Zusammenfassung
Wenn vom „Osten“ im vereinigten Deutschland die Rede ist, kann das vieles bedeuten. „Der Osten“ im vereinigten Deutschland steht für eine Region in wirtschaftlich und machtpolitisch besonderer Lage. Er steht für eine Bevölkerung mit historisch gewachsenen sozialisatorischen Mustern, Weiten, Praxen, mit spezifischen Erfahrungen, Erinnerungen und Sinnkonstruktionen, die zum Teil deutlich von denen der Westdeutschen abweichen. „Der Osten“ im vereinigten Deutschland steht aber auch für einen nun schon zehn Jahre währenden Diskurs, dessen Resultat die Konstruktion bzw. Gegenkonstruktion „der“ Ostdeutschen und einer Ost-„Identität“ ist.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Similar content being viewed by others
Literatur
Statistisches Handbuch für Deutschland 1949, zit. nach Thomas Gensicke, Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation ohne Integration, Opladen 1998, S. 141.
Vgl. Dagmar Müller/Michael Hofmann/Dieter Rink: „Diachrone Analysen von Lebensweisen in den neuen Bundesländern: Zum historischen und transformationsbedingten Wandel der sozialen Milieus in Ostdeutschland“, in: Stefan Hradil/Eckart Pan-koke (Hrsg.), Aufstieg für alle?, Opladen 1997, S. 237–319.
Vgl. Monika Gibas:,„Die DDR — das sozialistische Vaterland der Werktätigen!’Anmerkungen zur Identitätspolitik der SED und ihrem sozialisatorischen Erbe“, Aus Politik und Zeitgeschichte B 39–40/99, S. 21–30.
Vgl. Monika Gibas: „Ideologie und Propaganda“, in: Die SED. Geschichte — Organisation — Politik. Ein Handbuch, hrsg. von Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stephan/Jürgen Winkler, Berlin 1997, S. 241–262.
Einer im Jahr 1990 vorgenommenen vergleichenden Untersuchung bot sich folgendes Bild: Die größte Gruppe in der ohnehin schmalen ostdeutschen Mittelschicht ist das „kleinbürgerlich-materialistische Milieu“ — im Osten gibt es sozusagen eine Mittelschicht der,kleinen Leute’. In der Mittelschicht des Westens ist das kleinbürgerliche Milieu nicht so dominant. Im Westen gibt es stattdessen ein großes „aufstiegsorientiertes Milieu“, dessen Pendant im Osten wiederum sehr klein ist. Auch in der Oberklasse gibt es andere Schwerpunkte. In den westdeutschen Oberklassen dominiert das „konservativ-gehobene“ und das „technokratische Milieu“. In den ostdeutschen Oberklassen überwiegen das „bürgerlich-humanistische“ und das „links-alternative Milieu“, während das gehobene technokratische Milieu im Vergleich zum Westen eher klein ist, und ein „konservativ-gehobenes Milieu“ gänzlich in der ostdeutschen Oberschicht fehlt. Zudem sind die Kommunikationsbarrieren und die mentalen Gräben zwischen den Angehörigen der verschiedenen Milieus und Schichten im Westen größer als im Osten. Zum Vergleich der Milieu-Landschaften: Michael Vester: „Milieuwandel und regionaler Strukturwandel in Ostdeutschland“, in: Michael Vester/Michael Hofmann/Irene Zierke (Hrsg.), Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung, Köln 1995, S. 7–50, hier: S. 15;
Jörg Ueltzhoffer/Berthold Flaig: „Spuren der Gemeinsamkeit? Soziale Milieus in Ost- und Westdeutschland“, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation — doppelte Geschichte, Köln 1993, S. 61–81.
Welche sozialpsychologischen Wirkungen der Marshall-Plan für die westdeutsche Bevölkerung hatte, hat „bisher kaum Beachtung gefunden“ : Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Marshall-Plan und deutscher Wiederaufstieg. Positionen — Kontroversen, Stuttgart 1990, S. 7.
Gerald Diesener: „Propaganda im Konzept der KPD zur Überwindung des Faschismus“, in: dersVRainer Gries (Hrsg.), Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1996, S. 101–110, hier: S. 103f.
Klaus Schönberger:,„Hier half der Marshallplan’. Werbung für das europäische Wiederaufbauprogramm zwischen Propaganda und Public Relations“, in: ebd., S. 193–212, hier: S. 197f.
Ebd., S. 199f.
Vgl. dazu die informative Studie von Dirk Schindelbeck und Volker Ilgen, „Haste was, biste was!“. Werbung für die Soziale Marktwirtschaft, Darmstadt 1999.
Ebd., S. 147.
Ebd.
Vgl. Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2, Frankfurt/M. 1992, S. 77.
