Die Effekte der durch den „PISA-Schock“ initiierten Schulreformen werden erstmals in Form einer „Gesamtbetrachtung“ (S. 14) bilanziert. Haben Bildungsstandards und kompetenzorientierte Kernlehrpläne, Monitoring und flächendeckende Lernstandserhebungen, forcierte Reformen der Lehrerbildung und Output-Steuerung fünfzehn Jahre nach PISA 2000 in ihrer Summe das „Modernisierungsdefizit bei Arbeitskultur, Professionalität und Wissensvermittlung, das das deutsche Schulsystem fest in der eingeschlagenen Spur des Industriezeitalters hält“ (S. 384), substanziell verbessert oder nur graduell ausgeglichen? Die so fokussierte Geschichte der Schule nach PISA stützt sich mit bald 800 Titeln benutzter Literatur auf ein außerordentlich breites Spektrum jüngerer und jüngster Befunde der empirischen Bildungsforschung und exemplifiziert die ernüchternde Diagnose des „bewegten Stillstands“ in sieben jeweils für sich stehenden und insofern auch unabhängig voneinander lesbaren Kapiteln. Diese behandeln (I) das sperrige Verhältnis zwischen „Reform und System“, (II) die „Hermetische Profession“ der Lehrerschaft, (III) die „lernschwache Arbeitskultur“ der Schule sowie (IV) die besondere Rolle der Bildungswissenschaften als „Embedded Sciences“, die bei aller wissenschaftlichen Distanz zu sehr in den vom Bildungssystem selbst vorgegebenen, begrenzten Reflexionsbahnen verhaftet erscheinen. Schließlich werden (V) Eltern, Schulträger und Stiftungen als unterschiedlich gewichtige „Stakeholder des Schulsystems“ diskutiert und (VI) Schulpolitik und -verwaltung nach PISA als „Getriebene Treiber“ problematisiert. Abschließend folgt ein (VII) „Exkurs“ über schulische Inklusion, der Theorie und Praxis als „‚Große Erzählung‘ und ‚Geteilte Wirklichkeit‘“ kontrastiert. Der Autor, Zeithistoriker und langjähriger Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Schulministerium, verkennt in seinen sehr gründlichen, so luziden wie zugleich detailreichen Analysen des Gesamtsystems, der Lehrprofession und der Arbeitskultur der Schule keineswegs die moderaten Entwicklungsfortschritte bei den Schulleistungen oder beim Rückgang der sozialen Selektivität des Schulsystems seit PISA 2000. Angesichts aber immer wieder nur gradueller oder gar ausbleibender Reformeffekte sieht er den zentralen Reformwiderstand in einem tief verankerten Strukturkonservatismus des Schulsystems. Damit werden weniger jene dem klassischen Bildungsbegriff unhistorisch verhaftete Reformkritiker angesprochen, für die „ganz offensichtlich das Gestern das neue Morgen“ (S. 370) ist, sondern die starken, teils subtil wirkenden Beharrungskräfte des Schulsystems selbst, basierend auf dem „Mythos der ‚alten Lernschule‘“ (S. 377). Der Strukturkonservatismus vermochte zur Abwehr von Reformen Strategien herauszubilden, durch die deren Ziele nachhaltig umgangen oder unterlaufen werden konnten, etwa dadurch, „Neuerungen einfach ‚systemgerecht‘ zu adaptieren“ (S. 374). Beispielhaft wird dies an den errichteten „‚Qualitätsfassaden‘“ (S. 45 ff.) von Lehrplänen und Schulnoten oder auch am Umgang mit Schulinspektionen und Evaluationen (S. 135 ff.) ausgeführt. Große, bislang nicht ausgeschöpfte Reformpotenziale arbeitet Heinemann in dem Feld „Arbeitskultur-Arbeitsverhältnisse-Arbeitsraum“ heraus, kritisch eingeordnet als „verdrängte Kernprobleme der Schulstrukturdebatte“ (S. 170 ff.). Hier stehen besonders der überkommene und überholte „Imperativ der Allzuständigkeit von hauptamtlichen Lehrkräften“ und die „Monostruktur der Schule“ (S. 171) im Fokus. Der „beachtliche Ressourcenzufluss“ an das Schulsystem mit der Verdreifachung der Zahl der Lehrkräfte pro Schüler in den letzten fünfzig Jahren habe die „Arbeitsorganisation und -kultur“ der Schule „kaum merklich weiterentwickelt“. Für einen ernsthaften „Umbau“ des Schulwesens müssten Personalstellen stärker „für die funktionale Differenzierung, den Aufbau von multiprofessionellen Teams“ eingesetzt werden. Überdies ließe sich mit dem in den letzten Jahrzehnten „beträchtlich aufgestockten Fachlehrerpersonal (…) durch die Einführung einer Präsenzpflicht weitaus wirksamer arbeiten“. Weiterhin sei die überkommene „Aufteilung der Finanzverantwortung zwischen Ländern und Kommunen“ angesichts des Ausbaus der Ganztagsschulen zu überdenken (S. 172). Und nicht zuletzt sollte die „Raumsituation in den deutschen Schulen“ den Anforderungen eines „inklusiven, ganztägig arbeitenden Schulwesens“ Rechnung tragen, das nicht nur traditioneller Klassenräume, sondern „vielerlei Orte“ des Lernens, der Erholung, etc. bedarf (S. 173). Sollen Schulreformen aber eine realistische Chance erhalten, wäre ein „Strategiewechsel“ der Schulpolitik notwendig. Dazu müsste sie „das Steuer wieder fester in die Hand“ nehmen, die Schulaufsicht „stärker ausbauen und besser ausbilden“, ja auch die Schulleitungen „als echte Vorgesetzte installieren“ (S. 385 f.).

Heinemann plädiert mit diesem gleichermaßen an Bildungspolitik, Bildungsforschung und -verwaltung gerichteten Band keineswegs für (noch) mehr Reformen, sondern sehr entschieden für optimierte Umsetzungsstrategien auch unter Einbezug des Bundes. Mit den gravierenden, dem Strukturkonservatismus des Schulsystems geschuldeten Umsetzungsproblemen und -defiziten der Reformpolitik adressiert der Autor komplexe, nicht leicht zu bearbeitende (Operationalisierungs‑)Probleme und Desiderate der Implementationsforschung zur Relevanz der Tiefenstrukturen von Bildungssystem und Systemreflexion für den Erfolg von Bildungsreformen. Verglichen mit aktuellen Bilanzen einer positiven Entwicklung der empirischen Bildungsforschung oder des neuen Reformschubs in der Lehrerbildung nach PISA bringt Heinemanns weiter gefasstes Resumé historisch vermittelte, dem Bildungssystem und seinen Reproduktionsmechanismen inhärente Reformbarrieren zur Geltung. Ermöglicht wird diese Perspektive auf der Basis reicher, breit gefächerter Erfahrungen und Kenntnisse als Akteur in der Schuladministration, die Heinemann mit der Bildungsforschung weniger kontrastiert als gut dosiert in seine Argumentation integriert. Nicht weniger Reformpolitik, wie gelegentlich zugunsten einer ruhigeren, kontinuierlicheren Schulentwicklung gefordert, sondern eine bessere – dies setzt nicht zuletzt eine weitere Professionalisierung der Schulverwaltung voraus, in der sich empirische Bildungsforschung und Verwaltungsperspektiven gegenseitig stimulieren und korrigieren.