Klaus P. Stulle & Richard T. Justenhoven (Hrsg.): Personalauswahl 4.0. KI, Machine Learning, Gamification und andere Innovationen in der Praxis. Wiesbaden: Springer Gabler, 2023, 292 S., 49,99 €.

Wie wirkt sich Digitalisierung auf die Personalauswahl aus? Das Thema ist nicht neu. Insbesondere der erste Herausgeber hat schon mehrfach dazu publiziert. Doch die Entwicklung bleibt nicht stehen. Immer wieder werden neue Dinge ausprobiert und alte verbessert. Der Begriff der Personalauswahl 4.0 wird daher von den Herausgebern als Sammelbegriff für die Eignungsdiagnostik im „digitalen Zeitalter“ verwendet. Das Feld sortieren sie daher in drei größere Gruppen, die sich teilweise überlappen: Fremdbeurteilung (Verhaltensbasierte Verfahren), Selbstauskunft (Fragebogenbasierte Verfahren) sowie die Mischformen aus Selbstauskunft und Fremdbeurteilung (Interview-basierte Verfahren).

Die Fremdbeurteilung wird klassischerweise mit der Assessment-Center-Methodik in Verbindung gebracht. Die früher übliche Papier- & Bleistift-Ausführung ist schon längst nicht mehr State of the Art. Heute arbeiten die Beobachter mit vernetzten Tablets. Daten lassen sich so viel besser schützen, und Fallstudien werden in einem definierten Zeitfenster ausgegeben. Zeit- bzw. Raumpläne können dynamisch angepasst werden. Auch Übungsformate, die früher mit einer verbalen Instruktion daherkamen, können heute im Videoformat weiterentwickelt werden. So können auch komplexe Situationen simuliert werden. Und all das, was früher an einem Ort stattgefunden hat, lässt sich nun auch in Echtzeit oder asynchron digital-dezentral durchführen.

Selbstauskünfte lassen sich heute online rund um die Uhr mittels digitaler Diagnostika einholen. Solche Testbatterien können dezent in die Bewerbungsportale des jeweiligen Unternehmens eingebaut, auf Wunsch auch an das jeweilige Corporate-Design angepasst werden. Auf diese Weise lassen sich zusätzlich weitere Parameter (wie Bearbeitungsdauer etc.) generieren. Und die Ergebnisse lassen sich mit zielgruppengerechten Normgruppen auswerten. All dies ist zudem deutlich kostengünstiger als die alte Papier-und-Bleistift-Variante.

Um die Akzeptanz solcher Verfahren zu erhöhen, hat sich zunehmend „Gamification“ etabliert. Das nennt sich dann neudeutsch Recrutainment, wenn existierende Spiele für diagnostische Zwecke genutzt oder existierende Diagnostika in spielerische Szenen gekleidet werden. Und hier liegt auch eine besondere Chance, situative Settings digital zu gestalten – ob nun mittels Videos oder sogar in Virtual Reality. Der virtuelle Rundgang durchs Unternehmen lässt sich ohne Anreise des Kandidaten durchführen. Und das Unternehmen muss auch nicht zwanzig reale Rundgänge mit der entsprechenden Anzahl von Kandidaten machen. Man benötigt nur wenig Fantasie, sich vorzustellen, dass auf diese Weise smarte Kombinationen möglich werden: Der virtuelle Rundgang wird beispielsweise unterbrochen für ein Testverfahren.

Nicht neu in der Personaldiagnostik ist das Stichwort „Dunkle Triade der Persönlichkeit“ (Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie). Ergänzt wird es inzwischen durch die Betrachtung der sogenannten Hellen Triade (Optimismus, Selbstwirksamkeit und Resilienz). Nicht fehlen darf in einem solchen Buch das Stichwort Künstliche Intelligenz (KI), das dezidiert als „Machine Learning“ bezeichnet und damit entmystifiziert wird. Hatte man vor einiger Zeit mit Sprachanalyse experimentiert, hat man inzwischen erkannt, dass die Textanalyse die bessere Methode ist. Gesprochene Sprache aus Videobewerbungen ebenso wie Freitexteingaben werden automatisiert transkribiert und weiter analysiert. Der Computer kann bestimmte Muster erkennen und dann Rückschlüsse z. B. auf Persönlichkeitseigenschaften ziehen. Hierbei kann potenziell eine Diskriminierung (vorurteilsgetriebene Beurteilungsverzerrung durch Dialekt, Geschlecht etc.) verhindert werden. Während man bislang Diskriminierung durch KI unterstellte – denn die KI lernt aus Trainingsdaten, die einseitige Datenlagen repräsentieren können, z. B. „typisch männlicher Job“ –, erweist sich hier das glatte Gegenteil als Chance. Der „schwarze Peter“ der Anfälligkeit für einen „Nasenfaktor“ liegt damit wieder – altbekannt – im menschlichen Feld.

