Die Zukunft der psychiatrischen Versorgung vor Ort „StäB“, die „stationsäquivalente Behandlung“, ermöglicht eine intensive, tägliche Betreuung von Kindern und Jugendlichen direkt in ihrem Zuhause. Ein engagiertes Team verschiedener Fachkräfte arbeitet flexibel und eng zusammen, um nachhaltige Entwicklungsprozesse zu fördern und die Familien aktiv in die Therapie einzubeziehen. Ein Erfahrungsbericht.

Als Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin war ich gerade neu in der Tagesklinik Heilbronn der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums am Weissenhof in Weinsberg, als ich zum ersten Mal von „StäB“ erfuhr. Total überfordert von all den neuen kryptischen Abkürzungen, die in der TK HN der KJPP des KaW WB (Tagesklinik Heilbronn der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Klinikums am Weissenhof Weinsberg) zum guten Ton gehören, traute ich mich nicht, zu viele Fragen zu stellen. Also recherchierte ich im Internet und fand verschiedene Krankenhäuser, die das Konzept StäB bereits etabliert hatten. Es handelt sich um eine stationsäquivalente Behandlung.Der Begriff „stationsäquivalent“ bedeutet einer vollstationären Behandlung äquivalent, das heißt, dass eine intensive, tägliche Kontaktaufnahme von mindestens einer Stunde mit den Kindern und Jugendlichen stattfindet. Sie schließt eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung der Kinder und Jugendlichen mit kontinuierlicher telefonischer Erreichbarkeit durch jeweils eine Person unseres Teams ein.

Seit 2018 gibt es in Deutschland die Möglichkeit der stationsäquivalente Behandlung in der Psychiatrie. Diese Form der Behandlung ist jedoch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie noch nicht flächendeckend umgesetzt. Voraussetzungen sind Freiwilligkeit, die Beteiligung und Erreichbarkeit der Eltern oder Bezugspersonen sowie der Bedarf an stationärer Behandlung aufgrund schwerer psychischer Erkrankung, bei der der Patient/die Patientin das häusliche Umfeld nicht verlassen kann oder soll. Ausschlusskriterium für StäB ist eine akute Fremd- oder Eigengefährdung.

In unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde das StäB-Konzept von unserer Chefärztin Dr. med. Tina Schlüter implementiert.

Was ist das Besondere?

Die Behandlung findet bei den Patient*innen zu Hause statt. Mich hat diese Idee der Behandlungsart sofort angesprochen, denn in der Vergangenheit empfand ich es häufig als sehr frustrierend, neben der Therapiebegleitung intensiv mit den Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, ihren Alltag neu zu sortieren und einzuüben, um sie danach wieder in dasselbe, oft die Krankheit aufrechterhaltende Familiensystem zurückzuführen. In StäB sah ich die Chance, direkt im System mitwirken zu können und dort Entwicklungsprozesse zu begleiten.

Nachdem meine Kolleg*innen bereits über zwei Jahre mit hohem Engagement hart daran gearbeitet hatten, ein Team und alle neu benötigten Strukturen zu schaffen, wurde ich Teil dieses sehr verantwortungsvollen Teams. Dieses besteht bei uns aus einer pflegerischen Stationsleitung, einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, einem Sozialpädagogen, einer Ergotherapeutin, einer Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, einem Therapiehund und unserem kleinen VW Polo mit dem liebevollen Namen „Stäbchen“, der uns dank der Navigationssysteme auf unseren Diensthandys zielsicher zu unseren Patient*innen bringt.

Flexibel auf neue Herausforderungen reagieren

So stürzte ich mich in das Abenteuer StäB - doch wie alles im Leben hat auch diese Form der Arbeit zwei Seiten. Zwar bin ich jedes Mal aufs Neue völlig fasziniert davon, wie schnell sich aus diesen Kontakten innerhalb der Familie ein ganzheitliches und vollwertiges Gesamtbild zusammenfügen lässt. Dennoch bin ich in jedem System Gast und habe schnell gemerkt, dass ich mir für diese Arbeit einen emotional stabileren Panzer umlegen muss. So wurde ich in so mancher Wohnung von der Traurigkeit, die die Familie aufgrund eines verstorbenen geliebten Menschen mit sich trägt, überwältigt oder geriet auch schon mal in eine heftige Auseinandersetzung zwischen Eltern und ihren Kindern. Aber die Regeln in StäB werden von den Familien gemacht. Also heißt es, auch hier wieder flexibel zu sein. Und gleichzeitig die eigene Kompetenz voll auszuschöpfen und einfach zu handeln.

Meine ersten Kontakte bestehen meist aus unverfänglichen Spielsituationen und Spaziergängen mit vermeintlichem Smalltalk, um eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen und erste wertvolle Informationen über soziale Netzwerke, vorhandene Ressourcen, Konzentrationsfähigkeit und Frustrationstoleranz zu erhalten. Je nach Behandlungsansatz folgen flexibel gestaltete Stunden, die meist mit einer Stimmungseinschätzung starten, um die Belastbarkeit der kleinen Patient*innen vorab zu überprüfen. Der Behandlungsansatz hängt von der jeweiligen Person ab, die gerade vor Ort ist (je nach Profession und Ausbildung), sowie von der fallführenden Perspn (ärztlich oder psychotherapeutisch) oder eben der Vorgehensweise, die wir vorab multiprofessionell abgesprochen haben.Zudem ist sie abhängig vom Krankheitsbild und somit völlig individuell. Auch die Dauer einer StäB-Behandlung ist sehr variabel und kann von zwei Wochen bis drei Monate variieren.

