Zusammenfassung
Grundbegriffe der philosophischen Tradition hängen vermutlich eng mit Vorgaben zusammen, die letztlich auf die Probleme zurückgehen, die die Gesellschaftsstruktur zu stellen erlaubt. Aber auch wenn man von einem so weitgespannten Erklärungsanspruch absieht, lassen sich Zusammenhänge erkennen zwischen den Semantiken, mit denen in der Vergangenheit und der Gegenwart unserer Gesellschaft die Weltdimensionen von Sinn besetzt und für Kommunikation verfügbar gehalten werden.1 Die Art, wie über Zeit kommuniziert wird, ist nicht unabhängig davon, wie über Sachen (res) kommuniziert wird, und umgekehrt können in der Sachdimension des Sinnes Limitationen gesetzt sein, die die Möglichkeiten der Zeiterfahrung beschränken. So steht in manchen älteren Kulturen die Zeit in engem Zusammenhang mit der Divinationspraxis; sie wird begriffen als Dimension des Verbergens (sowohl des Zukünftigen, als auch der Bedeutung von Vergangenem, als auch von Gegenwärtigem, zum Beispiel des Aufenthaltsortes von Dingen oder Menschen) und sie wird daher mit Hilfe der Unterscheidung verborgen/offenkundig „lesbar“ gemacht.2 Sie ist so von der Sachdimension des Sinnes zwar unterscheidbar, fließt aber auf der Seite des Verborgenen mit ihr zusammen. Sie tritt aus dem Dunklen hervor, wie Augustinus sagt, und tritt ins Dunkel zurück.3 Man bedarf göttlichen Beistands, um irgendetwas gegen die Macht der Zeit zu erkennen und festzuhalten.
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Literatur
Zum theoretischen Ansatz vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, S. 111 ff., 127 ff.
Siehe hierzu Jean-Pierre Vernant et al., Divination et Rationalité, Paris 1974.
Confessiones XI, 17: ex aliquo procedit occulto, cum ex futuro fit praesens, et in aliquod recedit occultum, cum ex praesenti fit praeteritum. Hat es irgendeine Bedeutung, daß es zu dieser Zeit das Wort devenire noch nicht gab und Augustinus auf das (Diskontinuität voraussetzende) Wort fieri angewiesen war?
Diesen Einwand bei Claude Buffier, Cours de sciences, Paris 1732, Sp. 711. Für Père Buffier scheint dies (im 18. Jahrhundert!) kein besonders gravierendes Bedenken zu sein. Ich zitiere Buffier aber vor allem, weil sich hier bereits eine Verzeitlichung des Begriffs der Materie andeutet: „il semble donc qu’il faudroit définir la matière; non, ce qui est commun à diférens corps; mais la substance qui successivement peu devenir plusieurs corps diférens“ (a.a.O., Sp. 712 ).
Diese Traditionslinie zieht in der Tat Hélène Konczewska, L’unité de la matière et le problème des transmutations, Paris 1939.
Ein Test für diese Erweiterungsthese, die unsere Normallage beschreibt, sind Experimente mit Regressionsvorgängen, vor allem unter der Einwirkung von Psychopharmaka. Vgl. Hans Heimann, Zeitstrukturen in der Psychopathologie, in: Anton Peisl/Armin Mohler (Hrsg.), Die Zeit, München 1983, S. 59–78, insb. 63 ff.; ferner natürlich Jean Piaget, Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Zürich 1955.
Achtung: Ich spreche von Differenz. Aristoteles hatte in seiner Physikvorlesung zwar auch auf Vergangenheit und Zukunft abgestellt und zwischen ihnen die Gegenwart punktualisiert. Er hatte die Fragestellung jedoch mit Hilfe des Schemas eines Ganzen, das aus Teilen besteht, vorweg kosmologisiert und die Differenz von Vergangenheit und Zukunft unter dem Gesichtspunkt von Teilen eines Ganzen homogenisiert. Entsprechend war für ihn das Problem, daß die Gegenwart nicht als Teil der Zeit aufgefaßt werden konnte, zumindest nicht, wenn man sie als Jetzt-Punkt sieht. Siehe Physica, Kap. 10, insb. 218a, 3 ff. „tô dé On ou méros“ (6). Aber wie kann die Zeit ein Ganzes sein, wenn nicht als Sein?
