Zusammenfassung
In den neueren Arbeiten zum Nationalismus wird immer wieder betont, daß der Nationalismus in Europa sich erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt habe und seit dieser Zeit die gesellschaftsfundierende Ideologie darstelle. Da sich in Deutschland jedoch de facto niemals ein Nationalstaat gebildet hat, wurde dieser “deutsche Sonderweg” der Forschung zum Problem. Den traditionellen Erklärungsansatz charakterisiert Oskar Reichmann in seinem Überblicksartikel folgendermaßen:
“Die Qualitäten, mittels derer man eine Einzelsprache zur Nationalsprache uminterpretiert, ergeben sich aus dem Ansatz eines im einzelnen verschieden gesehenen engen Zusammenhangs zwischen Sprache und einer Reihe anderer Größen. Den Kern solcher Zusammenhänge bildet der Bezug zwischen einer Sprache und der Gruppe ihrer Sprecher als dem sog. Sprachvolk. Um diesen Kern werden gleichsam in konzentrischen Ringen zunächst die Geschichts- und Kulturnation, in einem weiteren Schritt die Staatsnation mit dem von ihr organisierten Staatsgebiet, schließlich sogar ethnisch-rassische Gegebenheiten bzw. Vorstellungen von solchen Gegebenheiten angesetzt. Auffassungen dieser Art sind in der deutschen und in Teilen der europäischen Geschichte der Neuzeit so zentral, daß sie, auch wenn sie nicht explizit ausgesprochen sind, immer wieder als nicht bezweifelbare fixe Argumentationsvoraussetzungen behandelt werden. Dies sei anhand einiger Beispiele kurz belegt.”300
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Literatur
Reichmann 1978, 390
Reichmann 1978, 3393f.
Zusammenfassend vgl. Wittmann 1991; Engelsing 1968.
Vgl. Wehler 1989, 506–546.
Wehler 1989, 1, 512
Wehler 1989, 1, 521
Wehler 1989, 1, 525
Wehler 1989, 1, 526
Wehler 1989, 1, 525
Vgl. dazu Wehler 1889, 2, 174–241; Engelhard 1986; 1989.
J.Grimm 1879, 1, 300
Scherer 1878, X-XIII
Vgl. Scherer 1878, 27; 30.
“Die Geschichte unserer Sprache ist bis zu einem gewissen Grade die Geschichte unseres Volkes selbst. Die Sprache ist das treueste Abbild des Volksthums. Die Totalität aller geistigen Kräfte ist darin vertreten… Aber die Sprache ist noch mehr. Sie ist auch eine bildende Kraft des Staatslebens. Sie ist das hauptsächlichste Band, das eine Nation umschlingt und woran derselben ihre innere Einheit zum Bewußtsein kommt. Die Sprache gilt unseren Statistikern als das sicherste Kennzeichen der Nationalität.” (Scherer 1874, 45). Böckh spricht in diesem Zusammenhang von Muttersprache! Siehe Seite 165ff.
“Dieses politische Verdienst unserer Muttersprache, ihre bindende, einigende Kraft ist der Gegenstand, dem ich hier einige Blätter widmen will.” (Scherer 1874, 46)
Vgl. Dann 1987; Wehler 1989, 2.
Besch 1979, 339
Vgl. Schuppenhauer 1980.
Burgwardt 1857, 247
Erwähnt sei jedoch noch, daß dieses Klassikverständnis durch wirtschaftliche Entwicklungen auf dem Buchmarkt verstärkt wurde, vor allem durch das Erlöschen von Verlagsrechten im Jahre 1867. In diesem Jahr erloschen die Verlagsrechte an den Werken der Autoren, die vor 1837 gestorben waren. Das Jahr 1867 war das “Klassikerjahr”, von dem ab “Klassikerausgaben”, Ausgaben von Werken, deren Verlagsrechte erloschen waren, das Verständnis von “Klassikern” mitprägten. Vgl. Wittmannn 1991, 247ff.
Colshom 1850, V
Colshorn 1850, VII
Böckh 1866, 261
Böckh 1866, 261
Böckh 1866, 264
Böckh 1866, 264
Böckh 1866, 265
Böckh 1866, 304f.
