Die nachfolgenden Empfehlungen für die Erstellung von Prognosegutachten sind eine intensive Überarbeitung und Aktualisierung der „Mindeststandards für Prognosegutachten“ (Boetticher et al. 2006Footnote 1) auf dem heutigen Stand gutachterlicher Erfahrung und erfahrungswissenschaftlicher Forschung. Die Erstellung von Prognosegutachten setzt eine einschlägige Erfahrung in der Exploration von straffälligen Personen, Kompetenz im eigenen erfahrungswissenschaftlichen Fachgebiet sowie gediegene kriminologische Kenntnisse voraus. Neben der Beachtung allgemeiner Prinzipien erfordert die Beantwortung der unterschiedlichen Fragestellungen ein hinsichtlich Umfang und Akzentsetzung jeweils individuell angepasstes Vorgehen; so gibt es auch vergleichsweise eng umschriebene Aufgabenstellungen wie beispielsweise bei Lockerungsgutachten. Aufträge, die zu Rollenkonflikten führen, sollten nicht übernommen werden (z. B. externe Begutachtung bei vormaliger Behandlung).

A. Empfehlungen für die Form von Prognosegutachten

Für ein fachgerechtes Prognosegutachten gelten die Prinzipien, die generell bei wissenschaftlich fundierten Begutachtungen im jeweiligen Einzelfall zu berücksichtigen sind.

A.1 Nennung von Auftraggeber und Fragestellung, ggf. Präzisierung

Eine Präzisierung ist erforderlich, wenn aus Sicht des Sachverständigen (Gutachter) der Auftrag für das Gutachten nicht eindeutig ist. Dann ist Rücksprache mit dem Auftraggeber zu halten.

A.2 Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung

A.3 Dokumentation der Aufklärung

Unabhängig von der juristischen Frage nach Bestehen und Umfang von Aufklärungs- und Belehrungspflichten ist der zu Begutachtende (Proband) darüber ins Bild zu setzen, in wessen Auftrag und zu welcher Fragestellung eine Begutachtung erfolgen soll, dass der Gutachter gegenüber dem Auftraggeber keine Schweigepflicht hat und ihm, falls er als Zeuge vernommen werden sollte, auch kein Schweigerecht zusteht. Ferner muss der Proband informiert sein, dass er nicht verpflichtet ist, Angaben zu machen.

A.4 Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungs- und Dokumentationsmethoden

Dargelegt werden muss beispielsweise die Verwendung von Video- oder Tonbandaufzeichnungen, die Beobachtung des Begutachteten durch andere Personen oder die Unterstützung durch Dolmetscher.

A.5 Angabe der Erkenntnisquellen und getrennte Wiedergabe

  1. a)

    Akten

  2. b)

    Subjektive Darstellung des Probanden

  3. c)

    Beobachtung und Untersuchung

  4. d)

    Zusätzlich durchgeführte Untersuchungen (z. B. bildgebende Verfahren, test- oder neuropsychologische Zusatzuntersuchung, Fremdanamnese)

Der Sachverständige hat zu begründen, wenn die Erschließung weiterer Informationsquellen notwendig ist. Zusätzlich zu medizinischen, psychologischen und kriminologischen Untersuchungsverfahren kann z. B. die Einholung fremdanamnestischer Angaben von signifikanten Dritten (z. B. Partnerinnen) zur Gewinnung von Informationen über den sozialen Empfangsraum oder das Sexualleben des Probanden erforderlich werden. Während medizinische, psychologische und kriminologische Untersuchungsverfahren von ihm selbst durchgeführt oder veranlasst werden können, ist die Zulässigkeit von Zeugenvernehmungen (sog. Fremdanamnese) durch den Sachverständigen vorab mit dem Auftraggeber zu klären.

A.6 Kenntlichmachung von interpretierenden und kommentierenden Äußerungen

Interpretationen und Kommentare sind unterscheidbar von der Wiedergabe von Informationen oder Befunden aufzuführen.

A.7 Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten und den daraus abzuleitenden Konsequenzen

Bestehen Unklarkeiten oder Schwierigkeiten der Informationsgewinnung und ergeben sich hieraus Konsequenzen für die Erstellung des Prognosegutachtens, sollten diese dargelegt und ggf. der Auftraggeber rechtzeitig informiert sowie auf weiteren Aufklärungsbedarf hingewiesen werden.

A.8 Kenntlichmachung der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der beteiligten Gutachter und Mitarbeiter

A.9 Beachtung der üblichen Zitierpraxis bei Verweisen auf spezielle wissenschaftliche Erkenntnisse

Falls spezielle Literatur zur Darlegung wissenschaftlicher Sachverhalte herangezogen wird, ist diese so zu zitieren, dass die Referenz nachvollzogen werden kann.

