Zusammenfassung
Macht man die Entscheidungsgesellschaft zum Untersuchungsgegenstand, gehört an den Anfang eine Klärung dessen, was eigentlich eine Entscheidung ist. Soviel ist bereits klar: Entscheidungen sind eine besondere Form des Handelns. Worin diese Besonderheit liegt, wird im ersten Abschnitt dieses Kapitels durch einen Vergleich von Entscheidungen mit anderen Formen des Handelns -traditionalem, routineförmigem und emotionalem Handeln — herausgearbeitet. Entscheidungshandeln reflektiert die eigene Kontin-genz. Das wiederum erlaubt und legt eine Orientierung von Entscheidungshandeln an Rationalität nahe, wie im zweiten Abschnitt erläutert wird. Aus diesem Rationalitätsstreben des Entscheidungshandelns ergibt sich allerdings, wie der dritte Abschnitt klarmacht, dass es eine aufwendige und entsprechend seltene Form des Handelns ist. Kein Akteur vermag mehr als nur einen kleinen Teil seines tagtäglichen Handelns entscheidungsförmig zu vollziehen.
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Literatur
Genaueres zum spezifisch modernen Kontingenzverständnis bei Makropou-los(1997).
Ein Akteur kann zwar nacheinander verschiedene Situationsdeutungen zugrunde legen und entsprechend unterschiedliche Reaktionen zeigen. In einem bestimmten Moment muss er sich aber festlegen. Eine Mischung von Deutungselementen und eine Kombination von Handlungsalternativen ist zwar eine vielseitigere Festlegung, bleibt gleichwohl aber nur eine von vielen Möglichkeiten.
Dieses Handeln grenzt manchmal an bloßes Verhalten. Ausführlicher zum „emotional man“siehe den Überblick bei Schimank (2000: 108–121). Es sei betont, dass hier nur der „pure emotional man“angesprochen ist.
Nicht betrachtet wird hier jenes emotionale Handeln, das von längerfristigen Gefühlen — z.B. Mitgefühl für eine andere Person — getragen wird und sich in sorgfältig durchdachten Handlungsketten wie etwa ineinandergreifenden Unterstützungsmaßnahmen äußert.
Siehe hierzu auch die Begriffsbestimmung bei Max Weber (1922: 12).
Siehe March/Simon (1958: 141–150) zu „performance programs“.
Dies können auch individuelle Routinen sein. So mag sich beispielsweise jemand, der umgezogen ist, anfangs die verschiedenen Alternativen, die ihm nun für den Weg zur Arbeit zur Verfügung stehen, bewusst vor Augen geführt und sich dann aus gutem Grund für eine davon entschieden haben. Dieser Routine folgt niemand außer ihm selbst.
Bei Hartmut Esser (2001: 239–258) ist dies der Modus der „automatischspontanen Reaktion“im Unterschied zur „reflexiv-kalkulierenden Überlegung“. Ich habe an anderer Stelle eine ähnliche Unterscheidung von „Routine“auf der einen, „Entscheidung“auf der anderen Seite getroffen (Schi-mank2000: 148–150).
Diese Handlungsform ist damit, was im Kapitel 2 noch näher zur Sprache kommen wird, ein prominentes Ingredienz der spezifisch modernen „actor-hood“(Meyer/Jepperson 2000).
Zu diesem Merkmal von Entscheidungen siehe auch die weit ausholenden Reflexionen von Shackle (1979), an die Luhmann (2000b: 140, 166) anknüpft.
Siehe die analoge Unterscheidung von „costs of making decisions“und „costs of errors“bei Sunstein/Ullmann-Margalit (1999: 11).
James March (1994: 6) spricht diesbezüglich vom „post-decisional surprise, sometimes pleasant, sometimes unpleasant. “Das verharmlost die Sache in zweierlei Hinsichten. Zum einen überwiegen bei vielen Entscheidungen die unliebsamen Überraschungen. Zum anderen ist dieser Tatbestand für den Akteur kaum eine Überraschung; er rechnet vielmehr von Anfang an damit, dass Etliches schief laufen wird. Er zittert und bangt gleichsam, sobald er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hat.
Um einen Songtitel Frank Zappas zu zitieren, wobei dort ganz andere Dinge angesprochen sind.