Dennoch fehlten avantgardistische und subkulturelle Biotope nicht. Vgl.: Michael Rauhut, Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 — Politik und Alltag, Berlin 1993; Paul Kaiser/Claudia Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere. 1970–1989, Berlin 1997; Uta Grundmann/Klaus Michael/Susanna Seufert, Die Einübung der Außenspur. Die andere Kultur in Leipzig 1971–1990, Leipzig 1996.
Thomas Gensicke referiert psychometrische Untersuchungen zum Ost-West-Unterschied aus dem Jahr 1990/91, die das illustrieren. Vgl. T. Gensicke (Anm. 1).
In der bis dahin größten empirische Studie zu den ostdeutschen Arbeits- und Lebensbedingungen aus dem Jahre 1973 wurden Beschäftigte der Industrie gefragt, ob sie ihrer Meinung nach der Arbeiterklasse angehören. Über zwei Drittel der Ingenieure, über drei Viertel der technischen und Verwaltungsangestellten und der Leiter bejahten das. „Über die soziale Struktur der Arbeiterklasse. Ergebnisse einer repräsentativen soziologischen Untersuchung in der zentralgeleiteten sozialistischen Industrie der DDR. Teil I–III. Herausgegeben von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Institut für Marxistisch-Leninistische Soziologie, Berlin o.J.“, zit. nach: Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin 1999, S. 176f.
Subjektive Zuordnungen in Prozent: Unter- und Arbeiterschicht: Ost = 61, West = 25; Mittelschicht: Ost = 37, West = 62; Obere Mittelschicht und Oberschicht: Ost = 2, West = 13. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1992, Bonn 1992, S. 538 f.
Siehe Anm. 5.
Vgl. M. Vester (Anm. 5), S. 15.
Vgl. D. Müller/M. Hofmann/D. Rink (Anm. 2), S. 286f.
Thomas Gensicke, Mentalitätsentwicklungen im Osten Deutschlands seit den 70er Jahren. Vorstellung und Erläuterung von Ergebnissen einiger empirischer Untersuchungen in der DDR und in den neuen Bundesländern von 1977 bis 1991, Speyer 1992, S. 16–39.
Thomas Ahbe:,„50 Jahre DDR’— Identität und Renitenz. Konjunkturen und Krisen der Identifikation mit der DDR“, in: Monika Gibas/Rainer Gries/Barbara Jacoby/Doris Müller (Hrsg.), Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR, Leipzig 1999, S. 266 – 284.
Bernd Gehrke/Wolfgang Rüddenklau (Hrsg.), „…das war doch nicht unsere Alternative.“ DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999.
Als Otto Schily (damals Die Grünen) in einem Fernsehinterview um einen Kommentar zum Ausgang der Volkskammerwahl 1990 gebeten wurde, zog er wortlos und lächelnd eine Banane aus der Tasche und hielt sie in die Kamera. Die tageszeitung schmückte ihre Wahlstatistik mit einem abgewandelten DDR-Emblem, statt Hammer und Zirkel war im Ährenkranz eine Banane.
Peter Eisenmann: „Die Jugend in den neuen Bundesländern. Sozialistische Bewußt-seinsbildung und ihre Folgen“, Aus Politik und Zeitgeschichte B 27/1991, S. 3–10, hier: S. 8f.
Martin Greiffenhagen: „Die Bundesrepublik Deutschland 1945–1990. Reformen und Defizite der politischen Kultur“, Aus Politik und Zeitgeschichte B 1–2/91, S. 16–26, hier: S. 25.
Werner Weidenfeld/Karl Rudolf Korte: „Die pragmatischen Deutschen. Zum Staatsund Nationalbewußtsein in Deutschland“, Aus Politik und Zeitgeschichte B 32/91, S. 3–12, hier: S. 8.
Die These ist empirisch nicht haltbar. Vgl. Hendrik Berth/Wolf Wagner/Oliver Dek-ker/Elmar Brähler: „Und Propaganda wirkt doch!… ? Eine empirische Untersuchung zu Autoritarismus in Deutschland und zur Überprüfung von Theorien über die Entstehung von Einstellungsunterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen“, in: Hendrik Berth/Elmar Brähler (Hrsg.), Deutsch-deutsche Vergleiche. Psychologische Untersuchungen 10 Jahre nach dem Mauerfall, Berlin 1999, S. 141–159.
Empirisch lässt sich dagegen bei den Ostdeutschen ein höheres Problembewusstsein feststellen. Wolf Wagner, Kulturschock Deutschland. Der zweite Blick, Hamburg 1999, S. 116f.
Hier scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Vgl.: Elmar Brähler/Horst-Eberhard Richter: „Ost- und Westdeutsche — 10 Jahre nach der Wende“, in: H. Berth/E. Brähler (Anm. 28), S. 9–27.
Dieser Trend in der Konstruktion der Ostdeutschen hält an. Vgl. Thomas Ahbe: „Hohnarbeit und Kapital. Westdeutsche Bilder vom Osten“, Deutschland Archiv 1/2000, S. 84–89.