A.10 Klare und übersichtliche Gliederung

B. Empfehlungen für die inhaltliche Gestaltung von Prognosegutachten

Abschnitt B gibt Empfehlungen für die Durchführung der Begutachtung, die Erschließung der schriftlichen Informationen und die Untersuchung des Probanden selbst. Ziel ist es, ein möglichst exaktes, durch Fakten begründetes Bild der Person des Probanden, seiner Lebens- und Delinquenzgeschichte, ggf. seiner Störungsanamnese, der situativen Rahmenbedingungen der Taten, der in seinen Taten zutage getretenen Gefährlichkeit und seiner seitherigen Entwicklung zu gewinnen. Ohne die Rekonstruktion dieser Bereiche fehlt einer prognostischen Einschätzung das entscheidende Fundament.

Für eine problemorientierte Exploration des Probanden ist es unerlässlich, dass der Sachverständige über ein sicheres Faktenwissen zu den Ereignissen in der Vergangenheit verfügt; dies gilt in schwierigen Fällen auch für einstige Zeugenaussagen und frühere Einlassungen des Probanden. Der Sachverständige hat ggf. von sich aus die relevanten Akten anzufordern.

B.I Empfehlungen für die Informationsgewinnung

B.I.1 Umfassendes Aktenstudium

Ausgangspunkt des Aktenstudiums ist üblicherweise das Vollstreckungsheft mit dem Urteil, den seither erstellten Gutachten und Berichten der Vollzugseinrichtungen, Schriftsätzen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft sowie den Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer. Erforderlich ist das Gutachten des Einweisungsverfahrens, das sich nur selten im Vollstreckungsheft befindet. Insbesondere in Fällen einer sehr knappen Tatschilderung im Urteil oder unklarer motivischer oder situativer Tathintergründe oder diagnostischer Zweifel ist die Rekonstruktion der Ausgangsproblematik anhand der Sachakten des zu Grunde liegenden Verfahrens erforderlich, ggf. auch unter Einbeziehung der Akten zu früheren relevanten Strafverfahren. Zusätzlich zur Kenntnisnahme der Berichte der Vollzugseinrichtung bzw. der Gefangenen-Personalakten kann die Einsichtnahme in die Krankenakten der Maßregelvollzugsklinik, bzw. in die Gesundheitsakten sinnvoll sein (zur Einsichtnahme in diese Akten vgl. Abschnitt B.III.3.a).

Die wesentlichen, beurteilungsrelevanten Ergebnisse der Aktenauswertung sind im Gutachten darzustellen, so dass es aus sich heraus verständlich und in seinen Schlussfolgerungen nachvollziehbar wird. Gibt es bereits Vorgutachten, die dies leisten, ist zu prüfen, in welchem Umfang eine Wiederholung oder aber eine knappe Zusammenfassung geboten ist. Bei der Rekonstruktion des Unterbringungs- oder Haftverlaufs geht es vor allem um den Nachvollzug des realen Geschehens und des konkreten Verhaltens des Probanden.

B.I.2 Adäquate Untersuchungsbedingungen

Ein Untersuchungsgespräch sollte nur unter fachlich akzeptablen Bedingungen durchgeführt werden, die ein ordnungsgemäßes, konzentriertes Arbeiten zulassen. Die Begutachtung muss ggf. verschoben werden bis solche Bedingungen sichergestellt sind.

B.I.3 Angemessene Untersuchungsdauer

Die Exploration ist für den Probanden möglicherweise für Jahre die letzte Chance, seine Person und seine Sicht der Dinge darzustellen. Dafür ist ihm angemessen Raum zu geben. Bei begrenzten Fragestellungen oder bei vorangegangenen ausführlichen Begutachtungen kann ein einziger Untersuchungstermin ausreichend sein. Bei komplexen Fragestellungen und Erstuntersuchungen wird der Sachverständige in der Regel mehrere Termine wahrnehmen.

B.I.4 Haltung des Sachverständigen

Neben „technischen“ Fertigkeiten ist eine authentische und respektvolle kommunikative Haltung des Sachverständigen wichtig. Sie beinhaltet ein echtes Interesse an der Person des Begutachteten, das sich beispielsweise in Aufgeschlossenheit auszudrücken vermag. Ein respektvoller Umgang verpflichtet insbesondere zu Objektivität und Fairness, etwa zur ausdrücklichen Klärung der eigenen Aufgabe und Rolle im Verfahren.