Siehe nur Novalis: „Die Zeit entsteht mit dem Faktum (Bewegung)“. Und: „Die Gegenwart ist das Differential der Funktion der Zukunft und Vergangenheit”. (Fragmente 422 bzw. 417 nach der Zählung der Ausgabe von Ewald Wasmuth, Fragmente Bd. I, Heidelberg 1957, S. 131 bzw. 129). Man beachte, den Fortschritt im Raffinement von „Faktum“ zu „Differential” als Begriff, mit dem die Paradoxie der Zeit verschleiert wird. Ein Indikator für einen ideengeschichtlichen Trend?
In: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 9 (1928), S. 367–498.
Siehe auch Niklas Luhmann, The Future Cannot Begin, in ders., The Differentiation of Society, New York 1982, S. 271–288; ders., Zeit und Handlung — eine vergessene Theorie, Zeitschrift für Soziologie 8 (1979), S. 63–81;
ders., Temporalstrukturen des Handlungssystems: Zum Zusammenhang von Handlungsund Systemtheorie, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System: Talcott Parsons’ Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, Frankfurt 1980, S. 32–67. Zum Fehlen einer zureichenden Geschichte der neueren Semantik von „Gegenwart“ auch Ingrid Oesterle, Der „Führungswechsel der Zeithorizonte” in der deutschen Literatur, in: Dirk Grathoff (Hrsg.), Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt 1985, S. 11–75.
Wenn man dies außer Acht läßt, muß man die Möglichkeit von Gleichzeitigkeit überhaupt leugnen und eine Zeittheorie konstruieren, in der Gleichzeitigkeit nur durch Erstreckung der Gegenwart, nur durch Ignorieren von Zeitdifferenzen, also nur annäherungsweise erreicht werden kann. So Helga Nowotny, Eigenzeit: Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt 1989.
Vgl. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, S. 111 ff. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Entdeckung erst in einem intellektuellen Klima Profil gewinnen konnte, daß durch die Relativitätstheorie Einsteins geschaffen war. Für eine wichtige Parallele in der Biologie siehe den Begriff des „directive correlation“ bei Gerd Sommerhoff, Analytical Biology, London 1950, S. 54 ff.; ders., The Logic of the Living Brain, London 1974, S. 73 ff. Er bezeichnet die Möglichkeit lebender Systeme, gegenwärtig Anhaltspunkte für Zukünftiges zu benutzen, ohne die Zukunft voraussehen, geschweige denn in der Zukunft leben zu können. Zu den simultan wirkenden Bedingungen antizipatorischer Systeme vgl. ferner Robert Rosen, Anticipatory Systems: Philosophical, Mathematical Methodological Foundations, Oxford 1985, insb. 339 ff. Als evolutionäre Errungenschaft ist dies eine zweifellos hoch voraussetzungsvolle und damit hoch unwahrscheinliche Struktur. Theoriegeschichtlich gesehen tritt dies Argument an die Stelle des anti-idealistischen Arguments, die Außenwelt leiste durch ihre Kompaktheit und Zeitbeständigkeit Widerstand und beweise damit Realität.
Siehe Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. 5.
Vgl. hierzu auch Ranulph Glanville, The Same is Different, in: Milan Zeleny (Hrsg.), Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New York 1981, S. 252262.
Dt. Übers. in ders., Objekte, Berlin 1988, S. 61–78.
Bekanntlich gibt es Versuche, durch Meditation auf diesen Zustand zurückzugehen, das heißt: unterschiedslose Gleichzeitigkeit zu erleben. Daß dies einer Anstrengung bedarf, zeigt, wie sehr unterscheidendes Beobachten habitualisiert ist; und zugleich macht diese Überlegung darauf aufmerksam, daß die kulturellen (semantischen) Ausgangspunkte für Meditation sehr verschieden sein können.
