Bemerkungen bei Leonard Krieger: The German Idea af Freedom, history of a political tradition, Boston 1957, S. 167 f.
Zu diesem Zusammenhang meint Schmid, a. a. O., S. 80: »Freiheit des Geistes setzt die politische Freiheit voraus, die Ordnungen und Inhalte des staatlichen Lebens zu bestimmen.«
Zur vorangehenden Problematik vgl. auch Hinton R. Thomas: Liberalism, Nationalism and the German Intellectuals (1822–1847), an analysis of the academic and scientific conferences of the period, Cambridge 1951, S. 20 ff., 50 ff., 81 ff. Zu den politischen Vorstellungen der geistigen Führungsschicht des Bürgertums im Vormärz meint Thomas, a. a. O., S. 120: »In such a view we lack the revolutionary verve which would have been indispensable to carry the German bourgeoisie to victory in 1848.«
Hans Rosenberg: Rudolf Haym und die Anfänge des klassischen Liberalismus, München und Berlin 1933, S. 44 ff.
Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, 4. Aufl., Tübingen 1947.
Walt W. Rostow: Stadien wirtschaftlichen Wachtums, eine Alternative zur marxistischen Entwicklungstheorie, Göttingen 1961, S. 69.
Eingehende Ausführungen über die politischen Anschauungen und die politische Willensbildung des Unternehmertums macht Friedrich Zunkel: Entwicklungstendenzen im rheinisch-westfälischen Unternehmertum…, Diss. Berlin 1955, S. 72–116.
Vgl. Seidel, a. a. O., S. 123 f. Über die ökonomisch-sozialen Probleme der industriellen Entwicklung vgl. Carl Jantke: Der Vierte Stand…, Freiburg 1955, S. 154–186.
So Alfred Weber: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, 1925, S. 63 f.
Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, 1960, S. 388 ff.
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Klotzbach, K. (1966). Die Eliten von Bildung und Besitz im Konflikt Zwischen Staat und Gesellschaft. In: Das Eliteproblem im politischen Liberalismus. Staat und Politik, vol 9. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-98512-5_2
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