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© Friedrich / INTERFOTO (Mann) © Granger, NYC / INTERFOTO (Wal)

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„Oh, hätte ich das geschrieben“, äußerte Thomas Mann über den Roman „Moby Dick“ von Herman Melville (1819–1891). Das monumentale Buch des US-amerikanischen Autors über die Jagd des von Hass getriebenen Kapitäns Ahab auf den weißen Wal Moby Dick gilt heute als eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur. Zu Lebzeiten Melvilles verkaufte es sich eher schlecht, zeitgenössische Kritiker besprachen es zurückhaltend bis ablehnend.

Stelle als Zollinspektor mit Ende 40

Leben konnten Melville und seine Familie von der Schriftstellerei bald nicht mehr, so dass er mit Ende 40 eine Stelle als Zollinspektor in New Yorks Hafen annehmen und dieser Arbeit bis zu seinem 67. Lebensjahr nachgehen musste — erst eine Erbschaft seiner Frau befreite das Paar von finanziellen Sorgen. Zwar war er weiter literarisch aktiv, doch wäre Herman Melville fast in Vergessenheit geraten, wenn seine Werke in den 1920er-Jahren nicht von amerikanischen Literaturwissenschaftlern wiederentdeckt worden wären.

Nach der Veröffentlichung von „Moby Dick“ im Jahre 1851 entwickelte Melville eine Reihe von psychischen und körperlichen Beschwerden, die von ersten Biographen als „psychosomatisch“ abgetan oder gleich als Ausdruck einer schweren Geisteskrankheit gesehen wurden. „Das Wort ‚Irrsinn ‘ist viel zu schwach, um Melvilles Geisteskrankheit zu beschreiben“, so Lewis Mumford in einem 1929 erschienenen Buch über Melvilles Leben. Auch über Alkoholismus wird berichtet. Allein, überzeugende Belege für diese Behauptungen ließen sich nicht finden, so der Internist Dr. John J. Ross von der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts.

Alkohol, um „warm“ zu werden

Melville war ein sehr zurückhaltender Mensch, ja ein Misanthrop. Alkohol trank er, um in Gesellschaft „warm“ zu werden. Wenn er, zumindest in jungen Jahren, an einem Roman arbeitete, dann in einem Zustand von Ekstase und bis zur völligen Erschöpfung. Stundenlang, ja den ganzen Tag konnte er am Schreibtisch sitzen, ohne auch nur eine Pause für Essen und Trinken einzulegen. Während seiner Arbeit an „Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten“ verließ er sein Arbeitszimmer oft nicht vor Einbruch der Dunkelheit, um erst dann überhaupt feste Nahrung zu sich zu nehmen. Er schreibe in einem Zustand „morbider Nervosität“, hieß es.

Sozialer Abstieg schon als Kind

Tatsächlich bestand eine familiäre Belastung für Depressionen: Seine Mutter und deren Mutter litten an schweren Depressionen, der Vater hatte womöglich eine bipolare Störung, auch sein Bruder Alan neigte zu depressiven Phasen, die Schwester Kate hatte eine Zwangsstörung. In gutbürgerlichen Verhältnissen geboren, musste er als Elfjähriger erleben, wie sein Vater Bankrott machte, sein Bruder starb. Sozial ging es steil bergab, mit 12 Jahren musste er die Schule verlassen. Mit 19 heuerte er das erste Mal als Matrose an und verbrachte die nächsten fünf Jahre hauptsächlich als Seemann. Eine harte Zeit. „Ein Walschiff war mein Yale Collage und mein Harvard“, heißt es in „Moby Dick“ — ein autobiografischer Hinweis, wie er sich auch in anderen Werken findet, ebenso wie Hinweise auf persönliche Erfahrungen mit psychischen Problemen.

Nach John Ross’ Auffassung spricht einiges für das Vorliegen einer bipolaren affektiven Störung bei Melville mit Phasen von Depressionen und Hypomanien. Während der Arbeit an „Moby Dick“ soll Melville einmal scherzhaft einen Freund gebeten haben, ihm doch 50 schnellschreibende junge Leute vorbeizuschicken, weil er eine Menge Ideen für künftige Werke habe, leider aber keine Zeit, um über diese Ideen einzeln nachzudenken. Nach den kommerziellen Misserfolgen mit „Moby Dick“ und „Pierre“ nahmen die Phasen der Hochstimmung ab und Melville versank zunehmend in Düsternis und war körperlich angeschlagen. Trotzdem blieb er erstaunlich produktiv. 1856 war sein Schwiegervater Lemuel Shaw, Präsident des Massachusetts Supreme Court, allerdings so besorgt über Melvilles Gesundheitszustand, dass er ihn auf eine Erholungsreise nach Europa und den Nahen Osten schickte.

