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Das chronische Rückenleiden verursacht neben Schmerz auch hohe Kosten.

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Über 18 Millionen Menschen leiden nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie hierzulande unter chronischen Schmerzen. 1,8 Millionen von ihnen gelten als schwer chronisch schmerzkrank. Doch obwohl diese Patienten dringend einer spezialisierten Schmerzbehandlung bedürfen, sind nur 2% davon in Betreuung hierfür qualifizierter Ärzte. So ist die Versorgungssituation in unserem Land noch immer schlecht. Die Probleme beim Umgang mit chronischen Schmerzen sowie deren Behandlungsmöglichkeiten hat Andreas Böger, Kassel, in der Zeitschrift „NeuroTransmitter“ zusammengefasst.

Paradebeispiel: Rückenschmerz

Der mit Abstand häufigste Grund für den Besuch bei einem Schmerztherapeuten ist ein dauerhaft schmerzender Rücken. In den westlichen Industrienationen geht man von einer Lebenszeitprävalenz für Rückenschmerz von 58–85% aus. 15% aller Arbeitsunfähigkeitstage, 18% aller Frühberentungen und 6% aller direkten Krankheitskosten gehen auf das Konto von Kreuzschmerzen. Und je weiter die Chronifizierung fortschreitet, desto heftiger explodieren die Kosten.

Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, wären frühzeitige Interventionen wünschenswert. So lohnt es sich, auf Risikofaktoren für eine Chronifizierung zu achten. Standardisierte Fragebögen können helfen, diese aufzudecken. Den stärksten Einfluss auf einen chronisch schmerzenden Rücken nehmen depressive Störungen. Aber auch mangelnder Bewegung sowie einem übertriebenen Durchhaltewillen trotz zunehmender Erschöpfung werden ein beträchtliches Potenzial zugeschrieben. Ein Blick auf die Liste der „yellow flags“ lässt weitere Prädiktoren erkennen, wie etwa Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, ein generell passiver Lebensstil, die Neigung zu katastrophisieren oder wenig soziale Unterstützung und Probleme in der Partnerschaft. Nicht zuletzt sollte auch die außerordentlich negative Wirkung von Noceboeffekten beachtet werden, die durch eine misslungene Kommunikation zwischen Arzt und Patient zustande kommen kann.

Zu wenige behandeln Schmerzen leitliniengerecht

Die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz aus dem Jahr 2010 hat seit ihrer Einführung offenbar noch nicht viele Ärzte erreicht. Denn an der Versorgungssituation der Patienten habe sich seitdem kaum etwas geändert, klagt der Schmerzexperte Böger. Noch immer würden körperliche Schonung, Massagen, Akupunktur und Magnetfeldtherapie verordnet. Dabei biete die Leitlinie ein einfaches, gestuftes Therapiekonzept sowohl für akute als auch für chronische Rückenschmerzen.

Liegen anamnestisch oder klinisch keine „red flags“ wie etwa ein Sturz, ein Unfall oder ein Malignom vor, sollen der NVL zufolge während der ersten vier Wochen in der Diagnostik keine bildgebenden Verfahren zur Anwendung kommen. Denn der daraus zu erwartende Informationswert ist zu gering und zum Teil irreführend. Dem Patienten müsse allerdings ausführlich und verständlich erklärt werden, warum man auf das früher obligatorische Röntgenbild verzichtet.

Bei Bedarf können kurzfristig Analgetika verordnet werden. Unbedingt abzuraten sei von Schonung, und auch Physiotherapien seien wegen ihrer passiven Natur zunächst nicht sinnvoll. Außerdem ist eine längere Krankschreibung in der Regel nicht zielführend. Persistieren die Schmerzen trotz leitliniengerechter Versorgung über zwölf Wochen und schränken den Alltag des Patienten ein, sollte die Indikation für eine multimodale Schmerztherapie geprüft werden. Liegen psychosoziale Risikofaktoren vor („yellow flags“), ist diese bereits nach sechs Wochen in Erwägung zu ziehen.

Multimodale Therapie

Die multimodale Schmerztherapie (MMS) gilt als Goldstandard zur Behandlung von Patienten, deren Schmerzen über mindestens sechs Monate anhalten. Die ambulant, tagesstationär oder vollstationär durchgeführte Maßnahme basiert auf einer präzisen Schmerzdiagnose. Nach einem vorgegebenen Therapieplan werden somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren einem unter den verschiedenen Experten abgesprochenen Ziel untergeordnet. Störungsspezifische Behandlung in Gruppen haben sich ganz besonders bewährt. Typische Kleingruppen setzen sich aus höchstens acht Teilnehmern zusammen. Allerdings müssen die Patienten reichlich Geduld mitbringen, denn es hat sich gezeigt, dass gute Effektstärken und eine nachhaltige Verbesserung der Funktion nur durch intensive Therapie mit mindestens 100 Stunden erreicht werden. Um so viel Energie aufzubringen, muss der Patient motiviert werden.

Die Effektivität der MMS ist vielfach belegt worden. Bei den Patienten konnte beispielsweise ein Rückgang der AU-Tage um 75% erzielt werden, und die Zahl der Arztbesuche halbierte sich.

Viele unzureichende Ansätze

Im Vergleich zu den Nachbarländern werden hierzulande noch immer besonders viele operative Eingriffe an der Wirbelsäule vorgenommen. Dass eine chirurgische Maßnahme aber in den allermeisten Fällen möglicherweise unnötig, wenn nicht gar kontraproduktiv ist, hat eine Initiative der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie demonstriert. Sie hat ein „Projekt zur integrierten Versorgung von Rückenschmerzen“ angestoßen, das bei Patienten mit Operationsindikation vorsieht, eine Zweitmeinung einzuholen. Das Ergebnis: In 89% der Fälle zweifelte der hinzugezogene Schmerzspezialist die Indikation zur Op. an, nur bei jedem zehnten Patienten wurde sie bestätigt. