Zusammenfassung
Um eine Vorverständigung über das Thema zu erreichen, mag es sinnvoll sein, mit einem Gleichnis zu beginnen1 Ein Gärtner sah, daß ein Mann in einen seiner Bäume gestiegen war und von den Früchten aß. Er machte ihm Vorwürfe. Der Mann aber erklärte: Ohne den Willen Gottes hätte ich weder Appetit auf Früchte noch wäre ich auf diesen Baum gestiegen. Es geschieht alles mit Gottes Wille, und Du hast keinen Anlaß, Gott Vorwürfe zu machen. Daraufhin nahm der Gärtner den „Stock Gottes“ und drosch auf den Mann ein, bis dieser sich bereitfand, von seiner Theologie zu lassen und zuzugeben, daß es seine freie Entscheidung gewesen sei. Wir ergänzen und interpretieren: An die Stelle der gemeinsamen Berufung auf einen Willen setzen die Beteiligten, nachdem sie damit üble Erfahrungen gemacht haben, eine Unterscheidung, nämlich den Code von Recht und Unrecht, der es ermöglicht, das Verhalten differentiell (und im Laufe von Zivilisation dann „maßvoll“ = gerecht) zu konditionieren. So entsteht Freiheit als Möglichkeit der Option auf eine Seite der Unterscheidung. Auch das geschieht dann offenbar mit Wissen und Willen Gottes. Das kann man akzeptieren. Die Frage ist aber, wenn es zur Reflexion dieses Akzeptierens, das heißt zur Theologie kommt, wie man dies verstehen, interpretieren, begreifen, theoretisch aufbereiten kann.
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Literatur
Quelle: Jalaluddin Rumi, Mathnawi-i ma’nawi (hrsg. von Reynold A. Nicholson) 6 Bde., London 1925–1940, Bd. VI, 5.185 f.
Jean-François Lyotard, La condition postmoderne: Rapport sur le savoir, Paris 1979.
Vgl. Life as Polycontexturality, in: Gotthard Günther, Beiträge zur
Siehe Laws of Form, Neudruck New York 1979.
Nur vorsorglich sei noch angemerkt, daß das Positive und das Negative als Resultat (und nicht als Voraussetzung) des Unterscheidens behandelt wird — als Wiederholung (law of condensation) oder als Übergang in der Unterscheidung von einer auf die andere Seite (law of cancellation).
So fragt zum Beispiel Ranulph Glanville, Beyond the Boundaries, in: R.F. Ericson (Hrsg.), Improving the Human Condition: Quality and Stability in Social Systems, Washington 1979, S. 70–74; dt. Übersetzung in ders., Objekte, Berlin 1988, S. 149–166 (150 f.).
Auch hier könnte man auf Lyotard zurückkommen und speziell auf die Art, wie er „phrase“ und „enchaînement” als Prozeß sieht, der eine Differenz erzeugt und nicht anders kann. Siehe Jean-François Lyotard, Le Différend, Paris 1983.
Daß die Physiker von Indeterminiertheit oder von Unbestimmtheit sprechen, sollte nicht beirren. Es ist allzu klar, daß das, was sie meinen, nicht unbestimmt sein kann, weil Negatives immer nur sprachlich als ein Modus der Operationsweise Denken oder Kommunizieren existiert.
Periphyseon (De divisione naturae) Buch 1, zitiert nach der Ausgabe von I.P. Sheldon-Williams, Dublin 1978, S. 166 f.
So Glanville, Objekte, a.a.O., S. 152.
Siehe Francisco Varela G., A calculus for self-reference, International Journal of General Systems 2 (1975), S. 5–24.
Quomodo igitur divina natura se ipsam potest intelligere quid sit cum nihil sit?“ Und: „Deus itaque nescit quid est quia non est quid, incomprehensibilis quippe in aliquo et sibi ipsi et omni intellectui”, heißt es in Johannes S.E., a.a.O., Bd. 2, Dublin 1972, S. 142.
Man erkennt rückblickend leicht die Metaphorik der Einheit, die solchen Letztbegriffen wie Prinzip oder Grund zugrunde lag. Und auch: daß man metaphérein und diaphérein unterscheiden muß.
Daß diese Unterscheidung nicht religionsnotwendig ist, kann ein Blick in den Taoismus lehren. Vgl. z.B. Raymond M. Smullyan, The Tao is Silent, New York 1977. Ob ein Gottesbegriff dazu zwingt, die Frage nach Sein oder Nichtsein zu stellen und mit dieser Frage den Glauben an Gott zu konfirmieren, hängt offensichtlich von der Fassung dieses Begriffs ab.
Siehe den Beitrag: Idenität — was oder wie? in diesem Band.
Gelegentlich wird diese Position als Extremfall der Liebe zu Gott dargestellt — so im Falle des Teufels Iblis. Jedenfalls kennt dieser Teufel noch die Einheit dieser Unterscheidungsoperation und weiß, daß seine Liebe zu Gott das Leiden am Abstand ist. So jedenfalls die Interpretation von Jalaluddin Rumi, The Mathnawi-i (ed. Reynold A. Nicholson) Bd. III, London 1926, z.B. S. 360.
