1 Einleitung

Der Euro ist die Währung von mittlerweile 19 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und daher wesentlicher Gegenstand des deutschen und europäischen Währungsrechts. Albrecht Weber versteht sich sicher nicht nur als Währungsrechtler; dazu sind seine Interessen zu vielfältig. Während seiner Zeit (1974–1980) am Würzburger Lehrstuhl unseres gemeinsamen akademischen Lehrers Hugo J. Hahn kam er aber mit dem Währungsrecht in Berührung und hat es seither durch Publikationen begleitet. Erwähnt seien nur der Aufsatz „Die zweite Satzungsnovelle des Internationalen Währungsfonds und das Völkerrecht“ in der 1977 erschienenen Festschrift für F.A. Mann sowie sein Beitrag „Die Währungsunion – Modell für ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten?“ in der 1997 von ihm federführend herausgegebenen Festschrift für Hugo J. Hahn.

Albrecht Weber war 1980–1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda. Später befasste er sich als Autor mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so auch mit der Rechtsprechung zum Vertrag von Maastricht, der die Regelungen zur Währungsunion in den EG‐Vertrag einfügte.Footnote 1 In den letzten Jahren meldet sich der Jubilar wieder häufiger zu währungsrechtlichen Themen zu Wort.Footnote 2 Mit Kritik und spürbarer Sorge analysiert er die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Krise im Euro‐Währungsraum, die seit 2010 durch ihre dramatische Zuspitzung und insbesondere den Beinahe‐Staatsbankrott von Griechenland in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte.

Dieser Beitrag nimmt diese Interessen auf und skizziert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Eurokrise. Ganz unvoreingenommen kann er nicht sein, da der Verfasser in den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Prozessbevollmächtigter der Bundesregierung war. Argumente von Beteiligten müssen allerdings nicht zwingend die schlechteren sein. Darüber hinaus geht es hier nicht um eine eingehende Besprechung und Bewertung dieser Judikate, sondern nur um Hinweise auf wichtige Einzelaspekte. Diese Gerichtsentscheidungen wird man auch als Elemente auf dem Weg zu einem gemeinsamen juristischen Denken und Argumentieren in Europa verstehen dürfen.

2 Finanzkrise – Bankenkrise – Schuldenkrise – Eurokrise

Wann fing die Krise an und wie nennt man sie? Beide Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Vor dem Beginn der Europäischen Wirtschafts‐ und Währungsunion gab es eine heftige Diskussion um Sinn oder Unsinn einer gemeinsamen Währung und auch darüber, welche Mitgliedstaaten der Währungsunion angehören sollten. Es war wohl mehr ein politisches als ein ökonomisch fundiertes Projekt, eine einheitliche Währung für Europa anzustreben und dabei Mitgliedstaaten in einer Schicksalsgemeinschaft zu vereinen, deren Mentalität und wirtschaftliches Handeln sehr unterschiedlich waren und noch sind.Footnote 3 Bei der Auswahl der teilnehmenden Mitgliedstaaten war man außerdem großzügiger, als es nach damaligem Recht erlaubt war.Footnote 4 Einen optimalen WährungsraumFootnote 5 bildet die Eurozone jedenfalls seit ihrem Entstehen wohl kaum.

Dass die Einführung der einheitlichen Währung erfolgte, ohne zugleich die Zuständigkeit für die allgemeine Finanz‐ und Wirtschaftspolitik auf die zentrale Ebene zu übertragenFootnote 6, mag ebenfalls zu einer gewissen Krisenanfälligkeit beigetragen haben. Die eingebauten Sicherungen wirken nicht zuverlässig. Artikel 126 AEUV schreibt zwar Haushaltsdisziplin vor, hat aber aufgrund von Umsetzungsmängeln nicht verhindern können, dass einige Mitgliedstaaten (immer noch) viel zu hoch verschuldet sind. Art. 125 AEUV, die sogenannte no‐Bail‐out‐Regel, die ein Eintreten der Mitgliedstaaten für fremde Schulden verbietet, erzielt ebenfalls nicht den erhofften Effekt. Das liegt aber weniger an der angeblichen Verletzung dieser Vorschrift durch die Maßnahmen zur Krisenbewältigung. Vielmehr fehlte es diesem Haftungsverbot schon von vornherein an der erforderlichen Glaubwürdigkeit.Footnote 7 Die Kapitalmärkte behandelten deshalb alle Mitgliedstaaten zu lange gleich. Erst als im Zuge der Finanzkrise Zweifel am vorher trotz des Art. 125 AEUV unterstellten Bail‐out aufkamen, gerieten einige Mitgliedstaaten, allen voran Griechenland, in akute Refinanzierungsprobleme.

Die Krise kam aus den Vereinigten Staaten und ging von verbrieften Immobilienkrediten aus.Footnote 8 Sie brachte Banken und Staaten ins Wanken. Die Begriffe Banken‐, Finanz‐ und Staatsschuldenkrisen erscheinen daher allesamt berechtigt.Footnote 9 In gewisser Weise geriet durch die krisenhafte Zuspitzung der Lage aber auch die gemeinsame Währung in Gefahr. Ob es eine akute Gefahr des Auseinanderbrechens der Eurozone gab oder ob nur einzelne Staaten in die Nähe eines Austritts aus ihr gerieten, wird man diskutieren können. Jedenfalls blieben die Ereignisse nicht ohne Auswirkungen auf die Währungsunion. Daher erscheint der Begriff „Eurokrise“ als Kurzbezeichnung der komplexen Situation durchaus angemessen. Vorüber ist sie nicht, diese Krise.Footnote 10 Daher haben die bisherigen Maßnahmen zu ihrer Bewältigung ihre Bedeutung meist noch nicht verloren. Aus demselben Grund wirkt auch die Rechtsprechung, die sich mit diesen Maßnahmen zu beschäftigen hatte, in die Zukunft.

