Zusammenfassung
Eine Möglichkeit, das Verhältnis von Pädagogik und Gesellschaft zu beschreiben, scheint im Begriff Pädagogisierung zu liegen. In der jüngeren Diskussion lassen sich zwei Konzeptualisierungen dieses Begriffs unterscheiden. Pädagogisierung kann erstens als Transformation sozialer Probleme in pädagogische Probleme gedeutet werden. Hier wird unterstellt, dass soziale Probleme durch die Einwirkung auf Menschen mit den Mitteln institutionalisierter Erziehung und Bildung zu bearbeiten seien. Pädagogisierung lässt sich zweitens als Ausdifferenzierung eines symbolisch-kommunikativen Systems innerhalb der Gesellschaft beschreiben. Diese Vorstellung referiert auf die Ablösung des Pädagogischen von den klassischen Erziehungsinstitutionen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung rückt der vorliegende Beitrag in drei Fallstudien den gesellschaftlichen Umgang mit dem so genannten Dritte-Welt-Problem in der Bundesrepublik in das Blickfeld. Die dabei zu beobachtenden Bezugnahmen auf Pädagogik durch die Dritte-Welt-Protestbewegung, das zuständige Bundesministerium und Organisationen des Erziehungssystems werden als je unterschiedliche Pädagogisierungsfälle rekonstruiert. Deren Hybridität, d.h. sowohl Eingrenzung wie Entgrenzung, sowohl Bezug des Pädagogischen auf wie auch Ablösung des Pädagogischen vom institutionalisierten Erziehungssystem, legt es theoretisch nahe, so die These, Pädagogisierungsprozesse in den Zusammenhang von Formbildungen des Pädagogischen einzuordnen.
Summary
Pedagogicalization and System-building: The pedagogical aspect in society’s treatment of the Third-World-Problem
A possible way of describing the relationship between pedagogy and society could lie in an investigation of the pedagogical aspect and its systemization, here termed “pedagogicalization” (Pädagogisierung). In recent discussions two conceptions of this term may be distinguished. Pedagogicalization can firstly be understood as the transformation of social problems into pedagogical problems. This assumes that social problems can be dealt with through influencing people via the instruments of institutionalized education. Pedagogicalization can, secondly, be seen as a symptom of the emergent differentiation of a symbolic-communicative system within society. This conception refers to the increasing detachment of educational practice from the classic educational institutions. Following on from the distinction between these two conceptions, the following paper will investigate society’s treatment of the Third-World-Problem by way of three case studies from (West-)Germany. The reference to pedagogy made within the protest movement concerning the Third-World-Problem, by the federal ministry responsible for international development and within the institutions of the educational system will be treated as three different cases of the systematization of the pedagogical aspect. According to the argument laid out in this paper, its hybridity, i.e. its restriction and its extension, its reference to institutionalized education and the increasing detachment of pedagogy from institutionalized education suggests that processes for the systemization of the pedagogical aspect should be analyzed within the context of the form attributed to the pedagogical aspect itself.
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Proske, M. Pädagogisierung und Systembildung. ZfE 5, 279–298 (2002). https://doi.org/10.1007/s11618-002-0020-z
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