B.I.5 Mehrdimensionale Untersuchung

Unter „mehrdimensionaler Untersuchung“ ist zu verstehen, dass themenbezogen die nachfolgend benannten, elementaren Bereiche unter Verwendung der Akteninformationen und Explorationsergebnisse analysiert werden:

  • Entwicklung und gegenwärtiges Bild der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens

  • Im Falle einer psychischen Störung: Krankheits- bzw. Störungsanamnese

  • Analyse der Delinquenzgeschichte

  • Analyse des Tatbildes und der situativen Rahmenbedingungen

  • Verlauf seit dem Indexdelikt

  • Perspektiven

Diese Bereiche sind im individuellen Lebensverlauf zeitlich und sachlich verzahnt.

B.I.6 Umfassende Erhebung

Es sollte eine umfassende Exploration erfolgen – soweit ein ggf. vorliegendes Erkrankungsbild des Probanden dies zulässt – zu beispielsweise folgenden Themengebieten: Herkunftsfamilie, ggf. Ersatzfamilie, Kindheit (Kindergarten- und Grundschulalter), Schule/Ausbildung/Beruf, finanzielle Situation, Erkrankungen (allgemein/psychiatrisch), Suchtmittel, Sexualität, Partnerschaften, Freizeitgestaltung, ggf. Vollzugs- und Therapieverlauf, soziale Bezüge, Lebenseinstellungen, Selbsteinschätzung, Umgang mit Konflikten, Zukunftsperspektiven. Im Einzelfall müssen nicht alle dieser Bereiche der Lebensgeschichte relevant sein.

Eine ausführliche Exploration sollte insbesondere in Bezug auf die gesamte, bisherige Delinquenz erfolgen (evtl. Benennung spezifischer Tatphänomene, Tatmotive, Gewaltbereitschaft, Haltung zur eigenen Delinquenz, zu den Opfern, Veränderungsprozesse seit letztem Delikt, eigene Einschätzung des Probanden von zukünftigen Risiken und Gegensteuerungsmöglichkeiten, etc.). Falls es sich um die erste Begutachtung des Probanden handelt, sollte man sich hinsichtlich der zu erhebenden Informationen an den „Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten“ orientieren (Boetticher et al., 2005). Dies betrifft insbesondere die delikt- und diagnosespezifische Exploration. Informativ ist eine Wiedergabe der Äußerungen im Gutachten, aus der die Gesprächs- und Argumentationshaltung des Probanden deutlich wird. Die möglichst getreue Dokumentation von Kernaussagen erleichtert es, sie einem späteren Vergleich zugänglich zu machen.

Widersprüche beispielsweise zwischen Angaben und Akteninhalt oder zwischen den Aussagen des Probanden gegenüber verschiedenen Untersuchern oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten sollten angesprochen werden. Wenn der Proband rechtskräftig verurteilt ist, muss der Sachverständige die Urteilsfeststellungen berücksichtigen und darf den Probanden mit den zu Grunde gelegten Sachverhalten konfrontieren, ohne dass er sich damit dem Vorwurf der Befangenheit aussetzt. Der Sachverständige darf aber auch neue Erkenntnisse (z. B. über Tatmotive) in seine Überlegungen einbeziehen.

B.I.7 Beobachtung des Verhaltens, psychischer Befund und Persönlichkeitsbeschreibung

Unverzichtbar ist eine ausführliche und anschauliche Beschreibung des gegenwärtigen psychischen Zustandes des Probanden; darunter fallen auch psychopathologische Phänomene im Hinblick auf eine psychische Erkrankung. Der Sachverständige soll, auch persönlichkeitsdiagnostisch, das Interaktionsverhalten, die Selbstdarstellungsweisen, die emotionalen Reaktionsweisen, den Denkstil des Probanden in der Untersuchungssituation wahrnehmen und anschaulich beschreiben. Es ist daher günstig, sich bald nach den Gesprächen nochmals alle Wahrnehmungen zu vergegenwärtigen und sie sprachlich zu fassen. Bei einem ggf. vorzunehmenden weiteren Untersuchungsgespräch können erste Eindrücke überprüft und ergänzt werden.

B.I.8 Indikationsgeleitete Durchführung bzw. Veranlassung testpsychologischer Diagnostik

Testpsychologische Untersuchungen verwenden standardisierte Verfahren, deren psychometrische Qualität (wie genau und wie aussagekräftig ist die Messung?) durch vorangegangene empirische Studien belegt sein muss. Durch die Standardisierung des Vorgehens sowie die daraus resultierende Transparenz können testpsychologische Untersuchungen nützlich sein, sofern die Auswahl der Verfahren hypothesen- bzw. indikationsgeleitet erfolgt. Eine notwendige Voraussetzung für die sinnvolle Auswahl und Anwendung testpsychologischer Instrumente ist deshalb die Formulierung einer einzelfallbezogenen Hypothese bzw. Indikation. Für Prognosegutachten sind aufgrund der Spezifika der forensischen Testsituation die Eignung (ist der Test geeignet, das in Frage stehende Konstrukt im vorliegenden Fall angemessen zu erfassen?) und die psychometrischen Qualitätskriterien von besonderer Bedeutung und müssen im Gutachten dargelegt werden.

