Zusammenfassung
Grundlegende Werthaltungen können nur einen Einfluß auf den Parteienwettbewerb haben, wenn erstens in den Programmen und politischen Aussagen der Parteien unterschiedliche Werthaltungen zum Ausdruck kommen; und zweitens müssen sich diese Wertkonflikte auch in der Wählerschaft wiederfinden. Schon das eine ist strittig: In den vergangenen Jahrzehnten ist mit unterschiedlichen Begründungen immer wieder vorgetragen worden, daß die Unterschiede zwischen den Parteien verschwänden1. Ein Argument ist, daß die großen Streitfragen des letzten Jahrhunderts gelöst seien. Alle Parteien bezeichnen sich heute als demokratisch, liberal und sozial. Mit der Erledigung dieser Streitfragen sei aber für die Parteien die Möglichkeit entfallen, sich über politische Themen ein unverwechselbares Profil zu geben. Weiter sollte der Trend zu Volks- bzw. Allerweltsparteien u. a. in einer Verwässerung der Parteienprogramme zum Ausdruck kommen2. Eine im Grunde ähnliche Tendenz zur Mitte leitet Anthony Downs theoretisch stringent in Zweiparteiensystemen ab: Wenn beide Parteien ihre Wählerstimmen maximieren wollen, dann müssen sie sich möglichst nahe der Mitte piazieren, was inhaltlich auf eine Annäherung ihrer ideologischen Positionen hinausläuft3. Schließlich ist als Argument für das Verschwinden programmatischer Unterschiede zwischen den Parteien vorgebracht worden, daß sich in unserer Demokratie die Aufgabe der politischen Parteien zunehmend darauf reduziert, die sozial abträglichen Folgen kapitalistischen Wirtschaftens abzumildern4.
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Literatur
Vgl. Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992.
Vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des Westdeutschen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift, 6 (1965) 1, S. 20–41.
Vgl. Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957, S. 73.
Vgl. Claus Öffe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt a.M. 1973;
s.a. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973.
Vgl. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: An Introduction, in: Seymour M. Lipset/Stein Rokkan (eds.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, New York 1967, S. 1–64.
Vgl. Franz Urban Pappi, Konstanz und Wandel der Hauptspannungslinien in der Bundesrepublik, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, Frankfurt a. M. 1979;
ders., Bewegungstendenz des politisch-sozialen Systems in der Bundesrepublik Deutschland. Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierungen und Wahlabsicht, in: Max Kaase (Hrsg.), Wahlsoziologie heute. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1976 (Politische Vierteljahresschrift, 18 [1977] 2–3), S. 195–229.
Im Rahmen der Diskussion geht es um weitere Teilfragen. Ein Teilproblem ist, ob sich der Zusammenhang von Sozialstruktur einerseits, Wertorientierungen und Wahlverhalten andererseits im Zeitverlauf abschwächt. Diese Frage wird im folgenden ausgeklammert.
Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton, N.J. 1977;
ders., Kultureller Umbruch: Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt a. M. 1989;
s. a. Kendall L. Baker/J. Dalton Russel/Kay Hildebrandt, Germany Transformed, Cambridge (England) 1981;
Wolfgang Jagodzinski, Sozialstruktur, Wertorientierungen und Parteibindung: Zur Problematik eines Sozialisationsmodells, in: Zeitschrift für Soziologie, 10 (1981) 2, S. 170–191. Auf die nach wie vor umstrittene Frage, ob der Postmaterialismus tatsächlich stabile Wertorientierungen mißt oder nur Einstellungen, die in Abhängigkeit von der jeweiligen ökonomischen Lage und von der Stellung im Lebenszyklus variieren, wollen wir hier nicht eingehen.
Vgl. dazu bereits Ferdinand Böltken/Wolfgang Jagodzinski, Insecure Value Orientations in an Environment of Insecurity, Postmaterialism in the European Community, in: Comparative Political Studies, 17 (1984/85) 4, S. 453–484;
Wolfgang Jagodzinski, Wie transformiert man Labile In Stabile RELationen? Zur Problematik postmaterialistischer Wertorientierungen, in: Zeitschrift für Soziologie, 13 (1984), S. 225–242;
neuerdings Markus Klein, Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett? Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1973 und 1992 gemessen anhand des Inglehart-Index, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47 (1995), S. 207–230;
Erich H. Witte, Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland (West) zwischen 1973 und 1992: Alternative Interpretationen zum Inglehart-Index, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48 (1996) 3, S. 534–541.
Vgl. Oddbjorn Knutsen, Value Orientations, Political Conflicts and Left-Right Identification: A Comparative Study, in: European Journal of Political Research, 28 (1995) 1, S. 63–93.
Hierzu verweisen wir auf den Beitrag von Hans-Dieter Klingemann/Andrea Volkens in diesem Band.
Ein besserer Indikator wäre die Parteianhängerfrage, die die langfristige Bindung an eine Partei mißt. Leider war diese Frage in unserem Datensatz (Allgemeine Bevölkerungsumfrage Sozialwissenschaften 1994/ALLBUS 94) nicht enthalten.
Wir berücksichtigen nur die Parteien, für die mindestens 50 Befragte gestimmt haben. Bei einer kleineren Zahl ist die Gefahr zu groß, daß die Antworten der Personen in unserer Stichprobe für das jeweilige Parteilager nicht repräsentativ sind.