Zu diesem Beispiel näher: Niklas Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt 1988, S. 884–905. Zur Anwendung auf ein aktuelles Thema siehe auch Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986.
Deshalb lösen Überraschungen Zurechnungsprozesse aus und nicht etwa Zurechnungsprozesse Überraschungen. Vgl. Wulf-Uwe Meyer, Die Rolle von Überraschung im Attributionsprozeß, Psychologische Rundschau 39 (1988), S. 136–147.
Obgleich wieder hinzuzufügen ist, daß ein Beobachter Sachverhalte so beschreiben kann, als ob dies der Fall wäre, und dann vom Input und vom Output von Informationen sprechen wird — aber eben: nur auf Grund eines von ihm selbst erstellten, für ihn sinnvollen Beobachtungsschemas.
Siehe auch die Formulierung von Henri Atlan, Noise, Complexity and Meaning in Cognitive Systems, Revue internationale de systémique 3 (1989), S. 237249 (238): „How is non directed learning possible at all, since it implies a kind of paradox: in order to learn something new one has to perceive it as a pattern to be learned, that is one has to recognize it. And if one is able to recognize it, it means that this pattern is not new to him, that he knows it already“.
Atlan gibt seine Antwort mit Hilfe der Unterscheidung von Varietät und Redundanz. Sie steht der Lösung, die wir im Text vorschlagen, sehr nahe, arbeitet zum Beispiel auch mit dem Begriff des „perturbation“.
Auch andere Theorien benutzen mit dem gleichen Erklärungsziel eine Doppelbegrifflichkeit. Neben den in der vorigen Anm. genannten Begriffen Varietät/Redundanz ist vor allem an Assimilation/Akkommodation (Jean Piaget) zu denken. Auf einen genauen Theorievergleich können wir uns hier nicht einlassen. In allen Fällen dient einer der Begriffe dazu, der Umwelteinwirkung ihre Identität (zum Beispiel physikalischer oder chemischer Art) zu belassen und zugleich nicht diese Identität, sondern daran abgelesene Information in systeminterne Verwendungszusammenhänge einzubauen.
Dies gilt, mit graduellen Differenzen, sowohl für tribale Gesellschaften als auch für Hochkulturen.
Die Einwohner der Insel Laputa, die Gulliver auf seinen Reisen antraf, konnten diese Unterscheidung bekanntlich nicht machen, also auch Wahrnehmung und Kommunikation nicht differenzieren und waren dadurch in ihren Kommunikationsmöglichkeiten erheblich beschränkt.
Vgl. auch Niklas Luhmann, Society, Meaning, Religion — Based on Self-Reference, Sociological Analysis 46 (1985), S. 5–20.
Siehe zur Entwicklung dieser beiden Möglichkeiten in der ägyptischen Religion Jan Assmann, Ägypten: Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart 1984.
Eine gute und besonders auf Beobachtung von Kommunikation eingestellte Untersuchung hierzu ist Fredrik Barth, Ritual and Knowledge among the Baktaman of New Guinea, Oslo 1975.
In diesem Kontext entsteht dann die frühneuzeitliche Theorie, daß Gott die Geheimnisse der Natur stückchenweise lüftet, um die Menschen zum Fortschreiten ihrer Bemühungen zu ermutigen und zugleich am Glauben zu halten. So François de La Noue, Discours politiques et militaires, Basel 1587, zit. nach der Ausgabe Genf 1967, S. 520 f.
Bemerkenswert daran ist nicht nur, daß einer der großen Militärs der französischen Bürgerkriege Gott strategisches Denken zumutet, sondern auch, daß das Problem selbst temporalisiert wird.
Siehe Jeremy Bentham, An Introduction to The Principles of Morals and Legislation, 1789, zit. nach der Ausgabe New York 1948, insb. S. 4 f. Zur der da-vorliegenden Periode eines im Willen Gottes begründeten Utilitarismus vgl. N.E. Simmonds, The Decline of Juridical Reason: Doctrine and Theory in the Legal Order, Manchester 1984, S. 53 ff.