Kloss 1952, 17
Kloss 1952, 21
Daneben trägt Kloss auch bereits dem Sprachbewußtsein der Sprecher Rechnung: “Herrscht bei den Sprechern eines Idioms einmütig die Überzeugung, was man da gebrauche, stelle eine selbständige Sprache dar und nicht bloß einen Seitenzweig einer anderen Sprache, so werden durch eine solche Haltung manche Unzulänglichkeiten des äußeren Entwicklungsstandes der Sprache ausgeglichen.” (Kloss 1952, 30f.)
Kloss 1952, 206ff!
Kloss 1952, 207f.
Zitiert nach Schmidt-Rohr ZfDK 1934, 329.
Die Kontinuität des Klossschen politischen Denkens läßt sich an einigen Unterscheidungen verfolgen, die Kloss 1974 vornahm, aber genauso gegenwärtige Distinktionen darstellen können: “Was nun die innerhalb des deutschen Sprachgebiets lebenden Gruppen nichtdeutscher Muttersprache angeht, so haben wir zwei Kategorien zu unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir altansässige Gruppen… auf der anderen Seite haben wir verhältnismäßig junge Zuwanderergruppen, bei denen sich drei bis vier Unterkategorien unterscheiden lassen: a) Ältere Zuwanderergruppen, deren Anfänge bis ins späte 19. Jahrhundert zurtückreichen, wie die Ruhrpolen und die Wiener Tschechen. b) Aus politischen Gründen nach dem Ersten, besonders aber seit dem Zweiten Weltkrieg zugewanderte Gruppen, darunter als letzte die madjarischen und tschechischen Flüchtlinge. c) Die Scharen der in den letzten Jahrzehnten aus rein wirtschaftlichen Gründen ins Land geströmten Fremdarbeiter, die, soweit sie nur auf Zeit kommen, häufig Gastarbeiter genannt werden, und deren Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung außer in der BRD, auch im deutschen Sprachraum der Schweiz und in Luxemburg erheblich ist. d) In einem sehr weiten Wortsinne können zu den Zuwanderern auch jene Ausländergruppen gerechnet werden, für die man früher in Deutschland den Ausdruck ‘Fremdenniederlassungen’ gebrauchte. Es handelt sich hierbei in erster Linie um Ausländer, die auf längere, meist unbefristete Zeit ins Land gekommen sind, um eine Tätigkeit im Wirtschaftsleben auszuüben, häufig eine solche, die eine Brücke zur Wirtschaft ihres Heimatlandes schlagen soll. Charakteristisch für die Angehörigen dieser Gruppe ist, daß sie gewöhnlich in der Hauptsache der Ober- und Mittelschicht angehören und in der Regel nicht daran denken, die Staatsbürgerschaft des Wohnlandes zu erwerben.” (1974, 3) Hier ist bereits die Wortwahl verräterisch, besonders die sprachliche Charakterisierung der Gruppen c) und d). Von “ins Land strömen” vs. “ins Land kommen”, “niederlassen”, von “rein wirtschaftliche Gründe” vs. “Brücke zur Wirtschaft ihres Heimatlandes schlagen” bis zu “erwerbstätige Bevölkerung” vs. “Ober- und Mittelschicht” reichen die “wissenschaftlichen” Unterscheidungen.
Kloss 1974, 1
Kloss 1974, 2
Kloss 1974, 26
Einen kleinen Ausschnitt aus dieser Publikationsflut bietet das Literaturverzeichnis von Ameri 1991. Vgl. auch Dieckmann 1989.
Finck 1899, 1
Finck 1899, 9
Finck 1899, 103
Heß 1892, 90
Uhl 1906, 76
Mauthner 1920, 9
Vgl. Ahlzweig 1989, 44–46.
Vgl. auch Januschek/Maas 1980.
von der Gabelentz 1891, 62
von der Gabelentz 1891, 65–77; 293ff.
Heyne 1906, 2, 900
Campe 1809 s. v.