Medikamente gegen „Ischias“

Dabei traf er auch sein Vorbild, den Schriftsteller Nathaniel Hawthorne, amerikanischer Konsul in Liverpool. Dieser berichtete über heftige Kopf- und Gliederschmerzen Melvilles. Bereits zwei Jahre zuvor, so beschrieb es Melvilles Frau Lizzie später, muss er unter einer ersten schweren Rückenschmerzattacke gelitten haben. Der Arzt Oliver Wendell Holmes (1809–1894), Professor an der Harvard Medical School (auf ihn geht der Begriff „Anästhesie“ zurück), verschrieb ihm Medikamente gegen „Ischias-Beschwerden“, ohne das Genaueres über die Symptome und die Behandlung überliefert ist.

Betrachtet man die Symptomkonstellation, sieht es so aus, als ob Melville einen Morbus Bechterew hatte. So traten immer wieder starke, anfallsartige lumbale Schmerzen mit Ausstrahlung ins Gesäß und in die Oberschenkel auf — Schmerzen, die häufig zunächst als „Ischias-Beschwerden“ missinterpretiert werden, aber auf die Entzündungen und allmähliche Versteifung der Iliosakral — und Wirbelgelenke, Wirbelkörperfusionen und Konfigurationsänderungen der Wirbelsäule, beginnend an der LWS, zurückgeführt werden können. Später kamen Brustschmerzen hinzu, die auf Enthesiopathien der sternocostalen und manubriosternalen Gelenke sowie die allmähliche Versteifung der Brustwirbelsäule hindeuten.

Passanträge mit Angaben der Körpergröße belegen, dass Melville zwischen 1849 und 1856 um etwa 3,5 cm kleiner geworden ist. Zeitgenossen haben seine sehr aufrechte, militärisch anmutende und steife Körperhaltung in mittleren und späten Lebensjahren beschrieben. Die Rückenschmerzen waren auch ein Grund, warum Melville und seine Frau 1861 den Bauernhof Arrowhead bei Pittsfield, Massachusetts, aufgaben und zurück nach New York City zogen.

„Empfindlich wie Taubeneier“

Ein weiteres Indiz sind die bereits seit dem 31. Lebensjahr beschriebenen Augenschmerzen und Photophobien, die schubartig auftraten. Diese Beschwerden hielten bis ins hohe Alter an. „Empfindlich wie Taubeneier“ seien seine Augen, äußerte Melville einmal. Iridozyklitiden treten bei 30 bis 50 Prozent der Bechterew-Patienten auf und gehen nicht selten der Hauptsymptomatik voraus.

Hinzu kommen die mit Ende 50 auftretenden arthritischen Beschwerden in beiden Händen. Typisch für M. Bechterew sind zwar eher Arthritiden im Schulter- und Beckengürtel. Auch ist eine brustkyphotische Fehlhaltung bei Melville nicht beschrieben worden und er war außerhalb der Schmerzphasen körperlich stets aktiv, unternahm Wanderungen, konnte stundenlang in seinem Arbeitszimmer auf und ab gehen. Andererseits kann die Spondylitis ankylosans sehr variabel verlaufen.

Genaue Beschreibungen der Symptomatik sowie der Behandlungen des Autors, der immerhin 72 Jahre alt geworden ist, fehlen. Daher muss sicher ein Fragezeichen hinter die vermuteten Diagnosen gesetzt werden. Bis ins hohe Alter war Melville kreativ tätig und es fragt sich, ob dies der Fall gewesen wäre, wenn er sowohl als Kind wie als Erwachsener keine Familientragödien erlebt, keine körperlichen wie psychischen Probleme hätte durchmachen müssen. Und, so Ross, gäbe es heute ein Buch wie „Mobby Dick“, wenn bereits 1850 Lithiumsalze zur Verfügung gestanden hätten?