3 Judikate zur Eurokrise

3.1 Überblick

Das Bundesverfassungsgericht hatte seit 2010 mehrfach über Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Eurokrise und Maßnahmen zu ihrer Bewältigung zu entscheiden. Einige Beschwerdeführer ließen es sich nicht nehmen, ihre Verfassungsbeschwerden und Anträge auf Eilrechtsschutz Anfang Mai 2010 sofort nach den ersten Maßnahmen und unter Pressebegleitung persönlich in Karlsruhe abzugeben.Footnote 11 Seither gab es weitere Verfassungsbeschwerden und auch Organstreitanträge. Im Einzelnen entschied das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 7.9.2011 über Verfassungsbeschwerden gegen die Hilfen für Griechenland.Footnote 12 Am 28.2.2012 erließ es sein Urteil in einem Organstreitverfahren, in dem die Ausgestaltung der Beteiligungsrechte des Bundestages beanstandet worden war.Footnote 13 Über einen Organstreitantrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im Zusammenhang mit der Unterrichtungspflicht der Bundesregierung aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG urteilte das Bundesverfassungsgericht am 19.6.2012.Footnote 14 Am 12.9.2012 erging die Entscheidung über Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz, die sich insbesondere gegen völkerrechtliche Verträge (ESM‐Vertrag, Fiskalvertrag) richteten.Footnote 15 Das Hauptsacheurteil über die zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerden und einen Organstreitantrag erließ das Bundesverfassungsgericht am 18.3.2014.Footnote 16

Auch der EuGH hat sich bereits mit Aspekten der Eurokrise beschäftigt. In der Rechtssache Pringle Footnote 17 urteilte er am 27.11.2012 über die unionsrechtliche Zulässigkeit des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Nicht Gegenstand dieses Beitrags sind noch laufende Verfahren, insbesondere jenes, in dem es um die Rechtmäßigkeit des von der Europäischen Zentralbank (EZB) angekündigten OMT‐Programms zum Ankauf von Staatsanleihen geht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich insoweit mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gewandt.Footnote 18 Der Gerichtshof hat darüber am 14.10.2014 mündlich verhandelt, bis zum Abschluss dieses Beitrags im Herbst 2014 aber noch keine Entscheidung gefällt.

3.2 Das Urteil vom 7.9.2011

3.2.1 Hilfen für Griechenland

Gegenstand des ersten Urteils sind Maßnahmen zur Bewältigung der im Mai 2010 akut gewordenen Krise. Griechenland verlor die Möglichkeit, Kredite an den Finanzmärkten aufzunehmen und stand vor dem Staatsbankrott. Daher beschlossen die Mitgliedstaaten der Eurozone, Griechenland durch koordinierte bilaterale Kredite im Gesamtumfang von 80 Mrd. € zu helfen.Footnote 19 Weitere 30 Mrd. € sagte der Internationale Währungsfonds (IWF) zu. In Deutschland erfolgt die Umsetzung der eingegangenen Verpflichtungen durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW); deren Absicherung übernahm der Bund. Dazu ermächtigte das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen RepublikFootnote 20 den Bund, Gewährleistungen für die Kredite der KfW an Griechenland in Höhe von bis zu 22,4 Mrd. € zu übernehmen.Footnote 21

3.2.2 Der Rettungsschirm

Unmittelbar danach drohte weiteres Ungemach. Man befürchtete einen Dominoeffekt, der andere Mitgliedstaaten mitreißen könnte. Es kam darauf an, während eines Wochenendes und vor Öffnung der Märkte zu Wochenbeginn das drohende Chaos abzuwenden. Ob die schlimmen Folgen, die sich die Akteure damals für den Fall des Untätigbleibens wohl u. a. vom Präsidenten der EZB schildern ließen, tatsächlich eingetreten wären, lässt sich nicht überprüfen. Der Handlungsdruck war aber enorm. Daraufhin entstand der sogenannte Rettungsschirm. Mehrere Maßnahmen sollten gebündelt 750 Mrd. € an Hilfskrediten verfügbar machen.

Über den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM)Footnote 22 steuerte die EU 60 Mrd. € bei, 250 Mrd. € kamen vom IWF. Den größten Anteil (440 Mrd. €) stellten erneut die Mitgliedstaaten mit Euro‐Währung zur Verfügung. Für die Vergabe der Hilfskredite gründeten sie die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) in Form einer Aktiengesellschaft.Footnote 23 Mit dem StabilisierungsmechanismusgesetzFootnote 24 ermächtigte der deutsche Gesetzgeber das Bundesfinanzministerium, Gewährleistungen in einer Höhe von bis zu 123 Mrd. € für Kredite zu übernehmen, durch die sich die EFSF die nötigen Mittel verschaffen wollte.

3.2.3 Materielle Aufladung des Art. 38 GG

Die sowohl gegen deutsche und europäische Rechtsakte sowie gegen weitere Maßnahmen der Krisenbewältigung gerichteten Verfassungsbeschwerden stützten sich auf Art. 38 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG.Footnote 25 Das Bundesverfassungsgericht beurteilte die Verfassungsbeschwerden gegen die beiden deutschen Gesetze als zulässig, „soweit sie auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG eine Verletzung der dauerhaften Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages rügen“.Footnote 26

Insoweit knüpft das Bundesverfassungsgericht an seine im Urteil vom 12.10.1993 zum Vertrag von Maastricht entwickelte These an, dass Art. 38 GG „es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus[schließe], die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird.“Footnote 27 Diese „Erfindung“ des damaligen Berichterstatters Paul Kirchhof aus dem Jahr 1993 hat das Bundesverfassungsgericht auch im Urteil vom 7.9.2011 bestätigt und gegen Kritik verteidigt.Footnote 28 Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG, der seinem Wortlaut nach nur vorschreibt, dass die „Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ werden, soll es zugleich ausschließen, „die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflussnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages auf die europäische Ebene so zu entleeren, dass das Demokratieprinzip verletzt wird.“Footnote 29 Grundsätzlich soll demnach jedem Einzelnen ein entsprechendes grundrechtsgleiches Recht zustehen, dessen Verletzung er im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann.