Although these twain — good and evil — are different, yet these twain are (engaged) in one work“. Entsprechend kann Gott die Reue Adams nicht annehmen, denn Gott selbst hat das Unterscheiden erzwungen: „After his repentence, He (God) said to him, ‘O Adam, did not I create in thee that sin and (those) tribulations? Was it not My foreordainment and destiny? How didst thou conceal that at the time of excusing thyself?” (Rumi, a.a.O., S. 82) Es scheint klar zu sein: diese Intransparenz kommt durch den Trick mit dem Teufel zustande. Wie kann Gott dann aber dies Adam vorwerfen? Vgl. hierzu ausführlich Peter J. Awn, Satan’s Tragedy and Redemption: Iblis in Sufi Psychology, Leiden 1983, insb. Kapitel III, und zum jüdischen und christlichen Kontext der Themen Leo Jung, Fallen Angels in Jewish, Christian and Mohammedan Literature: A Study in Comparative Folklore, The Jewish Quarterly Review 15 (1925), S. 467–502; 16 (1926) S. 45–88, 171–205, 287–336;
Samuel M. Zwemer, The Worship of Adam by Angels (with Reference to Hebrews 1:6), The Moslem World 27 (1937), S. 115–127.
Wohlgemerkt, dies besagt natürlich nicht, daß das Gute nicht gut und das Böse nicht böse sei! Es geht um die Einheit dieser Unterscheidung, also um die Unterscheidung dieser Unterscheidung von anderen Unterscheidungen. Es geht um das Moralisieren.
So ein Autor in der Zeit der religiösen Wirren des 16. Jahrhunderts: Jean de Marconvile (Marconville), De la bonté et mauvaistié des femmes, Paris 1564, fol. 6 v. (Eva in Schutz nehmend).
Hierzu auch Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung der Religion, in ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt 1989, S. 259–357.
Awn, a.a.O., S. 124, bezeichnet ihn auch als „perfect monotheist“.
Die Rechtsförmigkeit der Vorgehensweise des Teufels fällt insbesondere in mittelalterlichen Texten auf (siehe dazu Jeffrey Burton Russel, Lucifer: The Devil in the Middle Ages, Ithaca 1984, z.B. S. 80 ff., 104 f.; Peter-Michael Spangenberg, Maria ist immer und überall: Die Alltagswelten des spätmittelalterlichen Mirakels, Frankfurt 1987, insb. S. 233 ff. Entsprechend kennzeichnet selbst frühmoderne Literatur Erlösung zuweilen noch als Erlösung vom Recht — also von dieser Unterscheidung. „delivering us from… the Severity, Justice and Curse of the Law“, heißt es bei Edward Reynolds, A Treatise of the Passions and Faculties of the Soule of Man, London 1640, Nachdruck Gainesville, Fla. 1971, S. 422.
Mai moi, ajoutait-il, je suis le dieu de ceux qui me résistent en tant que je suis, et qui me désirent en tant que je ne suis pas“, heißt es dazu bei Paul Valéry in den „Histoires brisées” — zit. nach OEuvres (éd. de la Pléiade) Bd. II, Paris 1960, S. 440.
Die übliche theologische Interpretation dieser Stelle als Angebot des Sühneopfers eines Unschuldigen zielt auf Bewunderung dieser Opferbereitschaft, verdeckt aber eben damit die Provokation Gottes, die in dieser Zumutung liegt. Siehe zur Interpretation als Sühneangebot Hartmut Gese, Zur biblischen Theologie: Alttestamentliche Vorträge, München 1977, S. 87 f.; Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen: Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament, Neukirchen 1982, S. 142 ff. (Diese Hinweise verdanke ich Michael Welker).
Um nochmals Rumi mit Iblis zu zitieren: „Since there was no play but this on His board, and He said ‘Play’, what more can I do? I played the one play (move) that there was, and cast myself into woe. Even in woe I am tasting His delights: I am mated by Him, mated by Him, mated by Hirn!“ (A.a.O., S. 358.)
Mark Twain, Letters from the Earth, New York 1962, Zitat S. 3.
Zit. nach Philosophisch-theologische Schriften (Hrsg. Leo Gabriel), Wien 1964, Bd. 1, S. 56. In der Erläuterung heißt es dann (ich zitiere die deutsche Übersetzung): „Er ist vor jedem Unterschied, vor dem Unterschied von Tatsächlichkeit und Möglichkeit, vor dem Unterschied des Werden-Könnens und des Machen-Könnens, vor dem Unterschied von Licht und Finsternis, auch vor dem Unterschied von Sein und Nichtsein, Etwas und Nichts, und vor dem Unterschied von Unterschiedslosigkeit und Unterschiedenheit, Gleichheit und Ungleichheit usw.“ Verbirgt sich in diesem „usw.” aber auch der Unterschied von bonum und malum?