B.I.9 Indikationsgeleitete Durchführung bzw. Veranlassung anderer Zusatzuntersuchungen

Neben den klassischen Selbstauskunftsverfahren stehen dem Sachverständigen weitere (indirekte, psychophysiologische) Testverfahren zur standardisierten Diagnostik zur Verfügung, deren Anwendung allerdings ebenso die oben genannten diagnostischen und methodischen Anforderungen erfüllen muss. Gleiches gilt für sonstige, beispielsweise neuropsychologische und neurophysiologische Zusatzuntersuchungen, wobei letztere aufgrund des hohen Aufwands und des nach wie vor für die Beantwortung prognostischer Fragestellungen beschränkten Nutzens nur vergleichsweise selten indiziert sein werden. Sie können beispielsweise dann angebracht sein, wenn es eine zwischenzeitlich eingetretene Erkrankung weiter abzuklären gilt (z. B. Alkoholfolgen, Unfallschäden). Vor Durchführung bzw. Veranlassung eines Zusatzgutachtens sollte die Kostenzusage des Auftraggebers eingeholt werden.

B.I.10 Überprüfung des Vorliegens empirisch gesicherter Risikovariablen und protektiver Faktoren

Die Informationen aus Aktenstudium und Exploration können ggf. auch mit erfahrungswissenschaftlich fundierten, standardisierten Instrumenten zur Risikoeinschätzung erfasst und bewertet werden. Diese Instrumente vermögen hilfreich zu sein, um zu prüfen, ob die Exploration all jene Bereiche erfasst hat, die für viele Fälle kriminologisch relevant sind. Sie ermöglichen eine Bewertung und eine Interpretation von Informationen, die einem standardisierten und damit wissenschaftlich überprüfbaren Prozedere folgen, womit Verzerrungen und Fehlerquellen der menschlichen Urteilsbildung reduziert werden können. Sie erfassen besonders wichtige und häufige Risikofaktoren, deren generelle prognostische Relevanz durch empirische Studien als belegt gelten kann. Ein Ende der Entwicklung neuer standardisierter Instrumente ist nicht abzusehen, weshalb die Festlegung auf ein bestimmtes Verfahren weder sinnvoll noch notwendig ist. Sie liefern gruppenstatistische Daten als Zuarbeit zur letztlich erforderlichen individuellen Einschätzung.

Die zur Anwendung ausgewählten Verfahren müssen die folgenden methodischen Anforderungen erfüllen:

  • Standardisierung, im Falle von Übersetzungen fremdsprachiger Instrumente insbesondere auch in der deutschsprachigen Version;

  • Vorliegen eines Manuals zur Erläuterung der praktischen Anwendung, insbesondere zur Bewertung der Items sowie zur Interpretation;

  • Vorhandensein von Daten zur Reliabilität (Zuverlässigkeit des Instruments; wie genau erfasst das Instrument das in Frage stehende Konstrukt) und Validität (Gültigkeit des Instruments);

  • Verfügbarkeit von angemessenen Normverteilungen für den deutschsprachigen Raum, falls es sich um ein statistisch-nomothetisches (aktuarisches) Instrument handelt, dessen Interpretation eine Verwendung von Normwerten vorsieht.

Der Untersucher hat zu prüfen, ob das ausgewählte Instrument für den zu begutachtenden Fall passend und entsprechend validiert ist. Die Bewertung der Items sowie die abschließende Interpretation der Ergebnisse müssen transparent und damit für alle am Begutachtungsprozess beteiligten Personen und Parteien nachvollziehbar sein. Der Sachverständige muss ein korrektes, den Operationalisierungen entsprechendes Verständnis der Items besitzen, ebenso fundierte Kenntnisse über die methodischen Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des betreffenden Instrumentes. Diese Verfahren ersetzen die hermeneutische oder hypothesengeleitete Individualprognose nicht, helfen aber, empirisches Wissen für die Prognose nutzbar zu machen und gewährleisten eine Orientierung an international üblichen Standards.

B.I.11 Fehlen von Informationen

Werden fehlende Unterlagen dem Sachverständigen ggf. auch auf entsprechendes Ersuchen nicht zur Verfügung gestellt oder wird ein persönliches Untersuchungsgespräch abgelehnt, muss der Sachverständige entscheiden, ob er auf der Basis der vorliegenden Informationen eine fundierte gutachterliche Äußerung abgeben kann. Verlangt der Auftraggeber nun die Erstellung eines Gutachtens unter diesen Bedingungen, beispielsweise allein nach Aktenlage, ist auf die Möglichkeiten und Grenzen der Aussagekraft unter den speziellen Bedingungen hinzuweisen.