Eine umfassende Kritik dieses Konzepts ist hier nicht zu leisten. Schon sein Ergebnis lässt aber Zweifel entstehen. Indem jeder Wahlberechtigte über die Verfassungsbeschwerde allein unter Berufung auf sein in der beschriebenen Weise materiell aufgeladenes Wahlrecht und daher ohne Betroffenheit in sonstigen Grundrechten eine Kontrolle deutscher Gesetze veranlassen kann, die zu Kompetenzverschiebungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union führen, verschwimmt die Grenze zwischen Individualrechtsschutz und Normenkontrolle.Footnote 30 Da sich bei umstrittenen Maßnahmen stets ein Beschwerdeführer finden wird, schafft sich das Bundesverfassungsgericht zugleich eine Art Selbstbefassungsrecht in Angelegenheiten der Europäischen Union.Footnote 31

Dieses Vorgehen kann man als Hinweis auf eine sehr tiefreichende Skepsis gegenüber den europäischen Eliten deuten, die den Prozess der europäischen Integration verantworten, sich dabei vielleicht zu einig sind und nicht genügend Rücksicht auf die Bürger und die nationalen Verfassungsstrukturen nehmen. Es mag auch durchaus eine gewisse befriedende Wirkung haben, wenn sich jedermann wegen Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Dennoch bestehen erhebliche Bedenken, ob eine so gravierende Fortentwicklung des Art. 38 Abs. 1 GG und des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzsystems ohne Mitwirkung des verfassungsändernden Gesetzgebers zulässig sein kann.

Diese Bedenken werden stärker, je weiter das Bundesverfassungsgericht seine auf Art. 38 Abs. 1 GG gestützte Rechtsprechung ausdehnt. Denn es sind nicht nur deutsche Gesetze, die Gegenstand von allein auf das Wahlrecht gestützten Verfassungsbeschwerden sind. Stattdessen rücken im Zusammenhang mit den Stichworten „Ultra‐vires‐Kontrolle“ und „Identitätskontrolle“ zunehmend auch Maßnahmen der Europäischen Union ins Blickfeld.Footnote 32

3.2.4 Haushaltspolitische Gesamtverantwortung

Mit dem Urteil vom 7.9.2011Footnote 33 hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung in eine andere Richtung erweitert. Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes bedürfen die Aufnahme von Krediten oder die Übernahme von Gewährleistungen „einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz“ (Art. 115 Abs. 1 GG). Solche Gesetze lagen vor; gegen sie richteten sich die Verfassungsbeschwerden. Das Bundesverfassungsgericht stellte nun aber auf die „haushaltspolitische Gesamtverantwortung“ des Bundestages ab. Diese Budgetverantwortung dürfe er „nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können, seien es Ausgaben oder Einnahmeausfälle.“Footnote 34 Das Wahlrecht sei „verletzt, wenn sich der Deutsche Bundestag seiner parlamentarischen Haushaltsverantwortung dadurch entäußert, dass er oder zukünftige Bundestage das Budgetrecht nicht mehr in eigener Verantwortung ausüben können.“Footnote 35

Im Ergebnis sah das Bundesverfassungsgericht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung, die man als besondere Ausprägung der schon lange in der Rechtsprechung bekannten IntegrationsverantwortungFootnote 36 verstehen kann, und mit ihr das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG aber nicht als verletzt an. Deshalb wies es die Verfassungsbeschwerden insgesamt als unbegründet zurück. Trotz der hohen Summen, für die der Bund Gewährleistungen übernehmen sollte, sei eine Überschreitung der Belastungsgrenze nämlich nicht festzustellen. Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze für die Übernahme von Gewährleistungen könnte nur überschritten sein, wenn sich im Eintrittsfall die Gewährleistungen so auswirkten, dass die Haushaltsautonomie jedenfalls für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe.Footnote 37 Das Bundesverfassungsgericht stellte fest: „Keines der angegriffenen Gesetze begründet oder verfestigt einen Automatismus, durch den der Deutsche Bundestag sich seines Budgetrechts entäußern würde. Derzeit besteht keine Veranlassung, einen unumkehrbaren Prozess mit nachteiligen Konsequenzen für die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages anzunehmen.“Footnote 38

Das Urteil vom 7.9.2011 ist auch deshalb interessant, weil es eine Bemerkung enthält, an die sich das Bundesverfassungsgericht später nicht mehr festhalten lassen wollte. Diese Passage lautet:

Die Rügen der Beschwerdeführer, ihre Grundrechte würden unmittelbar durch […] den Aufkauf von Staatsanleihen Griechenlands und anderer Mitgliedstaaten des Euro‐Währungsgebietes durch die Europäische Zentralbank verletzt, sind unzulässig, weil ihnen keine tauglichen Beschwerdegegenstände zugrunde liegen. Bei den angegriffenen Akten handelt es sich – unbeschadet anderweitiger Überprüfungsmöglichkeiten auf ihre Anwendbarkeit in Deutschland hin (vgl. BVerfGE 89, 155 [175]; 126, 286 [302 ff.]) – nicht um von den Beschwerdeführern angreifbare Hoheitsakte deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG.Footnote 39

Eine Zeit lang danach sah sich das Bundesverfassungsgericht nicht mehr gehindert, sich ausführlich mit dem geplanten Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB zu befassen.