Natürlich wählen die anderen drei Handlungsformen, wie dargelegt, keineswegs irgendeine Alternative, sondern ebenfalls eine ihrem Kontingenz spezifizierenden Prinzip entsprechende. Als „wahllose“Wahl erscheint dies nur, legt man daran den Maßstab der Rationalität an.
Dabei wird an dieser Stelle ein weiter Informationsbegriff benutzt, der nicht nur kognitive, sondern auch evaluative und normative „differences that make a difference“— um Gregory Bateson (1970: 582) Definition zu zitieren — umfasst.
Wie sich allerdings im nächsten Abschnitt zeigen wird, kann man deshalb nicht sagen, dass Entscheidungen per se für den betreffenden Akteur funktional und die anderen drei Handlungsformen dysfunktional sind. Man darf nämlich nicht nur die je einzelne Handlung sehen, sondern muss gleichsam das gesamte Handlungsportfolio eines Akteurs in den Blick nehmen, um Funktionalität und Dysfunktionalität einschätzen zu können.
Siehe dazu weiterhin auch March (1994: 222–225).
Eine ganz andere Frage, die hier völlig aus dem Blick bleibt, ist die nach der Ergebnisrationalität eines Handelns für ein größeres Kollektiv von Akteuren — etwa eine Gruppe oder eine soziale Bewegung — oder für ein bestimmtes gesellschaftliches Teilsystem wie etwa die Wirtschaft oder die Politik. Letzterer Aspekt wird von Luhmann (1968a) mit dem Begriff der „Systemrationalität“belegt.
Damit stellt prozedurale Rationalität eine Art „Legitimation durch Verfahren“(Luhmann 1969a) dar.
Siehe auch, auf der Ebene von Unternehmen als Organisationen, die Semantik der „Rationalisierung“und die dazugehörigen Praktiken vom Taylorismus bis zum heutigen „total quality management“.
Ohne dass damit bestritten werden soll, dass auch Politik Effizienzgesichtspunkten eine große Bedeutung beimisst.
Ein Akteur ist eben nur zeitweise ein Homo Oeconomicus, zu anderen Zeiten hingegen ein Homo Sociologicus, ein Identitätsbehaupter oder ein „emotional man“. Zu diesen Akteurmodellen, die Modalitäten des Handlungsantriebs einfangen, siehe Schimank (2000: 37–167).
Nicht alle, aber viele der vom „interpretativen Paradigma“herausgearbeiteten Aspekte des „role making“könnten als entscheidungsförmige Normkonformität rubriziert werden — siehe nur den knappen Überblick bei Schimank (2000: 55–67). Auch James March (1994: 57–102) begreift „rule following“als Handlungsmodalität, die immer wieder Entscheidungen erfordert.
In der deutschen Diskussion gab es in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts insbesondere drei aufeinander Bezug nehmende Vertreter der These, dass Normen rational begründbar sind: Die „Erlanger Schule“(Kamlah/Lorenzen 1973; Lorenzen/Schwemmer 1974), Karl-Otto Apel (1973) und Jürgen Habermas (1973a: 140–152; 1973b).
Insoweit hat die wirtschaftswissenschaftliche These, dass es sich um Geschmacksvorlieben handelt, Recht. Aber streiten lässt sich über diese eben doch — und zwar mit beiderseitigem Gewinn.
In der philosophischen Diskussion entspricht dem wohl am meisten die Position Richard Rortys (1989).
Im Weiteren geht es nicht generell um das Für und Wider dieser Position, sondern lediglich um die Verallgemeinerung eines ihrer Kerngedanken.
Siehe auch die am umgangssprachlichen Verständnis orientierte philosophische Definition bei Stefan Gosepath (1992: 209): „Kann der Handelnde begründen, warum er sich entschieden hat, das zu tun, was er tut, so nennen wir seine Handlung rational.“
Zur Unterscheidung von pauschalem und spezifischem Skeptizismus siehe Rescher (1980).
Streng genommen lassen sich zwei Stufen des spezifischen Skeptizismus unterscheiden: begründete Kritik ohne bessere Alternative und mit besserer Alternative. Letzteres hängt die Messlatte in Sachen Rationalität noch höher.