B.II. Diagnose, ggf. Differentialdiagnose und Komorbidität

Sofern ein forensisch-psychiatrisch zu beschreibender Sachverhalt vorliegt, ist eine möglichst genaue Diagnose (orientiert gegenwärtig an ICD-10 [künftig ICD-11], ggf. auch DSM-5) zu stellen. Ferner sind ggf. differentialdiagnostische Optionen zu benennen. Die eingehende Diskussion der Diagnose und der ihr in diesem Fall zu Grunde liegenden Sachverhalte sowie der Differentialdiagnose erfolgt eigens oder im Rahmen der Beurteilung. Auch Komorbiditäten sind zu benennen und im Hinblick auf die prognostische Relevanz zu diskutieren. Die Diagnosestellung ersetzt nicht die Analyse der individuellen Delinquenz, ihrer Hintergründe und Ursachen.

B.III. Empfehlungen zur Erstellung der gutachterlichen Beurteilung

B.III.1 Grundzüge der Beurteilung

Die aus der genauen Studie des zu begutachtenden Einzelfalles gewonnenen Informationen (idiographisches Vorgehen) allein können eine kriminalprognostische Aussage nicht tragen. Sie müssen verbunden werden mit dem wissenschaftlich gewonnenen empirischen Wissen über Risikofaktoren und Rückfallhäufigkeiten bei unterschiedlichen Delikten, Delinquenztypen, Tätertypen, psychischen Störungsbildern und Altersgruppen (nomothetisches Vorgehen). Der Einzelfall ist dahingehend zu überprüfen, ob und wo er in diesen durch empirische Daten beschriebenen Erfahrungsraum einzuordnen ist. Das empirische Wissen erschöpft sich nicht in standardisierten Instrumenten zur Risikoerfassung oder zur Persönlichkeitsdiagnostik, sondern existiert in allen erfahrungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen.

Bei der Verknüpfung von Einzelfall und wissenschaftlichen empirischen Erkenntnissen sind zweierlei Vorgehensweisen möglich, die zum gleichen Ziel führen sollten. Man kann in der Beurteilung mit der Darstellung der kriminologischen Erkenntnisse zum Verlauf und zur Rückfälligkeit dieser Tätergruppe bzw. bei diesen Tätermerkmalen beginnen und dann in der Betrachtung des Einzelfalles darlegen, wie zutreffend die Vorgaben der empirischen Daten für den Einzelfall sind, ob also auch der Einzelfall die Voraussetzungen erfüllt, welche bei dem statistisch erfassten Kollektiv vorlagen (unter Berücksichtigung z. B. von Alter, Intelligenz, Geschlecht, kulturellem Kontext, psychischer oder körperlicher Krankheit). Oder man kann mit der Darstellung des Einzelfalles und seiner individuellen Besonderheiten beginnen und dies dann abgleichen mit den wissenschaftlich gesicherten empirischen Daten, die das Ausgangsrisiko beschreiben. Individuelle und erfahrungswissenschaftliche Betrachtungsweisen umfassen auch den Verlauf seit der Indexdelinquenz, zum Beispiel Effekte durch eine zwischenzeitlich erfolgte Behandlung, und den sozialen Empfangsraum. Für die Verfahrensbeteiligten muss in jedem Fall nachvollziehbar sein, auf welchem Weg und auf welcher wissenschaftlichen Grundlage der Sachverständige zu seinen Ergebnissen gelangt ist.

B.III.2 Konkretisierung der Gutachtensfrage aus sachverständiger Sicht

Zu Beginn der gutachterlichen Schlussfolgerungen ist es sinnvoll, den Kern des Begutachtungsauftrags nochmals zu benennen und die dafür wichtigen Gesichtspunkte zu konkretisieren. So erfordern beispielsweise Fragestellungen zur Entlassung oder zu Lockerungen unterschiedliche Akzentsetzungen. In jedem Fall kommt es aber zunächst darauf an, aus der Rekonstruktion der Vorgeschichte die basale Problematik des Probanden zu analysieren.

B.III.3 Mehrdimensionale Analyse der individuellen Delinquenz

Die mehrdimensionale Analyse umfasst die Rekonstruktion der Biographie unter risikorelevanten Aspekten, der Delinquenz- sowie ggf. Krankheitsgeschichte.

  1. a)

    Deliktspezifische Informationen

Ausgangspunkt ist die möglichst genaue Rekonstruktion von Tatablauf und Tathintergründen beim Anlassdelikt sowie bei weiteren bedeutsamen Taten.