3.3 Das Urteil vom 28.2.2012

3.3.1 Das Neunergremium

Das zweite Urteil betraf das sogenannte Neunergremium. Der § 3 Abs. 1 Satz 1 StabMechG in der nach dem Urteil vom 7.9.2011 geänderten FassungFootnote 40 sah vor, dass die Bundesregierung „in Angelegenheiten der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität einem Beschlussvorschlag, der die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berührt, durch ihren Vertreter nur zustimmen oder sich bei einer Beschlussfassung enthalten [darf], nachdem der Deutsche Bundestag hierzu einen zustimmenden Beschluss gefasst hat.“ Abweichend davon regelte § 3 Abs. 3 Satz 1 StabMechG, dass die Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit von einigen (in der Praxis neun) Mitgliedern des Haushaltsausschusses wahrgenommen werden sollten, die vom Deutschen Bundestag für eine Legislaturperiode gewählt werden. Zwei Abgeordnete der SPD‐Fraktion im Deutschen Bundestag sahen durch diese Zuweisung von Kompetenzen des Bundestages an einige Mitglieder des Haushaltsausschusses eine Verletzung ihres Abgeordnetenstatus aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.Footnote 41

Das Bundesverfassungsgericht gab ihrem Organstreitantrag mit Urteil vom 28.2.2012Footnote 42 unter Verweis auf das Demokratieprinzip statt, soweit „§ 3 Abs. 3 StabMechG die Antragsteller unter Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in einem verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Umfang von der Mitwirkung an der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages“ ausschließe.Footnote 43 Als unmittelbares Repräsentativorgan des Volkes nehme der Bundestag seine Funktion „grundsätzlich in seiner Gesamtheit wahr, durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder […], nicht durch einzelne Abgeordnete, eine Gruppe von Abgeordneten oder die parlamentarische Mehrheit.“Footnote 44 „Bei der Ausübung des Budgetrechts und der Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung“ müsse „der Deutsche Bundestag die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen.“Footnote 45 Das habe „grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum“ zu geschehen.Footnote 46 Das Bundesverfassungsgericht hob zwar das Selbstorganisationsrecht des Bundestages hervor, wies aber zugleich auf dessen Grenzen hin. „Soweit Abgeordnete durch Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss von der Mitwirkung an der parlamentarischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden sollen,“ sei „dies nur zum Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig.“Footnote 47

Im Ergebnis verwarf es deshalb die Regelung des § 3 Abs. 3 StabMechG als Verstoß gegen die Abgeordnetenrechte. Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit könnten den Ausschluss der meisten Bundestagsabgeordneten von Entscheidungen im Zusammenhang mit Maßnahmen der EFSF nicht rechtfertigen. Das Neunergremium darf seither nur noch tätig werden, wenn es um den Ankauf von Staatsanleihen durch die EFSF geht. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht nämlich eine Ausnahme zugelassen, weil „die Vorbereitung einer solchen Notmaßnahme, also auch deren Beratung und ein diesbezüglicher Zustimmungsbeschluss, absoluter Vertraulichkeit unterliegen“ müssten.Footnote 48

3.3.2 Verbindung zum Urteil vom 7.9.2011

Diese große Zurückhaltung bei der Übertragung von Zuständigkeiten des Deutschen Bundestages auf ein kleines Gremium ist gut nachvollziehbar und sicher auch grundsätzlich berechtigt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass das Bundesverfassungsgericht die Kompetenzen des Bundestages im Zusammengang mit den Krisenbewältigungsmaßnahmen weit ausgedehnt hat. Der Bundestag ist an der Ausführung von Gesetzen beteiligt und nimmt damit exekutive Aufgaben wahr.Footnote 49 Das erklärt Zweifel daran, ob das Parlamentsplenum tatsächlich das geeignete Gremium ist, wenn sehr kurzfristige Entscheidungen zu treffen sind. Und dass sich Vertraulichkeit in einem so großen Kreis nicht stets gewährleisten lässt, dürfte ebenfalls auf der Hand liegen.

Wer die Errichtung des Neunergremiums als ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen ansieht, sollte auch in die Erwägungen einbeziehen, dass eine Aussage des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 7.9.2011 den Eindruck erwecken konnte, § 3 Abs. 3 StabMechG sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dort hatte das Bundesverfassungsgericht nämlich im Hinblick auf die ursprüngliche Fassung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes ausgeführt:

§ 1 Abs. 4 des Gesetzes verpflichtet allerdings die Bundesregierung lediglich dazu, sich vor Übernahme von Gewährleistungen zu bemühen, Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages herzustellen, der ein Recht zur Stellungnahme hat (Satz 1 und 2). Sofern aus zwingenden Gründen eine Gewährleistung vor Herstellung des Einvernehmens übernommen werden muss, ist der Haushaltsausschuss unverzüglich nachträglich zu unterrichten, wobei die Unabweisbarkeit der Übernahme der Gewährleistung vor Herstellung des Einvernehmens eingehend zu begründen ist (Satz 3). Zudem ist der Haushaltsausschuss vierteljährlich über die übernommenen Gewährleistungen und die ordnungsgemäße Verwendung zu unterrichten (Satz 4). Mit diesen Regelungen allein wäre der fortdauernde Einfluss des Bundestages auf die Gewährleistungsentscheidungen durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen – über die allgemeine politische Kontrolle der Bundesregierung hinaus – nicht sichergestellt. Denn diese Vorkehrungen würden – auch zusammen mit der Zwecksetzung, der Höhe des Gewährleistungsrahmens und der Befristung des Euro‐Stabilisierungsmechanismus‐Gesetzes – nicht verhindern, dass die parlamentarische Haushaltsautonomie in einer das Wahlrecht beeinträchtigenden Weise berührt wird.Footnote 50

Daraus zog es den Schluss:

Daher bedarf es zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit einer Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 1 des Euro‐Stabilisierungsmechanismus‐Gesetzes dahingehend, dass die Bundesregierung vorbehaltlich der in Satz 3 genannten Fälle verpflichtet ist, die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen.Footnote 51

Mit der Formulierung „vorbehaltlich der in Satz 3 genannten Fälle“ schien das Bundesverfassungsgericht ausdrücken zu wollen, dass es die Regelung dieses Satzes 3 nicht beanstandete, sondern für verfassungskonform hielt. § 1 Abs. 4 Satz 3 StabMechG a. F. bestimmte:

Sofern aus zwingenden Gründen eine Gewährleistung bereits vor Herstellung des Einvernehmens übernommen werden muss, ist der Haushaltsausschuss unverzüglich nachträglich zu unterrichten.