Vgl. zu dieser Entwicklungslinie Herbert L.A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961; Joseph Raz, The Concept of a Legal System, 2. Aufl. Oxford 1980; Neil MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978.
Siehe hierzu auch Steve Fuller, Social Epistemology, Bloomington Ind. 1988, S. 207 ff.
Kant hat dieselbe Einsicht umgekehrt formuliert, daß nämlich Zeit es ermögliche, widersprechende Bestimmungen in einem Ding nacheinander anzutreffen. Diese Formulierung führt zu den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori. Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 48 f.
Für eine vollständige Darstellung müßte man außerdem Sachdimension und Sozialdimension, das heißt die Andersheit des jeweils anderen und die Mehrheit von Beobachtern berücksichtigen.
Schon diese Überlegung macht deutlich, wie falsch es wäre, daß immer nur aktuell fungierende Gedächtnis als Zugriff auf vergangene,aber „gespeicherte“ Daten zu interpretieren. Es ist nichts anderes als ein jeweils aktuelles crosschecking des Zustandes des Systems. Und Zeit ist im gedächtnismäßigen Sinne nichts anderes als ein Konstrukt zur Überprüfung von Redundanzen.
Vgl. Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt 1985. Ausführlich arbeitet auch Jürgen Habermas mit dieser Einsicht. Siehe Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, insb. Bd. 2, S. 171 ff.
Katrin Volger belehrt mich, daß Känguruhs in entsprechenden Situationen ihre Köpfe schütteln, um bei relativ geringer Gehirnkapazität trotzdem ein klares Bild zu gewinnen.
Vgl. auch Niklas Luhmann, Sthenographie und Euryalistik Ms. 1989.
Siehe Nicholas Rescher, The Strife of Systems: An Essay an the Grounds and Implications of Philosophical Diversity, Pittsburgh 1985; die Formulierung S. 93.
Siehe nur Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979. Vgl. aber auch — mit der These, Geistesgeschichte sei Gattungsgeschichte, und Gattungsgeschichte sei Fortsetzung der Naturgeschichte — Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte: Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt 1989. Diese materialreiche Darstellung läßt jedoch die Schwäche des Begriffs der Gattungsgeschichte und ihres anthropologischen Substrats überdeutlich werden. Man verstellt sich damit das viel fundamentalere Phänomen der Gleichzeitigkeit alles Erlebens und Handelns der Menschen. Dux muß sich folglich mit einem überdehnten Handlungsbegriff behelfen, während — jedenfalls nach der hier vertretenen Auffassung — Gleichzeitigkeit ein viel fundamentalere Gegebenheit von Welt im Erleben ist.
Siehe Georg Henrik von Wright, Time, Chance and Contradiction, Cambridge Engl. 1969, S. 9 f.
Dies zeigt — in Übereinstimmung mit der Forschungslage — auch Dux a.a.O. Für Dux ist allerdings der Referent immer Handlung, die Anforderungen sozialer Organisation unterliegt. Das verfügbare Material weist jedoch weit darüber hinaus und legt es nahe, auch andere Referenten in Betracht zu ziehen, sofern nur gesichert ist, daß von ihnen aus bestimmt werden kann, was mit ihnen gleichzeitig ist, zum Beispiel die kosmologischen Ereignisse des Tages-oder des Jahresablaufs.
Siehe dazu im Ausgang von ägyptischen Zeitvorstellungen Jan Assmann, Das Doppelgesicht der Zeit im altägyptischen Denken, in: Anton Peisl/Armin Mohler (Hrsg.), Die Zeit, München 1983, S. 189–223.
Assmann zeigt im übrigen deutlich, daß das Zeitdenken Altägyptens noch ganz bei der Gegenwart ansetzt (so z.B. für die wichtigste Unterscheidung von nehet und djet) und nicht etwa bei der Vorstellung einer Bewegung und schon gar nicht bei einer abstrakten Symbolisierung der Zeit als solcher.