  1. b)

    Kontextuelle Einbindung der bisherigen Delinquenz

Betrachtet werden sollten die situativen (akuten) Faktoren, die in den Stunden und Tagen vor und nach der Tat relevant waren, Umgebungsfaktoren, welche die Lebenssituation in den Tagen bis Monaten vor der Tat prägten, die Einbettung des Delinquenzgeschehens in die allgemeine Biographie sowie interaktionelle Aspekte. Dabei können die situativen Faktoren hochspezifisch und unwiederholbar oder aber überdauernd oder allgegenwärtig sein.

  1. c)

    Persönlichkeitsspezifische Faktoren

Zu erfassen sind Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsbild in ihrer Bedeutung für Einstellungen, Selbstkonzept, Verhaltensmuster sowie Handlungsbereitschaften, und in diesem Rahmen für kriminelles Verhalten bzw. protektives Potential. Es ist zu erörtern, worin die in den bisherigen Taten zutage getretene Gefährlichkeit der Persönlichkeit bestanden hat, welche prädisponierenden, auslösenden, aufrechterhaltenden und protektiven Faktoren vorlagen, und wie diese zusammenspielten, um die Taten zu bedingen.

  1. d)

    Krankheits- oder störungsspezifische Faktoren

Hier ist zu erläutern, ob und in welcher Ausprägung psychische Störungen, psychische oder sonstige Krankheiten aufgetreten sind und wie sie sich auf den Lebenslauf und das delinquente Verhalten ausgewirkt haben.

Aufgrund der Analyse dieser verschiedenen Bereiche soll vor dem Hintergrund empirischen Wissens, soweit möglich, ein individuelles Modell des Bedingungsgefüges der bisherigen Delinquenz (individuelle Delinquenzhypothese) generiert werden. Der Sachverständige soll sich in die Denk- und Wahrnehmungsweisen des Probanden im Tatvorfeld bis ins Tatgeschehen, in sein Selbstkonzept und seine Wahrnehmung der anderen Personen in seinem Umfeld möglichst hineinversetzen und – im Regelfall der nichtpsychotisch motivierten Tat – davon ausgehen, dass auch Gründe für die Tat vorlagen; ich-widrige, quasi ungewollte „Impulsdurchbrüche“ sind eher selten. Diese Gründe gilt es aufzuzeigen und in den Kontext von Persönlichkeit und biographischer Erfahrung zu stellen.

Dabei darf dieses Model keine künstliche Schlüssigkeit dadurch erhalten, dass Fakten vernachlässigt werden, wenn sie zur Haupttendenz der Ergebnisse in Widerspruch stehen. Mitunter sind Diskrepanzen erst zu einem späteren Zeitpunkt, nach Gewinnung weiterer Informationen oder auch gar nicht auflösbar. Gerade durch die Analyse von Widersprüchen lassen sich aber oftmals zusätzliche Erkenntnisse gewinnen.

Ausgehend von der Delinquenzhypothese ist zu prüfen, welche der damaligen Gegebenheiten, wie Bedürfnisse, Motivationen und Haltungen, angesichts des gegenwärtigen Selbstkonzepts und der veränderten Lebenssituation noch fortbestehen und eine Gefährlichkeit konstituieren könnten. Diese Überlegungen können dann auch die Erstellung eines individuellen Risikomanagementplans bahnen.

Gerade bei diagnostischer Unsicherheit oder bei Stagnation im Vollzugsverlauf ist es sinnvoll, die ursprüngliche Problematik nochmals detailliert zu betrachten und mit dem gegenwärtigen Zustand abzugleichen.

B.III.4 Diskussion des aktuellen empirischen Wissensstands

Die Anforderung der wissenschaftlichen Fundierung des Prognosegutachtens beinhaltet die Verpflichtung, den aktuellen Stand der forensisch-empirischen Wissenschaftsdisziplinen sachkundig zu berücksichtigen und den zu beurteilenden Einzelfall in diesem Wissensstand einordnen und diskutieren zu können. Falls empirische Häufigkeiten berichtet werden, die auf spezifische, risikorelevante Subgruppen bezogen sind und i. d. R. über (aktuarische) Prognoseinstrumente ermittelt wurden, bzw. – in Fällen, für die solche nicht verfügbar sind – deliktbezogene Rezidiv- bzw. Basisraten, ist es wichtig, dass versiert die Anwendbarkeit dieser Aussagen auf den zu beurteilenden Einzelfall erörtert wird. Die Darstellung und kritische Diskussion des aktuellen empirischen Erkenntnisstandes dienen der Verortung des Einzelfalls im kriminologischen Erfahrungsraum. Sie sind immer vor dem spezifischen Hintergrund des Gutachtenauftrags (z. B. welcher Rückfallbereich im Mittelpunkt des Gutachtens steht) vorzunehmen. Unspezifische Wiedergaben von Prozentwerten, die keinen inhaltlich sinnvollen Bezug zum gegenständlichen Einzelfall aufweisen, sind zu vermeiden.

