Während früher die Patienten-Therapietreue als Compliance (engl. „Zustimmung, Einhaltung, Befolgung“) bezeichnet wurde, hat sich mittlerweile in Literatur und im allgemeinen medizinischen Sprachgebrauch der Begriff „Adhärenz“ durchgesetzt. Compliance assoziiert Elemente der Unterwürfigkeit und entspricht einem eher veralteten Modell der paternalistischen Medizin. Aus heutiger Sicht passt der Begriff Adhärenz (engl. adherence: „sich an etwas halten“) besser zum informativen Konzept einer Arzt-Patienten-Beziehung und dem implizierten „shared-decision-making“.

Im Alltag gehen wir davon aus, dass der Herz-Patient nach durchgemachtem Myokardinfarkt seine verordneten fünf Medikamente täglich einnimmt, die Diabetikerin mit eingeschränkter Nierenfunktion neben der Pharmakotherapie sich an die diätischen Vorschriften hält, und das über viele Jahre. Ein dauerhafter und nachhaltiger Erfolg kann nur erreicht werden, wenn die Adhärenz über 80 Prozent beträgt, wie von der WHO postuliert. Die Realität sieht leider anders aus. Aktuellen Studien zufolge liegt die Adhärenz bei Patienten mit Hypertonie und Hyperlipidämie ein Jahr nach Krankheitsbeginn bzw. Diagnosestellung bei unter 40 Prozent. Untersuchungen für andere chronische Erkrankungen wie COPD oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED) kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Offenbar ist es weder durch ein geändertes Grundkonzept der Arzt-Patienten-Beziehung noch durch die Schaffung moderner Begrifflichkeiten gelungen, das Problem fehlender Therapietreue nachhaltig zu beseitigen. Die Gründe für die Non-Adhärenz sind vielfältig und lassen sich in fünf Komplexe (laut WHO „Dimensionen“) einteilen. Dabei spielen patienten- und therapiebezogene Faktoren die größte Rolle. Angst vor Nebenwirkungen (der berühmte, mit Textmarker bearbeitete Beipackzettel), unzureichendes Wissen über die Erkrankung oder fehlendes Vertrauen in die Therapie sind wichtige Patienten-Anteile. Daneben haben Krankheitsdauer, Schwere der Krankheitssymptomatik und sozioökonomische Faktoren (Bildungsniveau, Behandlungskosten) einen erheblichen Einfluss. Nicht zu vergessen sind Art und Weise der medizinischen Betreuung und letztendlich das Vertrauen zum Arzt oder der Ärztin. Im Gegensatz zur beabsichtigten Non-Adhärenz spielen gerade im höheren Lebensalter nachlassende kognitive Fähigkeiten eine zunehmende Rolle und führen zu unbewusster Non-Adhärenz - ein Problem, das jedem aus seiner hausärztlichen Tätigkeit bestens bekannt sein dürfte (Tabletten vergessen, abendliche Insulininjektion ausgelassen etc.).

Langfristig führt Non-Adhärenz bei Chronikern nicht nur zu einer deutlichen individuellen Prognose-Verschlechterung. Darüber hinaus wird das gesamte Gesundheitssystem in Deutschland belastet, die damit verbunden Kosten werden auf 10 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Abhilfe tut also not, nur ist die Lösung des Problems leider recht komplex. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist es, sich damit auseinanderzusetzen und „den Elefanten im Raum“ nicht zu ignorieren.

Bei bewusster Nichteinhaltung von Therapieempfehlungen stehen kommunikative Maßnahmen wie Aufklärung, Wissensvermittlung und Motivationsförderung im Vordergrund. Dabei sollte darauf geachtet werden, Patienten auf der emotionalen Ebene anzusprechen. Dazu gehören die motivierende Gesprächsführung („change talk“) und das aktive Zuhören, wenn es zum Beispiel um Sorgen oder Ängste im Rahmen einer medikamentösen Behandlung geht. Ganz im Vordergrund sollte die positive Unterstützung stehen, die Bekräftigung der Therapietreue und die Fokussierung auf die bereits erreichten Erfolge. Auch die behutsame Wissensvermittlung über drohende gesundheitliche Einbußen bei Nicht-Einhalten der vorgeschlagenen Therapie können der Non-Adhärenz entgegenwirken und motivationssteigernd wirken.

Digitale Helfer wie Patienten-Apps oder im Internet verfügbares Schulungsmaterial werden zunehmend eingesetzt, um durch visualisierte Aufklärung oder Lernprogramme mit spielerischen Elementen die Adhärenz zu steigern. Die kontinuierliche Schulung des Praxisteams ist in diesem Zusammenhang ein nicht zu unterschätzender Faktor. Empathische Patienten-Kommunikation und richtiger Umgang mit Konflikten und Beschwerden sind für die Patientenzufriedenheit und die damit verbundene Therapietreue mindestens ebenso bedeutend wie das Vertrauen in die ärztliche Expertise.

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© PHIL DERA

Dr. med. Ivo Grebe

Vorsitzender der AG Hausärztliche Internistinnen und Internisten des BDI