So Lutz Niethammer im Januar 1998 auf einer Konferenz an der TU Dresden.
Thomas Koch: „Wohin treibt der Osten? Parteien Wettbewerb und Deutungsmacht im vermeintlichen Niemandsland“, Deutschland Archiv 3/1999, S. 440–451.
Werner Früh/Uwe Hasenbrink/Friedrich Krotz/Christoph Kuhlmann/Hans-Jörg Stiehler, Ostdeutschland im Fernsehen. Bd. 5 der Schriftenreihe der Thüringer Landesmedienanstalt, München 1999.
Vgl. Thomas Ahbe:,„Ostalgie’als eine Laien-Praxis in Ostdeutschland. Ursachen, psychische und politische Dimensionen“, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR in Deutschland. Politische und historische Rückblicke, Berlin (im Druck); ders. (Anm. 22); ders.: „Ostalgie als Laienpraxis. Einordnung, Bedingungen, Funktion“, Berliner Debatte Initial 2/1999, S. 87–97.
Eva Wagner: „Ist soziale Ungleichheit gerecht? Wahrnehmungen und Bewertungen im Ost-West-Vergleich“, in: Walter Müller (Hrsg.), Soziale Ungleichheit. Neue Befunde zu Strukturen, Bewußtsein und Politik, Opladen 1997, S. 139–167.
Markus Gangl: „Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat in den alten und neuen Ländern“, in: ebd., S. 169–203, hier: S. 181.
T. Gensicke (Anm.15), S. 202f.
Jörg Machatzke: „Einstellungen zum Umfang staatlicher Verantwortung — Zum Staatsverständnis der Eliten im vereinten Deutschland“, in: Wilhelm Bürklin/Hilke Rebenstorf (Hrsg.), Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration, Opladen 1997, S. 321–350, hier: S. 336.
T. Gensicke (Anm. 15), S. 187. Eine Forsa-Umfrage ergab 1999, dass 61 Prozent der Ostdeutschen vom Zustand der Demokratie enttäuscht waren, während 60 Prozent der Westdeutschen damit zufrieden sind. Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 16.9.1999, S. 2.
Dass sich die „demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten im Vergleich zur DDR-Zeit“ verbessert haben, meinen in Bezug auf den Arbeitsplatz 10,2%, in Bezug auf die Kommune 23,5% und in Bezug auf die „große Politik“ nur 15,8% der Ostdeutschen. Jürgen Hofmann: „Ostdeutsches Wir-Bewußtsein: Altlast oder Transformationseffekt?“, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR — Politik und Ideologie als Instrument, Berlin 1999, S. 153–174, hier: S. 166 und 170.
Karl Schmitt: „Umbrüche im Osten. Die Wahllandschaft ist gespalten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.10.1999, S. 14.
Bemerkenswert ist auch, dass die Ostdeutschen mehrheitlich die „Beteiligung deutscher Soldaten an NATO-Militärschlägen“ verurteilten, während sich bei den Westdeutschen Gegner und Befürworter die Waage hielten. Vgl. Elmar Brähler/Horst-Eberhard Richter, Deutsche — 10 Jahre nach der Wende. Ergebnisse einer vergleichenden Ost-West-Untersuchung, Leipzig/Frankfurt a.M. 1999 (Ms.).
E. Brähler/H.-E. Richter (Anm. 30), S.21.
T. Gensicke (Anm. 15), S. 200f.
Elisabeth Noelle-Neumann: „Zauber der Freiheit. Über unbewußte Zusammenhänge in unserem Leben und in der Politik“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.5.1999, S. 12.
Vgl. T. Gensicke (Anm. 15), S. 201.
Insofern ist ein Repräsentationsdefizit in Bezug auf ostdeutsche Werte festzustellen. Vgl. dazu die Überlegungen zu „Ostalgie“ (Anm. 34 und 35).
Obwohl es keine Institutionen und kaum Medien gibt, die explizit die spezifische ostdeutsche Sicht präsentieren, bieten jedoch die Ost-Positionen in den regelmäßig veröffentlichten Meinungsumfragen Reibungspunkte für die Debatte.
Elmar Brähler/Hans-Jürgen Wirth (Hrsg.), Entsolidarisierung. Die Westdeutschen am Vorabend der Wende — und danach, Opladen 1995.
Ursula Piontkowski/Sonja Öhlschlegel, Ost und West im Gespräch. Zur Bedeutung sozialer Kategorisierungen in der Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen, Münster 1999, S. 85.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2000 Leske + Budrich, Opladen
About this chapter
Cite this chapter
Ahbe, T., Gibas, M. (2000). Der Osten im vereinigten Deutschland. In: Thierse, W., Spittmann-Rühle, I., Kuppe, J.L. (eds) Zehn Jahre Deutsche Einheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94958-5_2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-94958-5_2
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-322-94959-2
Online ISBN: 978-3-322-94958-5
eBook Packages: Springer Book Archive