B.III.5 Darstellung der Entwicklung des Probanden seit der Anlasstat (postdeliktischer Verlauf)

Eine weitere Aufgabe besteht in der Klärung der Frage, wie sich der Verlauf seit der Anlasstat gestaltet hat und zu bewerten ist. Die Prüfung der relevanten Veränderungen in der Zeit seit der Tat erlaubt weitere Aussagen über die Persönlichkeit des Probanden, über Entwicklungsprozesse und sein Veränderungspotential. Besondere Aufmerksamkeit gilt den kriminogenen Verhaltensbereitschaften und den protektiven Faktoren. Betrachtet werden sollten beispielsweise Schwankungen in Verhalten, Selbstwirksamkeitsempfinden, Einstellung zur eigenen Delinquenz, Hospitalisierung sowie ggf. Psychopathologie, Krankheitseinsicht, Therapiemotivation und Adhärenz. Zu diskutieren ist, wodurch Änderungen bedingt sein mögen, und welche Ressourcen und Möglichkeiten, aber auch Grenzen dabei sichtbar werden.

In vielen Fällen ist dies verknüpft mit einer sachkundigen Therapieverlaufsbeurteilung. Dabei ist nicht nur zu betrachten, was der Proband geleistet hat, sondern auch, ob die angebotenen oder durchgeführten Therapien und das Setting geeignet waren, ihn zu fördern und Delinquenzrisiken zu mindern. Es geht nicht um Veränderungen oder sozial erwünschte Entwicklungen als solche, sondern darum, ob der Proband durch die Behandlung oder unabhängig davon Fortschritte gemacht hat und welche prognostisch relevanten Risiko- oder protektiven Faktoren gegenüber dem Tatzeitpunkt unverändert, abgeschwächt oder verstärkt sind, sowie, woran man dies konkret erkennen kann.

B.III.6 Übergangsmanagement, sozialer Empfangsraum und Nachsorge

Das Prognosegutachten zur Entlassbarkeit eines Probanden hat festzustellen, ob die noch vorhandenen individuellen Schwächen und Risikofaktoren eines Probanden durch geeignete Maßnahmen der Nachbetreuung hinreichend kompensiert werden können, und welcher Art diese Auflagen dann sein müssen. Es hat abzuklären, ob die aktuelle Verfassung des Begutachteten oder seine fortdauernde Gefährlichkeit die Möglichkeiten jeglicher poststationärer Nachsorge überfordert. Zu berücksichtigen ist, dass viele Trainings- und Stabilisierungsprozesse erst unter freiheitlichen Bedingungen erfolgen und nicht durch weitere Therapie im geschlossenen Vollzug ersetzt werden können.

Für die weitere ambulante Behandlung des Entlassenen können forensische Ambulanzen oder bei psychisch Kranken das psychiatrische Versorgungssystem genutzt werden, zudem die Betreuung durch Bewährungshilfe oder Führungsaufsicht. Die Abklärung der künftigen Lebensperspektiven und des sozialen Empfangsraums sind weitere entscheidende Aufgaben der Prognosebeurteilung (Arbeit, Wohnen, Partnerschaft, Sexualität, Sport, Freizeit, Kontakte zur Verwandtschaft, zu früheren Freunden und Bekannten).

Das Übergangsmanagement ist von der Haftanstalt bzw. der Maßregeleinrichtung aktiv und unter Einbeziehung des zu Entlassenden zu betreiben mit dem Ziel der stabilen sozialen Reintegration als wesentlichem kriminopräventiven Setting. Regelmäßig geht es darum, in Kooperation mit dem Probanden eine adäquate Wohnsituation zu schaffen und darauf aufbauend tagesstrukturierende Tätigkeit zu ermöglichen, Freizeitbeschäftigungen in Freiheit zu entwickeln und persönliche Beziehungen zur Vermeidung von Vereinsamung. Die aktive Einbeziehung des zu Entlassenden ist wichtig, um nach jahrelanger Hospitalisierung dessen Selbstwirksamkeitskonzept zu stärken. Der Entlassene ist nicht allein auf Vermeidungsverhalten hin zu orientieren (keine Suchtmittel, keine Straftaten), sondern auf positive Lebensziele, die den Verzicht auf delinquente Versuchungen erleichtern. Das Gutachten hat Vorschläge zu machen, in welche Richtung und unter Berücksichtigung welcher Notwendigkeiten der soziale Empfangsraum konkret ausgestaltet sein sollte.