Im Ergebnis hatte das Bundesverfassungsgericht mehr oder weniger ausdrücklich akzeptiert, dass in bestimmten Fällen von Gewährleistungsübernahmen ein Gremium des Bundestages nur nachträglich informiert werden musste.Footnote 52 Die Regelung im neu gefassten § 3 Abs. 3 StabMechG, dass statt dieser nachträglichen Information des Haushaltsausschusses eine vorherige Zustimmung des Neunergremiums stattzufinden habe, kann man deshalb als eine Erweiterung der Beteiligungsrechte des Bundestages verstehen. So wollte das Bundesverfassungsgericht seinen kurzen Hinweis auf die „in Satz 3 genannten Fälle“ dann aber doch nicht verstanden wissen.

3.4 Das Urteil vom 19.6.2012

Gegenstand des Urteils vom 19.6.2012Footnote 53 war die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen rügte mit einem Organstreitantrag, die Bundesregierung habe den Deutschen Bundestag in seinem Recht aus dieser Vorschrift verletzt, indem sie ihm zwei Dokumente, die sich auf die Einrichtung des ESM bezogen, nicht übermittelte. Gerügt wurde außerdem, dass die Bundesregierung den Bundestag nicht vorab über die am 4.2.2011 öffentlich vorgestellte Initiative für den Beschluss eines Paktes für Wettbewerbsfähigkeit unterrichtet hat.Footnote 54

Auch diese Entscheidung gehört in den Zusammenhang der Krisenbekämpfung. Die Mitgliedstaaten ergriffen nämlich nicht nur die bereits erwähnten Maßnahmen der akuten Nothilfe für Griechenland und einige andere Staaten (Portugal, Irland, Zypern), sondern verfolgten auch das Ziel, die Krise und ihre Ursachen dauerhaft zu bewältigen. In diesen Zusammenhang gehört der ESM, ein dauerhafter Krisenbewältigungsmechanismus in Form einer neuen internationalen Finanzinstitution mit eigener Rechtspersönlichkeit,Footnote 55 der auf der Grundlage des zwischen den Mitgliedstaaten der Eurozone geschlossenen Vertrags zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV)Footnote 56 entstand.Footnote 57 Auch die zunächst als „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ bezeichnete, später „Euro‐Plus‐Pakt“ genannte Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten des Euro‐WährungsgebietsFootnote 58 dient dazu, strukturelle Probleme anzugehen, die mit für diese Krise verantwortlich sind.

So unterschiedlich beide Vorgänge inhaltlich auch etwa hinsichtlich ihrer rechtlichen Verbindlichkeit sind, ist ihnen doch gemein, dass sie außerhalb des rechtlichen Rahmens der Europäischen Union stehen. Der ESM‐Vertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten mit Euro‐Währung. Auch beim Euro‐Plus‐Pakt handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen Mitgliedstaaten, die bewusst nicht innerhalb des EU‐Rahmens vorgingen.Footnote 59 Daher war umstritten, ob Art. 23 GG auf solche völkerrechtlichen Maßnahmen im Umkreis der EU überhaupt anwendbar ist. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass auch der ESM‐Vertrag und der Euro‐Plus‐Pakt den Angelegenheiten der Europäischen Union i. S. v. Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG zuzuordnen sind.Footnote 60 Erst daraus ergab sich dann, dass für diese Vereinbarungen auch die Unterrichtungsverpflichtung aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG gilt, die deutlich weiter geht als entsprechende Informationspflichten im Zusammenhang mit sonstigen völkerrechtlichen Vereinbarungen.

3.5 Das Urteil vom 12.9.2012

Zahlreiche Verfassungsbeschwerden und ein Organstreitantrag der Bundestagsfraktion Die Linke aus dem Jahr 2012 wandten sich erneut gegen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Eurokrise. Der dauerhafte Krisenbewältigungsmechanismus ESM beruhte zwar auf einem völkerrechtlichen Vertrag, sollte aber auch durch eine Ergänzung des Art. 136 AEUV um einen neuen Abs. 3 im Unionsrecht abgesichert werden.Footnote 61 Darüber hinaus einigten sich die meisten EU‐Mitgliedstaaten am 2.3.2012 auf den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts‐ und Währungsunion (VSKS oder Fiskalvertrag).Footnote 62 Die deutsche Umsetzungs‐ und BegleitgesetzgebungFootnote 63 war Gegenstand der Verfassungsbeschwerden und des Organstreitantrags.

3.5.1 Der ESM‐Vertrag

Im Vordergrund standen die Angriffe gegen den ESM. Zweck dieser neuen internationalen Organisation ist es, „Finanzmittel zu mobilisieren und ESM‐Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen, wenn dies zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro‐Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“ (Art. 3 ESMV). Die Stabilitätshilfe kann insbesondere in Darlehen, aber auch in vorsorglichen Kreditlinien oder anderen Hilfen bestehen. Das maximale Darlehensvolumen des ESM beträgt 500 Mrd. €. Anders als bei der EFSF übernehmen die Mitgliedstaaten nicht nur Gewährleistungen. Vielmehr haben sie den ESM nach Art. 8 Abs. 1 ESMV mit einem Stammkapital in Höhe von 700 Mrd. € ausgestattet. 80 Mrd. € davon waren einzuzahlen, ansonsten handelt es sich um abrufbares Kapital. Am Stammkapital sind die Mitgliedstaaten im Verhältnis ihrer Anteile am Kapital der EZB beteiligt (§ 11 Abs. 1 ESMV). Deutschland trägt deshalb, wie im Anhang I zum ESM‐Vertrag festgelegt, rund 27 %, also 190 Mrd. €.