So im Kontext der Trinitätslehre De docta ignorantia I, XIX, a.a.O., S. 260.
Siehe: de non-aliud, zit. nach: Philosophisch-theologische Schriften Bd. 2, Wien 1966, S. 443–565.
Vgl. Apologia Doctae Ignorantiae, a.a.O., S. 546. Siehe auch aus De docta ignorantia I, VI a.a.O, S. 212: Maxime igitur verum est ipsum maximum simpliciter esse vel non esse, vel esse et non esse, vel nec esse nec non esse; et plura nec dici nec cogitari possunt. Die Konsequenz ist dann freilich, daß Theologie nicht im Sinne normaler, logisch gesicherter Erkenntnis möglich ist, sondern nur in der docta ignorantia besteht, das heißt in der verständnisvollen Einsicht, daß (und warum) dies nicht möglich ist.
Siehe Apologia, a.a.O., S. 536: dat omne esse, und: Deum nequaquam concipi debere habere esse.
Siehe hierzu die Passagen über Wirklichkeit (actus) und Möglichkeit (potentia) in De docta ignorantia II, VII, a.a.O., S. 361 ff. Nur in Gott ist die Möglichkeit Wirklichkeit (possest).
Vgl. als dazu wichtigen Text: Ranulph Glanville/Francisco Varela, „Your Inside is Out and Outside is In“ (Beatles 1968), in: George E. Lasker (Hrsg.), Applied Systems and Cybernetics, Bd. II, New York 1981, S. 638–641.
Z.B. Johannes Scottus Eriugena, Periphyseon (de divisione naturae) I, zit. nach der Ausgabe von I.P. Sheldon-Williams, Bd. 1, Dublin 1978, S. 132 ff.
mit der weiteren Unterscheidung, daß Engel und Menschen zwar unterscheiden können, da 13 sie existieren, nicht aber, als was sie existieren (nulla natura sive rationalis sive intellectualis est quae ignoret se esse quamvis nesciat quid sit., S. 144).
Siehe hauptsächlich: La violence et le sacré, Paris 1972; Des choses cachées depuis la fondation du monde, Paris 1978; Le bouc émissaire, Paris 1982.
So a.a.O. (1982), S. 48.
Girard vertritt für diese Version einen Exklusivanspruch. Man könnte aber durchaus zugestehen, daß es dazu funktionale Äquivalente geben könnte (etwa in Mythologien der Zeugung), die dann aber weniger drastisch die Vernichtung der biologisch gegebenen Ordnung symbolisieren.
Mit Girard kann man der Meinung sein, daß damit die Unschuld des Opfers, also die Fiktionalität des Mythos, endgültig etabliert worden sei. Doch bleibt noch Judas! Er ist der einzige, von dem man nicht wird sagen können, er habe nicht gewußt, was er tat (Lukas 23,24). Und auch der einzige, der wirklich versucht hat, zu testen (zu beobachten), ob dieser angebliche Gott wirklich Gott ist und damit gescheitert ist. Er ist der Mörder, auf den alles sich zuspitzt. Man müßte also die Konsequenz ziehen und zugeben, daß Jesus nur ein vorgeschobenes Opfer und in Wahrheit Judas der Christus gewesen sei. So Jorge Luis Borges, Drei Fassungen von Judas, in: Gesammelte Werke, Erzählungen 1, München 1981, S. 215–221.
Im einfachsten Falle geht es auch ohne das. Die Jesuiten berichten aus Peking, hier würden Jahr für Jahr ca. 20–30 000 Neugeborene ausgesetzt und dem Tode überlassen. Der Orden tue sein Möglichstes, könne aber mangels Personal nur etwa 3 000 dieser Kinder rechtzeitig taufen und damit retten. Siehe Père François Noel, Mémoire sur l’état des Missions de la Chine… (1703), in: Lettres édifiantes et curieuses, écrites des missions étrangères, 24 Bde., noue. éd. Paris 1780–81, S. 160–183 (166 f.).
Vgl. hierzu Paul Dumouchel/Jean-Pierre Dupuy, L’enfer des choses: René Girard et la logique de l’économie, Paris 1979. Siehe auch Michel Aglietta/André Orléan, La violence de la monnaie, 2. Aufl. Paris 1984.
Siehe etwa Henry Home, Lord Kames, Sketches of the History of Man, 4 Bd e., 4. Aufl., Edinburgh 1788, Bd. II, S. 1 ff. über Entwicklung Höhepunkt und Verfall der ritterlichen Hochachtung von Frauen bei zunehmendem Luxus („a more substantial gallantry took place, not always innocent“, S. 87 ).
Siehe Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside, Cal. 1981. Deutsche Übersetzungen in ders., Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985.
Dazu einschlägig die Totalitarismus-Interpretation von Marcel Gauchet, L’expérience totalitaire et la pensée de la politique, Esprit Juli/August 1976, S. 328.
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Luhmann, N. (1990). Die Weisung Gottes als Form der Freiheit. In: Soziologische Aufklärung 5. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97005-3_4
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