B.III.7 Eingrenzung der Umstände, für welche die Prognose gelten kann

Die abschließende Beurteilung ist auf den expliziten Gutachtenauftrag auszurichten. Die individuelle Analyse der ursprünglichen Gefährlichkeit, die seitherige Entwicklung, der erreichte Stand sowie die objektiven und subjektiven Zukunftsperspektiven sind zusammenzuführen. Die bisherigen Entwicklungslinien sowie deren Bedeutsamkeit, Stabilität und Bewegungsrichtung sind entsprechend ihren analysierten individuellen Gesetzmäßigkeiten in die Zukunft fortzuschreiben.

Es kann auch eine Gewichtung einzelner günstiger oder ungünstiger Faktoren in ihrer Bedeutung für Fortschritte in der näheren oder ferneren Zukunft vorgenommen und dargelegt werden (beispielsweise die Beeinflussung der weiteren Entwicklungen durch Wirksamkeit und Verträglichkeit einer bestimmten Behandlung). Wesentliche Aufgabe eines Prognosegutachtens ist daher stets die Prüfung und Erörterung der Konditionen und Szenarien, unter denen Tendenzen zu einem Rückfall rechtzeitig erkannt, erste Schritte auf diesem Weg verhindert werden können und weitergehende Kriseninterventionen möglich sind.

B.III.8 Auseinandersetzung mit Vorgutachten

Vorgutachten können zu gleichen oder anderen prognostischen Einordnungen oder Schlussfolgerungen wie das gegenwärtige Gutachten gekommen sein. Mit beidem muss sich der Sachverständige auseinandersetzen. Gegebenenfalls kann diese Diskussion – deutlich als Kommentar ersichtlich – bereits in der Darstellung der Aktenlage erfolgen. Auch die von den Vorgutachten erhobenen Informationen sind ggf. erneut zu gewichten und die vormals daraus gezogenen Schlussfolgerungen aus der jetzigen Perspektive und vor dem Hintergrund des aktuellen Kenntnisstands auf ihre Validität zu überprüfen. Abweichende Einschätzungen müssen argumentativ begründet, tatsächliche oder scheinbare Widersprüche dargelegt und möglichst geklärt werden.

C. Synopsis

Ein Prognosegutachten hat sich in Inhalt, Herangehensweise und Aufbau an der Fragestellung zu orientieren. Es hat die in den Taten zutage getretene Gefährlichkeit eines individuellen Probanden in dem durch wissenschaftliche Forschung gesicherten empirischen Erfahrungsraum zu verorten. Es hat dafür die jeweiligen Besonderheiten anhand Biographie, Delinquenzgeschichte, psychischer und persönlichkeitsdiagnostischer Sachverhalte, Tatsituation und Tatmotivation in eine individuelle Delinquenzhypothese zu überführen und diese vor dem Hintergrund des gesicherten Erfahrungswissens zu überprüfen. Gestützt auf diese Verortung des sorgfältig erfassten Einzelfalls im empirischen Erfahrungsraum ist dann die gesetzlich geforderte individuelle Erfassung fortbestehender Delinquenzrisiken vorzunehmen.

Ein Prognosegutachten ist keine Prophezeiung, sondern eine dimensionale und explanatorische Einschätzung der gegenwärtig bestehenden Risiken und protektiven Faktoren im individuellen Fall. Die Ergebnisse nehmen Einfluss, mit dem Ziel, dass die Entwicklung des Probanden einen möglichst günstigen Verlauf nimmt. Die begründete Annahme einer Rückfallgefahr gibt stets Anlass zur bestmöglichen Veränderung der Sachverhalte, die der Prognose zugrunde liegen. Unausgewogene Gutachten, die ausschließlich die Risiken, aber nicht die Ressourcen eines Probanden benennen, können Verläufe nachhaltig negativ beeinflussen.

Weicht die weitere Entwicklung von der Beurteilung im Gutachten ab, kann dies daran liegen, dass es fehlerhaft erstellt worden ist. Auch eine fehlerfreie Prognostik garantiert jedoch nicht, dass sich das erzielte Ergebnis bewahrheitet. Eine Gewissheit über zukünftiges Verhalten kann es niemals geben. Im weiteren Verlauf werden zahlreiche Faktoren einwirken, die zum Zeitpunkt der Begutachtung nicht erkennbar gewesen sein konnten, insbesondere Veränderungen der Lebenssituation, darunter auch stark vom Zufall abhängige Einflüsse. Insofern kann stets eine andere als die angenommene Entwicklung eintreten, auch bei gut begründeter Extrapolation. Ein realiter günstigerer als dargelegter Verlauf ist möglicherweise u. a. durch das Gutachten selbst bedingt, da es im Idealfall zu einer Definierung risikobehafteter und protektiver Faktoren und entsprechender Interventionen führt, und in jedem Fall eine Beeinflussung in eine günstige Richtung selbst zum Ziel hat.