Diese Summen sind so hoch, dass sie Sorgen auslösen können. In dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ging es daher nicht zuletzt darum, ob das Eingehen dieser Verbindlichkeiten mit der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages vereinbar und letztlich vom Demokratieprinzip, auf das sich die Beschwerdeführer über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG beriefen, noch gedeckt ist.

3.5.2 Eilrechtsschutz

Sämtliche Verfassungsbeschwerden wurden von Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz begleitet, die sich darauf richteten, „dem Bundespräsidenten bis zur Entscheidung über die jeweilige Hauptsache [zu untersagen], die von Bundestag und Bundesrat am 29. Juni 2012 als Maßnahmen zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise im Euro‐Währungsgebiet beschlossenen Gesetze auszufertigen und die mit ihnen gebilligten völkerrechtlichen Verträge zu ratifizieren.“Footnote 64 Dem stand allerdings das Interesse entgegen, die vereinbarten Maßnahmen möglichst bald zur Krisenbewältigung einsetzen zu können. Insbesondere die Errichtung des ESM erschien erforderlich, um eine neuerliche Zuspitzung der fortdauernden Krise zu vermeiden. Von der Hinterlegung der deutschen Ratifizierungsurkunde hing das Inkrafttreten des ESM‐Vertrags ab.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben bei der Entscheidung über einstweilige Anordnungen „die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet.“Footnote 65 Jedenfalls vom Prinzip her erfolgt keine vorweggenommene Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Daher ist meist das Ergebnis einer Folgenabwägung maßgeblich. Bei völkerrechtlichen Verträgen dürfte eine solche Abwägung grundsätzlich dafür sprechen, die Ratifizierung auszusetzen, weil ansonsten die Gefahr bestünde, dass ein Vertrag ratifiziert wird und in Kraft tritt, dessen Verfassungswidrigkeit sich u. U. erst im späteren Hauptsacheverfahren herausstellt. Im konkreten Fall hätte eine solche Verzögerung aber gravierende politische und ökonomische Folgen haben können.

Das Bundesverfassungsgericht befand sich daher in einem Dilemma. Es entschied auf Anregung der Bundesregierung,Footnote 66 einen Weg zu gehen, der von dem Vorgehen bei ähnlichen Verfassungsbeschwerden, insbesondere von dem im Zusammenhang mit den Anträgen gegen die Verträge von Maastricht und Lissabon abwich. Es stellte nämlich unter Verweis auf das schon länger zurückliegende Vorbild des Verfahrens zum Grundlagenvertrag mit der DDRFootnote 67 von 1973 bereits im Eilverfahren eine summarische Prüfung an, „ob die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Vertragsgesetzes vorgetragenen Gründe mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit erwarten lassen, dass das Bundesverfassungsgericht das Vertragsgesetz für verfassungswidrig erklären wird.“Footnote 68

3.5.3 Urteil mit Auflagen

Nach dieser Prüfung lehnte es mit seinem Urteil vom 12.9.2012Footnote 69 sämtliche Eilanträge ab, verband diese Entscheidung aber mit der Maßgabe, dass die Ratifikation des ESM‐Vertrags nur erfolgen dürfe, wenn zugleich völkerrechtlich sichergestellt werde, dass Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV die Höhe der deutschen Zahlungsverpflichtungen tatsächlich auf die Summe von 190.024.800.000 € begrenzt. Ebenfalls sichergestellt werden sollte, dass andere Regelungen (Art. 32 Abs. 5, Art. 34 und Art. 35 Abs. 1 ESMV) „nicht der umfassenden Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates entgegenstehen.“Footnote 70 Nachdem diese Auflagen durch eine gemeinsame interpretative Erklärung der Vertreter aller VertragsparteienFootnote 71 erfüllt waren, konnten die Verträge ratifiziert werden und in Kraft treten.

3.5.4 Weiterentwicklung der Währungsunion

Inhaltlich erscheint im Hinblick auf dieses Urteil erwähnenswert, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung auch zur Weiterentwicklung der Währungsunion positioniert hat. Aufgrund von Äußerungen von Mitgliedern des Zweiten Senats gegenüber der PresseFootnote 72 konnte der Eindruck entstehen, dass das Bundesverfassungsgericht kaum Spielraum für Änderungen sah. Umso wichtiger ist der folgende Hinweis im Urteil vom 12.09.2012:

Die bisherige vertragliche Ausgestaltung der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft bedeutet indes nicht, dass eine demokratisch legitimierte Änderung in der konkreten Ausgestaltung der unionsrechtlichen Stabilitätsvorgaben von vornherein mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar wäre. Nicht jede einzelne Ausprägung dieser Stabilitätsgemeinschaft ist durch die hier allein maßgeblichen Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG garantiert.Footnote 73

Das Bundesverfassungsgericht weist an dieser Stelle darauf hin, dass es schon in seinem Maastricht‐Urteil ausgesprochen habe,

dass eine kontinuierliche Fortentwicklung der Währungsunion zur Erfüllung des Stabilitätsauftrags erforderlich werden kann, wenn andernfalls die Konzeption der als Stabilitätsgemeinschaft angelegten Währungsunion verlassen werden würde (vgl. BVerfGE 89, 155 [205]). Wenn sich die Währungsunion mit dem geltenden Integrationsprogramm in ihrer ursprünglichen Struktur nicht verwirklichen lässt, bedarf es erneuter politischer Entscheidungen, wie weiter vorgegangen werden soll (vgl. BVerfGE 89, 155 [207]; 97, 350 [369]). Es ist Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden, wie etwaigen Schwächen der Währungsunion durch eine Änderung des Unionsrechts entgegen gewirkt werden soll.Footnote 74

Auf diese Weise stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass durchaus noch Spielraum für eine verstärkte politische Union zur Ergänzung der Währungsunion besteht.