Im Vergleich dazu muß die so viel diskutierte Unterscheidung von zyklischen und linearen Zeitbegriffen als durchaus sekundär eingestuft werden; und in der Tat findet man diese beiden Zeitschematisierungen denn auch durchweg nebeneinander in Gebrauch.
tempus atque successio (exit) a perpetuo“, heißt es bei Nikolaus von Kues, De coniecturis, zit. nach Philosophisch-Theologische Schriften (hrsg. von Leo Gabriel) Bd. II, Wien 1966, S. 120.
Ausführlicher behandelt in: Niklas Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt 1987, S. 25–94.
Speziell zur Zeitproblematik siehe auch Werner Bergmann/Gisbert Hoffmann, Selbstreferenz und Zeit: Die dynamische Stabilität des Bewußtseins, Husserl Studies 6 (1989), S. 155–175.
Siehe für den Fall von Bewußtseinssystemen Bergmann/Hoffmann, a.a.O., S. 164 ff.
Bergmann/Hoffmann, a.a.O., S. 163. Der grammatische Verstoß bringt treffend zum Ausdruck, daß die Unterscheidung wirkt und nicht das Unterschiedene.
Wir vermeiden sorgfältig einen verbreiteten dreiphasigen Zeitbegriff Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, der uns als eine weitere, aber unnötige, Invisibilisierung der Zeitparadoxie erscheint und die Illusion fördert, als ob Zeit als Prozeß erscheinen könne.
Rätselhaft bleibt, wie im modernen Japan beide Formen der Kopplung, Divination und Technik, zusammen existieren können. Die bekannt hohe Amalgationsfähigkeit der japanischen Kultur bietet eine etwas oberflächliche Erklärung. Vielleicht hängt dies aber auch mit der Differenzierung von Religion für individuelle Lebenslagen und strenger sozialer Kontrolle (Gruppenzwänge) in anderen Bereichen der gesellschafltichen Kommunikation zusammen.
Im Zeitalter der Computer mag hier manches zu revidieren sein. Man überlegt sich bereits, was es für die Strukturen des Weltwirtschaftssystems bedeutet, wenn heute die wichtigsten Finanzzentren dieses Systems durch elektronische Datenverarbeitung und elektronische Kommunikation verknüpft sind, also quasi gleichzeitig operieren, aber doch aufeinander zu reagieren versuchen. Es würde nicht erstaunen, wenn dies wieder auf Divination hinausliefe.
Siehe die Formulierungen „Motus igitur est explicatio quietis“ und „praesentia complicat tempus” und „Praeteritum igitur et futurum est explicatio“ in: Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II,III, zit. nach: Philosophisch-Theologische Schriften (Hrsg. Leo Gabriel), Wien 1964, S. 332.
Der Grund dafür liegt nicht in der „Natur“ dieser Ereignisse, sondern in der Organisation des Wahrnehmungsapparates, also in den systemeigenen Operationen. Insofern ist das, was jeweils als noch gleichzeitig System und Umwelt verbindet, von System zu System verschieden. Im Umgang mit dem Singen und Pfeifen von Bomben und Granaten unterscheiden sich erfahrene und neu eingezogene Soldaten.
Eine Formulierung von Gordon Pask, Developments in Conversation Theory: Actual and Potential Applications, in: George E. Lasker (Hrsg.). Applied Systems and Cybernetics Bd. III, New York 1981, S. 1326–1338 (1330).
Allerdings begreift Pask Kommunikation als „information transfer“, muß also innerhalb der Gleichzeitigkeit nochmals ein Vorher und Nachher, also Ungleichzeitigkeit vorsehen. Wir vermeiden dies durch einen strikt auf die Gleichzeitigkeit von Ereignis und Welt abstellenden Begriff von Kommunikation.
Zur Erläuterung: Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984.
Zu ähnlichen, wenn auch begrifflich anders formulierten Ergebnissen kommen heute Forschungen übeer „Hominisation“. Siehe etwa Eve-Marie Engels, Erkenntnis als Anpassung? Eine Studie zur evolutionären Erkenntnistheorie, Frankfurt 1989, S. 183 ff. mit weiteren Hinweisen.