Derartige Sammlungen sind später auch unabhängig von der Organisation des ADSV, wenngleich durch diesen angeregt, publiziert worden und haben bis heute offensichtlich einen Markt, wie schon die häufigen Wiederauflagen von Hofmannsthals “Wert und Ehre deutscher Sprache” beweisen. Diese Anthologie erschien m. W. zuerst 1927 in München und hat eine Vielzahl von Lizenzausgaben, Neuauflagen und sogar eine Taschenbuchausgabe erfahren. Auf die Sammlungen aus der NS-Zeit sei hier nur pauschal verwiesen.
Pietsch 1915, IVf.
Kluge 1897, 21 = Kluge 1904, 24
Kluge 1897, 99 und Anm. 2 = Kluge 1904, 113 und Anm. 1
Vgl. Kluge 1920, III.
Kluge 1920, 322f.
Kluge 1918, 283
Kluge 1918, 283
Kluge 1918, 286
Kluge 1918, 284f.
Hier spricht sich nicht einfach ein fachlicher Gegensatz zwischen Germanisten und Romanisten aus, obwohl der gleiche Gegensatz noch einmal zwischen dem Germanisten Weisgerber und dem Romanisten Spitzer zu behandeln ist. Vossler selbst nimmt 1948, nach dem nächsten verlorenen Krieg, eine andere Standortbestimmung vor, und der Romanist Karl Heisig übernimmt 1954 deutsch-nationalistische Positionen Weisgerbers. Siehe dazu unten.
Vossler 1918, 3
Vossler 1918, 4
Vossler 1918, 5
Vossler 1918, 12f.
Vossler 1918, 14
Behaghel 1929, 15
Im zweiten Kapitel seiner Sprachgeschichte, “Principien”, formuliert Scherer einige Ansichten, die Paul dann systematisiert. So behauptet er: “Die Principienfragen der Linguistik bieten viele Berührungspunkte mit den historischen Disciplinen der Naturwissenschaft, wenn ich diesen Namen für die Geologie und für die Descendenzlehre gebrauchen darf.” (Scherer 1878, 16) Wenig später stellt er folgenden methodischen Grundsatz auf: “Der einfache methodische Grundsatz, das Nahe, Erreichbare möglichst genau zu beobachten und daran den ursächlichen Zusammenhang zu studieren, um ihn in die Vergangenheit zu projiciren und so deren Ereignisse zu begreifen, ist noch lange nicht in seiner Wichtigkeit erkannt.” (Scherer 1878, 19) Diese Arbeiten drückt Scherer zusammenfassend mit den Worten Whitneys aus: “Bei noch so grossem Wechsel der äusseren Verhältnisse müssen sich doch in allen Phasen der Sprachgeschichte die Grundzüge und Hauptgesetze der Entwicklung sprachlicher Organismen gleich geblieben sein; und nur dadurch kann man das Dunkel einer unbekannten vorgeschichtlichen Urzeit aufhellen, dass man die lebenden und die in Denkmälern überlieferten todten Sprachen durchforscht und die auf diesem Wege abstrahirten Gesetze auf die frühesten Perioden des Sprachlebens anwendet.” ‘Gleiche Ursachen, gleiche Wirkungen’ ist, wie wir schon mehrfach bestätigt gefunden haben, ein Axiom der Sprachwissenschaft so gut wie der Naturwissenschaften, und wer sich das Wesen und die Entstehung der Sprachen in der alten Zeit ganz anders vorstellen zu sollen glaubt als die der neueren Sprachtypen und Redeformen, der setzt sich der Vergleichung mit einem Geologen aus, der für junge Formationen wie für Kalk und Kiesel die neptunische Erklärung zulassen, aber dagegen dien Abreden stellen wollte, daß das Wasser irgend etwas mit der Hervorbringung alter Sandsteine und Conglomerate zu thun habe!” (Scherer 1878, 22) Wenn diese Prinzipien auch der Spekulation einen Riegel vorschieben und das Ausgehen von Fakten für eine Sprachgeschichte selbstverständlich ist, macht diese Auffassung ein Begreifen von Sprachgeschichte als Entwicklungsprozeß, als Teil der Gesellschaftsgeschichte, unmöglich.
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Ahlzweig, C. (1994). Muttersprache und Nationalismus. In: Muttersprache — Vaterland. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94137-4_7
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