3.6 Das Urteil vom 18.3.2014

Den vorläufigen Abschluss der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Eurokrise bildete das Hauptsacheurteil vom 18.3.2014.Footnote 75 Mit dieser Entscheidung wies das Gericht sämtliche Verfassungsbeschwerden und den Organstreitantrag gegen die Zustimmungs‐ und Begleitgesetze zur Änderung des Art. 136 AEUV, zum ESM‐Vertrag und zum Fiskalvertrag zurück.Footnote 76

3.6.1 Erfüllung der Auflagen

Das Hauptsacheurteil stellte zunächst fest, dass durch die Haftungsbegrenzung nach Art. 8 Abs. 5 ESMV i. V. m. dessen Anhang II „sowie durch die gemeinsame Auslegungserklärung der Vertragsparteien des ESM‐Vertrages vom 27. September 2012 (BGBl II S. 1086) und die gleichlautende einseitige Erklärung der Bundesrepublik Deutschland (BGBl II S. 1087) […] hinreichend sichergestellt [ist], dass durch den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus keine unbegrenzten Zahlungsverpflichtungen begründet werden.“Footnote 77 Da Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV dasselbe schon in kaum zu überbietender Deutlichkeit formulierte („Die Haftung eines jeden ESM‐Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt.“), erschien eine abweichende Auslegung ohnehin nicht naheliegend. Dennoch hatte das Bundesverfassungsgericht eine solche Auslegung gegen den Wortlaut für möglich gehalten und deshalb im Urteil vom 12.9.2012 die nun für ausreichend erachtete Klarstellung gefordert.Footnote 78

3.6.2 Vorsorge für Kapitalabrufe

Das Urteil vom 18.3.2014 wies zwar alle Verfassungsbeschwerden und den Organstreitantrag als unzulässig oder unbegründet zurück. Das Bundesverfassungsgericht reicherte aber auch diese Entscheidung mit Aufforderungen an die Verfassungsorgane an. So stellte es fest:

Der Gesetzgeber ist mit Blick auf die Zustimmung zu Artikel 4 Absatz 8 des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus verpflichtet, haushaltsrechtlich durchgehend sicherzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland Kapitalabrufen nach dem Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus fristgerecht und vollständig nachkommen kann.Footnote 79

Damit wandte es sich erneut den schon im Rahmen des Eilverfahrens besonders umstrittenen Bestimmungen zur Möglichkeit von Kapitalabrufen durch den ESM zu. Da der größte Teil des Stammkapitals des ESM nicht eingezahlt werden muss, aber abrufbar ist, sind bei Bedarf u. U. recht kurzfristige Abrufe vorgesehen (Art. 8 ESMV). Zugleich bestimmt Art. 4 Abs. 8 ESMV, dass ein säumiger Mitgliedstaat sein Stimmrecht nicht ausüben darf, bis die Zahlung erfolgt ist. Die Einschätzung, dass der ESM‐Vertrag verfassungskonform ist, hat das Bundesverfassungsgericht aber nicht zuletzt darauf gestützt, dass der Deutsche Bundestag in der Lage ist, den deutschen Vertretern in den ESM‐Organen vorzugeben, ob sie Maßnahmen des ESM zustimmen oder nicht. Da Deutschland bei allen wesentlichen Entscheidungen über eine Sperrminorität verfügt, entscheidet letztlich der Bundestag mit, ob der ESM z. B. Kredite an notleidende Mitgliedstaaten vergeben darf. Auf diese Weise kann er seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung wahrnehmen.

Diese Legitimationskette zerbräche, wenn Deutschland in den Gremien des ESM sein Stimmrecht nicht ausüben könnte, falls es Kapitalabrufen nicht rechtzeitig Folge leistete. Das erklärt, warum das Bundesverfassungsgericht so viel Wert darauf legte, dass ein Verlust des Stimmrechtes unbedingt zu vermeiden ist. Deshalb verpflichtete das Gericht die deutschen Verfassungsorgane, „sicherzustellen, dass die gegenwärtig gegebene und verfassungsrechtlich geforderte Vetoposition der Bundesrepublik Deutschland auch unter veränderten Umständen erhalten bleibt“,Footnote 80 also etwa dann, wenn sich die Anteile am Kapital und am Stimmrecht aufgrund von Beitritten neuer Mitgliedstaaten ändern.

Die Beschwerdeführer hatten versucht, die Fähigkeit Deutschlands in Frage zu stellen, kurzfristigen Kapitalabrufen nachzukommen. Das Bundesverfassungsgericht folgte dem nicht, sondern stellte fest:

Es ist derzeit haushaltsrechtlich ausreichend sichergestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland sämtlichen für die Anwendung von Art. 4 Abs. 8 ESMV relevanten Zahlungsaufforderungen des Europäischen Stabilitätsmechanismus – bis zur Höhe ihres Anteils am genehmigten Stammkapital (Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV) – so rechtzeitig und umfassend nachkommen kann, dass eine Stimmrechtsaussetzung praktisch ausgeschlossen ist.Footnote 81