Zu den Mischformen gehören interviewbasierte Verfahren. Die Covid-19-Pandemie hat dazu beigetragen, dass Unternehmen mit Online-Vorstellungsgesprächen begonnen haben. Offenbar waren die Erfahrungen positiv. Populärer wurde in diesen Zeiten auch das sogenannte „Cybervetting“: Man importiert den Lebenslauf ohne Medienbruch aus Social-Media-Kanälen. Manche Personaler konnten den Verlockungen kaum widerstehen, noch gezielter nach („verräterischen“?) Informationen über die Kandidaten im Netz zu suchen. Der Beitrag von Mönke und Kolleginnen hierzu ist sehr informativ und warnt auch vor den „Risiken und Nebenwirkungen“ einer solchen Praxis. Gar mancher sitzt dabei impliziten Theorien auf, ohne die Vorurteile zu bemerken – und lässt die potenziellen Leistungsträger links liegen.

Über gängige Video-Plattformen lassen sich digital-dezentral Vorstellungsgespräche in Echtzeit führen. Zu bewähren scheint sich auch die zeitversetzte Variante: Bewerbende äußern sich via Video zu Fragen des Unternehmens. Hier fehlt die Interaktion mit dem Gesprächspartner allerdings komplett. Doch lassen sich solche Gespräche gut mit anderen Interaktionen koppeln, z. B. mit einem virtuellen Rundgang durch die Firmenzentrale.

Wird nun Mimik und Gestik der Kandidaten automatisiert ausgewertet, ergeben sich weitere Auswertungsmöglichkeiten. Wobei dies nicht nur als übergriffig kritisiert wird, sondern auch grundsätzliche Zweifel an der Relevanz solcher Daten bestehen. „Aus eignungsdiagnostischen Gesichtspunkten [bietet] eine Analyse der Stimmakustik wenig Informationsgewinn: Ob jemand laut oder leise, schnell oder langsam spricht, ermöglicht auch bei feinerer Auflösung der damit verbundenen Parameter einfach kaum Prognosen für den künftigen Berufserfolg, um direkt das zweifelsohne anspruchsvollste Ziel zu verwenden“ (S. 13).

Während technisch immer mehr und einfacher möglich wird, warnen die Herausgeber vor Over-Engineering, und zwar aus guten Gründen. Zum einen ist nicht alles, was technisch machbar scheint, auch eignungsdiagnostisch sinnvoll; es kann letzteres sogar konterkarieren (s. Cybervetting). Zum anderen hat sich der Markt gedreht. Wir haben heute einen Bewerbermarkt. Mangelnde Akzeptanz der Bewerbenden im Personalauswahlprozess fällt den Unternehmen schnell auf die eigenen Füße, wie der Buchbeitrag von Tim Warszta anschaulich zeigt. Auch der Nutzen von Virtual Reality scheint heute – trotz vieler Beispiele, die berichtet werden – noch unklar zu sein. Auch hier ist Akzeptanz, Stichwort „Employee Experience“, wichtig. Möglicherweise ist die Akzeptanz im Personalentwicklungskontext eine andere als bei der Personalauswahl.

Die Herausgeber raten daher zu einem wertschätzenden Umgang auf Augenhöhe mit den Kandidaten. „Multi-Modalität“, also die Kombination verschiedener Beurteilungsformate über alle Zugänge hinweg, sei zu gewährleisten. Und man solle auf jeden Fall nicht die Ansprüche senken nach dem Motto: Der Markt ist leer, also nehmen wir jeden. Fehlbesetzungen werden sich rächen. Sie verursachen Kosten und produzieren Kollateralschäden. Nachlassen sollte man beim Thema Qualität deshalb nie, weder bei den Verfahren noch bei der Schulung von Anwendern. Denn eines sei sicher, der menschliche Faktor bleibe in der Personalauswahl erhalten.