So kommt es, dass ich mittlerweile alle Angestellten der umliegenden Supermärkte durch diverse Expositionstrainings kennengelernt habe, die sich wahrscheinlich fragen, warum ich noch immer nicht weiß, wo die verdammte Butter im Regal liegt, obwohl ich jede Woche mit einem anderen Jugendlichen davor stehe, um danach zu fragen. An anderen Tagen finde ich mich in der hintersten Ecke eines Klassenzimmers bei einer Schulrückführung wieder oder ich schwinge den Pinsel während eines Kreativangebotes, wofür ich das ganze Equipment vorab sorgfältig ausgesucht, durch die Gegend geschleppt und gefahren habe.

Teamarbeit ist das A und O in StäB

Mehr als je zuvor habe ich in StäB gelernt, was es heißt, in einem Team zusammen zu arbeiten. Für Spaltungen oder Kompetenzgerangel ist hier kein Platz, denn in StäB sitzen wirklich alle Professionen in einem Boot. Was heute im Patient*innenkontakt besprochen wird, muss am nächsten Tag vom Nächsten mitgetragen werden. Egal welcher Profession diese Person angehört. So kann es passieren, dass ich als Pflegekraft bei der Psychoedukation unterstütze, während der Sozialpädagoge die Blutdruckmessung übernimmt. Selbstverständlich bleiben Fachfragen in der Verantwortung der jeweiligen Fachperson, aber professionelles Handeln geht hier Hand in Hand. So spürte ich als Pflegekraft zum ersten Mal in meinem Arbeitsleben volle Selbstwirksamkeit. Aber da sind sie wieder, die zwei Seiten der Medaille, denn das bedeutet auch, die volle Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. In multiprofessionellen Teambesprechungen einfach wegzudösen, wenn Themen vermeintlich nicht zu meinem Fachbereich gehören, ist in StäB nicht mehr möglich. Dafür ist es durchaus möglich, das Power-Napping auf den Nachmittag zu verlegen, wenn die Patient*innenkontakte vorbei sind.

Auch das ist StäB: Große Flexibilität. Es ist eine Herausforderung, einen ordentlichen Tourenplan zu erstellen, so dass die Patient*innenkontakte passend über die Woche verteilt sind, um allen Vorgaben der Gesundheitskassen sowie den Wünschen der Patient*innen und Mitarbeiter*innen entgegen zu kommen. Es ist aber eine noch größere Herausforderung, den unzähligen Terminverschiebungen im Laufe der Woche gerecht zu werden. Und diese entstehen unweigerlich. Durch unvorhergesehene Neuvorstellungen potenzieller Patient*innen oder spontane Neuaufnahmen, Schulrückführungserprobungen oder plötzliche Terminverschiebungen vonseiten der Patient*innen.

Welche Bedeutung hat StäB für die Familien?

Damit die wertvolle Verhaltensbeobachtung innerhalb der Peergroup nicht verloren geht, bieten wir einmal wöchentlich eine Interaktionsgruppe für alle sich in Behandlung befindenden Patient*innen an. Der Fokus liegt hier auf dem gemeinsamen Austausch der Kinder und Jugendlichen untereinander. Die inhaltliche Gestaltung ist der freien Entfaltung der Mitarbeiter*innen überlassen und soll im besten Falle auch noch Spaß machen. Außerdem führen wir in StäB regelmäßig Treffen mit allen Familien zur Multifamilientherapie durch. In diesem Rahmen zu sehen, wie dankbar die Familien oft dafür sind, einfach zu spüren, dass sie mit ihrer Problematik nicht allein sind, berührt mich jedes Mal aufs Neue. Auch für sie ist diese Behandlung eine Medaille mit zwei Seiten. Auf der einen Seite schätzen sie den Luxus der Vielfältigkeit unserer Persönlichkeiten und Kompetenzen, gepaart mit der Möglichkeit, ihr Kind nicht in eine fremde Obhut geben zu müssen, vor allem, wenn ihre Schützlinge dies niemals freiwillig tun würden. Auf der anderen Seite bedeutet es aber auch für sie, maximal flexibel sein zu müssen und Tag für Tag zunächst fremde Menschen in ihr Haus zu lassen. Hinzu kommt natürlich, dass die Eltern bei dieser Behandlungsform sehr viel stärker in die Therapie einbezogen werden. Was in einem klassischen vollstationären Setting die Pflegekräfte und die Erzieher*innen übernehmen, bleibt zu Hause im Auftrag der Eltern. So arbeitet die ganze Familie daran, die vorher vereinbarten Ziele zu erlangen.

Für mich als Pflegekraft bedeutet StäB, selbstwirksam und eigenverantwortlich zu arbeiten. Eine Medaille mit zwei glänzenden Seiten.