Damit das auch künftig so bleibt, formulierte das Bundesverfassungsgericht die erwähnte Mahnung zur vorausschauenden Haushaltsplanung in Leitsatz 2 seines Urteils. Das ist einerseits so wichtig, dass es diese Hervorhebung rechtfertigt; andererseits handelt es sich dabei aber auch um eine haushaltspolitische und -rechtliche Selbstverständlichkeit, ist der Haushaltsgesetzgeber nach dem Grundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans doch stets verpflichtet, alle voraussichtlichen Ausgaben zu berücksichtigen und für ihre Deckung Sorge zu tragen (Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG).Footnote 82

3.7 Das Urteil des EuGH vom 27.11.2012

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum ESM und zu der Änderung des Art. 136 AEUV korrespondieren mit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 27.11.2012 in der Rechtssache Pringle.Footnote 83

3.7.1 Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht

Auf Vorlage des irischen Supreme Court entschied der EuGH, dass der Beschluss 2011/199/EU des Europäischen Rates vom 25.3.2011 zur Änderung des Art. 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist,Footnote 84 mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Die Vorschriften des Unionsrechts stünden darüber hinaus dem zwischen den Mitgliedstaaten mit Euro‐Währung geschlossenen ESM‐Vertrag nicht entgegen.

Der EuGH stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Gewährung von Finanzhilfen durch den ESM nicht der Währungspolitik für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, zuzuordnen sei, für den Art. 3 Abs. 1 Buchst. c AEUV der Union die ausschließliche Zuständigkeit einräumt. Deshalb seien die Mitgliedstaaten grundsätzlich befugt, entsprechende vertragliche Regelungen außerhalb des EU‐Rahmens zu vereinbaren.Footnote 85 Der Gerichtshof prüfte außerdem, ob das Unionsrecht Bestimmungen enthält, die dem ESM‐Vertrag inhaltlich widersprechen könnten. Er ging insoweit auf Art. 2 Abs. 3, 119–121 und 126 AEUV ein. In keiner dieser Vorschriften sah er ein Hindernis für das vertragliche Vorgehen der Mitgliedstaaten.

3.7.2 Art. 125 AEUV

Erwähnt seien hier nur und vor allem die Ausführungen des EuGH zu Art. 125 AEUV, dessen Verletzung nicht nur in diesem Zusammenhang gerade in Deutschland immer wieder behauptet wurde. Interessant ist, dass der Gerichtshof die Vereinbarkeit von Finanzhilfen des ESM mit Art. 125 AEUV durchaus differenziert prüft. So stellt er fest, im Hinblick auf das Ziel des Art. 125 AEUV sicherzustellen, „dass die Mitgliedstaaten auf eine solide Haushaltspolitik achten“,Footnote 86 sei „davon auszugehen, dass er der Union und den Mitgliedstaaten verbietet, finanziellen Beistand zu leisten, der zu einer Beeinträchtigung des Anreizes für den Empfängermitgliedstaat führen würde, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben.“Footnote 87 Demgegenüber verbiete „es Art. 125 AEUV nicht, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem Mitgliedstaat, der für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt, eine Finanzhilfe gewähren, vorausgesetzt, die daran geknüpften Auflagen sind geeignet, ihn zu einer soliden Haushaltspolitik zu bewegen.“Footnote 88

Dieses Anknüpfen an das Ziel der Vorschrift und die Betonung der mit den Finanzhilfen verbundenen Auflagen führt im Ergebnis dazu, dass der EuGH weniger großzügig ist als einige Stimmen in der Literatur, die die Gewährung von Krediten schon von vornherein als nicht tatbestandsmäßig ansehen.Footnote 89 Diese leicht strengere Haltung des EuGH und das Einbeziehen des Zwecks von Art. 125 AEUV sind zu begrüßen. Das in der Vorschrift ausgesprochene Verbot darf nicht allein formal auf eine Haftung oder einen Schuldbeitritt im technischen Sinne beschränkt werden, weil damit seine Funktion verfehlt würde. Andererseits liegt unter den in Art. 136 Abs. 3 AEUV und im ESM‐Vertrag genannten Voraussetzungen auch kein Verstoß gegen Art. 125 AEUV vor. Diese Vorschrift soll zwar die Haushaltsdisziplin stützen, nicht aber um den Preis der Gefährdung der gemeinsamen Währung. Insoweit ist Art. 125 AEUV zwar grundsätzlich weit auszulegen, sodass er auch freiwillige Hilfen erfasst.Footnote 90 In Situationen, in denen die kompromisslose Durchsetzung des Verbots, für Mitgliedstaaten einzutreten, die Euro‐Währung gefährden würde, ist die Bestimmung aber teleologisch zu reduzieren. Für diesen Fall enthält Art. 125 AEUV eine Regelungslücke; ihm fehlt die erforderliche Ausnahmeklausel.Footnote 91

4 Resümee und Ausblick

Die fünf Urteile des Bundesverfassungsgerichts und einige zusätzliche Entscheidungen in ihrem Umfeld (insbesondere über Eilanträge oder nicht angenommene Verfassungsbeschwerden)Footnote 92 haben grundlegende verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Eurokrise geklärt und auf diese Weise Rechtssicherheit geschaffen. Für die Reichweite der Verfassungsbeschwerde gilt das noch nicht. Insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen in Deutschland künftig jedermann nicht nur Maßnahmen der deutschen Staatsgewalt, sondern unter Hinweis auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auch Sekundärrechtsakte der Europäischen Union angreifen kann, fehlt es bislang an dieser Klarheit. Ob die ausstehende Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden gegen Maßnahmen der EZB, die das Bundesverfassungsgericht von den auf den ESM bezogenen Verfahren abgetrennt und zunächst dem EuGH vorgelegt hat,Footnote 93 insoweit Klärung bringt, bleibt abzuwarten. Der EuGH hat jedenfalls durch sein Urteil vom 27.11.2012 gezeigt, dass er bereit ist, Bedenken in den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen und differenziert zu entscheiden.