Die Auffassung, daß Werte Konzeptionen einer wünschenswerten Gesellschaft sind, stammt von Clyde Kluckhohn, Values and Value-Orientations in the Theory of Action: An Exploration in Definition and Classification, in: Talcott Parsons/Edward A. Shils (eds.), Toward a General Theory of Action, Cambridge (England) 1951, S. 308–433.
Vgl. Petra Bauer, Ideologie und politische Beteiligung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1993, S. 56–88.
Der ALLBUS erlaubt einen Vergleich von Teilaspekten des marktwirtschaftlichen und des sozialistischen Wirtschaftsmodells. Umfassender untersucht werden die Einstellungen zu Ungleichheit und Leistung von Heiner Meulemann, Wert und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wiedervereinten Nation, München 1996.
In Wolfgang Jagodzinski/Steffen M. Kühnel, Estimation of Reliability and Stability in Single-Indicator Multiple-Wave Models, in: Sociological Methods & Research, 15 (1987) 3, S. 219–258, haben wir gezeigt, daß viele der im folgenden betrachteten Indikatoren für Werthaltungen unzuverlässig sind. Da keine besseren Maße zur Verfügung stehen, müssen wir jedoch mit den eingeschränkt brauchbaren vorliebnehmen.
Die von uns analysierten Daten wurden vom Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln (ZA) bereitgestellt.
Vgl. Franz Urban Pappi, Die konfessionell-religiöse Konfliktlinie in der deutschen Wählerschaft: Entstehung Stabilität und Wandel, in: Dieter Oberndörfer/Hans Rattinger/Karl Schmitt (Hrsg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1985, S. 263–290; Karl Schmitt, Religiöse Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens: Entkonfessionalisierung mit Verspätung?, in: ebd., S. 291–329.
Vgl. Wolfgang Jagodzinski/Karel Dobbelaere, Secularization and Church Religiosity, in: Jan W. van Deth/Elinor Scarbrough (eds.), Beliefs in Government, Vol 4: The Impact of Values, Oxford (England) 1995.
Vgl. Petra Bauer-Kaase, Die Entwicklung politischer Orientierungen in Ost- und Westdeutschland seit der deutschen Vereinigung, in: Oskar Niedermeyer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteien und Wähler im Umbruch, Opladen 1994, S. 266–297.
Diese Sichtweise wurde vor allem von Philip Conversegeprägt: Philip Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Publics, in: David E. Apter (ed.), Ideology and Discontent, New York — London 1964, S. 206–261.
Vgl. Wolfgang Jagodzinski/Steffen M. Kühnel, Bedeutungsinvarianz und Bedeutungswandel der politischen Richtungsbegriffe »links« und »rechts«, in: Hans Rattinger/Oscar W. Gabriel/ Wolfgang Jagodzinski (Hrsg.), Wahlen und politische Einstellungen im vereinigten Deutschland, Frankfurt a. M. 1994, S. 317–367.
Vgl. dies., Die Schätzung der relativen Effekte von Issueorientierungen, Kandidatenpräferenz und langfristiger Parteibindung auf die Wahlabsicht, in: Karl Schmitt (Hrsg.), Wahlen, Parteieliten, politische Einstellungen, Frankfurt a. M. 1990, S. 5–63.
Die logistische Regression ist ein statistisches Verfahren, das für unsere Fragestellung besonders geeignet ist. Auf die mathematisch komplizierten Eigenheiten können wir hier nicht eingehen; vgl. dazu Steffen Kühnel, Sparsame Modellierung mit Zufallsnutzenmodellen, in: ZA-Information, (1992) 31, S. 70–92.
Um die folgende Darstellung zu vereinfachen, haben wir dort, wo mehrere Indikatoren für eine Wertdimension zur Verfügung standen, die zustimmenden Antworten aufsummiert.
Als Maß für die Erklärungskraft haben wir den sog. Likelihood-Ratio-Index herangezogen. Ein Wert von Null bedeutet, daß die unabhängigen Variablen keinen Einfluß auf die Wahrscheinlichkeiten der abhängigen Variablen haben. Bei dem (nur theoretisch erreichbaren) Maximalwert von 100 Prozent wäre dagegen bei allen Befragten die geschätzte Wahrscheinlichkeit der gewählten Partei eins.
Eine detaillierte Analyse findet sich hierzu bei Wolfgang Jagodzinski/Steffen Kühnel, Werte, Ideologien und Wählerverhalten, unv. Manuskript, Universität zu Köln 1995.
Vgl. Oscar W. Gabriel/Frank Brettschneider, Soziale Konflikte und Wählerverhalten: Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Kontext der längerfristigen Entwicklung des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland, in: H. Rattinger/O. W. Gabriel/W. Jagodzinski (Anm. 24);
s. a. mit weiteren Nachweisen Michael Hout/Clem Brooks/Jeff Manza, The Democratic Class Struggle in the United States: 1948–1992, in: American Sociological Review, 60 (1995) 6, S. 805–828.
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Jagodzinski, W., Kühnel, S. (1997). Werte und Ideologien im Parteienwettbewerb. In: Gabriel, O.W., Niedermayer, O., Stöss, R. (eds) Parteiendemokratie in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-95609-5_9
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-13060-6
Online ISBN: 978-3-322-95609-5
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