Das erinnert — in einem ganz anderen Zusammenhang — an den „grounded theory approach“in der qualitativen Sozialforschung und dessen Kritik an standardisierten Methoden der Datenerhebung (Glaser/Strauss 1968). Das Hauptargument gegenüber standardisierten Erhebungsverfahren besteht darin, dass diese nur herausfinden können, was sie prinzipiell schon wissen. Empirie läuft dort auf die Bestätigung oder Widerlegung einer vorher formulierten Hypothese hinaus. Für das wirklich Neue sind diese Verfahren demzufolge nicht offen. Entscheidungen fassen hingegen, wie dargestellt, die jeweilige Situation als etwas genuin Neues auf.
Es sind freilich Situationen denkbar, in denen dieses Begrüßungsritual prob-lematisiert werden dürfte. Wenn sich beispielsweise herausstellt, dass sich ein neues gefährliches Virus vorzugsweise durch Berühren der Handflächen einer infizierten Person weiterverbreitet, dürfte man schnell auf ein anderes Begrüßungsritual umsteigen.
Und nicht etwa umgekehrt, wie das Alltagswissen meint.
Es sei denn, man rechtfertigt sich durch Sachzwänge, die einem keine andere Wahl lassen. Genau das trifft aber bei Entscheidungen nicht zu.
Jedenfalls situativ! Dass man später z.B. für die Folgen eines Wutanfalls zur Rechenschaft gezogen wird, steht auf einem anderen Blatt.
Das „Prisoner’s dilemma“der Spieltheorie ist ein bekanntes Beispiel für solch eine Situation (Holler/Illing 1991: 1–9).
Manchmal wird diesbezüglich von „Routineentscheidungen“gesprochen (Kirsch 1971a: 142), was aber ein Widerspruch in sich ist.
March/Simon (1958: 185) sehen — auf Planung als Spezialfall des Entscheiden bezogen — ein „‘Gresham’s Law’ of planning: Daily routine drives out planning.“Dabei unterstellen sie, dass Akteure zu bequem sind, die ihnen jederzeit offen stehende und eigentlich wünschenswerte Möglichkeit des entscheidungsförmigen Handelns zu nutzen, und stattdessen auf Routinen und traditionales Handeln zurückfallen.
Hartmut Esser (2001: 205–224, 239–258) sieht hingegen umgekehrt, dass solche Situationen, in denen die Akteure un willkürlich — neuro-physiologisch reguliert und damit nicht willentlich beeinflussbar — einen perfekten Match von situativ wahrgenommenen Symbolen und bereitstehendem Deutungsmuster erleben, also sogleich wissen, was sie zu tun haben, gar keine Chance des Entscheidens mehr lassen. Das Handlungsprogramm läuft dann mit quasi instinkthafter Determiniertheit ab. Entscheidungshandeln wird überhaupt nur dann ausgelöst, wenn größere Störungen der Wiedererkennung einer Situation eintreten. Wo March/Simon also prinzipiell noch Chancen sähen, die Entscheidungsfreude der Akteure anzuspornen, ist für Esser unterhalb der Bewusstseinsschwelle schon längst alles gelaufen. Bei aller Gegensätzlichkeit laufen beide Überlegungen darauf hinaus, dass nur selten entschieden wird.
Dies gilt im Übrigen auch in der Hinsicht, dass komplexe Entscheidungsvorgänge, wie sich noch zeigen wird, erhebliche routineförmige, traditionale und auch emotionale Ingredienzien aufweisen.
Dies ist natürlich wieder eine Betrachtung auf einer Meta-Ebene, auf der eine effizienzsteigernde Entscheidung — etwa die Umstellung auf eine neue Produktionstechnologie in einem Unternehmens — als Handlungsform nicht effizienter, sondern effektiver als z.B. das routineformige Festhalten an der bisherigen Produktionstechnologie ist. Eine analoge Argumentation findet sich bei Arnold Gehlen (1957: 104–107) zur „Schematisierung des Verhaltens“: Weil Institutionen vieles Handeln vom Reflexionsaufwand entlasten, wird anderem Handeln ein Spielraum für Reflexion und Subjektivität eröffnet.
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Schimank, U. (2005). Entscheidungshandeln. In: Schimank, U. (eds) Die Entscheidungsgesellschaft. Hagener Studientexte zur Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80606-2_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-80606-2_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-14332-3
Online ISBN: 978-3-322-80606-2
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