Es ist eine zweite, durchaus sekundäre Frage, ob und wie weit Sprachen dann in der Lage sind, Zeitverhältnisse sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Das ist, wenn auch mit erheblichen Unterschieden im einzelnen, als normal zu vermuten; denn wenn Kommunikation läuft und ein Formulierungsbedarf entsteht, wird die Sprache schon Möglichkeiten finden, dem nachzukommen. Jedenfalls findet die gegenteilige Hypothese (Whorf, Sapir) heute kaum noch Anhänger. Vgl. Ekkehart Malotki, Hopi Time, Berlin 1983; Hubert Knoblauch, Die sozialen Zeitkategorien der Hopi und der Nuer, in: Friedrich Fürstenberg/Ingo Mörth (Hrsg.), Zeit als Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft, Linz 1986, S. 327–355.
Vgl. hierzu Jürgen Markowitz, Verhalten im Systemkontext: Zum Begriff des sozialen Epigramms, diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts, Frankfurt 1986, S. 181 ff., 205 ff.
Siehe dazu Léon Vandermeersch, De la tortue à l’achillée, in: Jean-Pierre Vernant et al., Divination et Rationalité, Paris 1974, S. 29–51.
Siehe Niklas Luhmann, The Evolutionary Differentiation between Society and Interaction, in: Jeffrey C. Alexander et al. (Hrsg.), The Micro-Macro-Link, Berkeley 1987, S. 112–131.
Vgl. Anthony Giddens, The Constitution of Society: Outline of the Theory of Structuration, Berkeley 1984, S. 28 mit Anm. 31 und 32. Überhaupt gehört Giddens zu den wenigen Soziologen, die Veränderungen in den Raum/ZeitVerhältnissen der Gesellschaft gebührend beachten. „The contemporary world system is, for the first time in human history, one in which absence in space no longer hinders system co-ordination“ (a.a.O. S. 185).
Hierzu Alois Hahn, Verständigung als Strategie, in: Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Kultur und Gesellschaft, Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages, des 11. Österreichischen Soziologentages und des 18. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt 1989, S. 346–359.
Vgl. hierzu Eviatar Zerubavel, Hidden Rhythms: Schedules and Calendars in Social Life, Chicago 1981, insb. S. 64 ff., 70 ff.
Angesichts dieser Überlegungen erscheint das Bemühen der Revolutionsregierung in Frankreich 1793, den Kalender zu ändern, als ebenso verständlich wie überflüssig. Die Neuerung der Zeit lag gerade darin, daß es auf den alten Sinn der Kalenderordnung gar nicht mehr ankam.
Helga Nowotny, From the Future to the Extended Present, in: G. Kirsch et al. (Hrsg.), The Formulation of Time Preferences in a Multidisciplinary Perspective, Aldershot 1988, S. 17–31; dies., Eigenzeit a.a.O. S. 47 ff.
Dies ist inzwischen eine so normale, so sicher erwartbare Erscheinung, daß man sich wundern muß, daß Zeitplanungen überhaupt noch ernst genommen werden. Abhilfe liegt nur in einem sachlichen Entkoppeln der Aktivitäten. Vgl. hierzu Arthur L. Stinchcombe/Carol A. Heimer, Organisation Theory and Project Management: Administering Uncertainty in Norwegian Offshore Oil, Oslo-London 1985.
Im Anschluß an Marzio Barbagli, Disoccupazione intellettuale e sistema scolastico in Italia, Bologna 1974.
Während ich dies schreibe, sehe ich mich in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung gemeinsam mit Jürgen Habermas als „Großtheoretiker vergangener Jahre“ charakterisiert (FAZ Nr. 236 vom 11. Oktober 1986, S. 25).
Hierzu Daniel Charles, Poetik der Gleichzeitigkeit, Bern 1987.
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Luhmann, N. (1990). Gleichzeitigkeit und Synchronisation. In: Soziologische Aufklärung 5. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97005-3_5
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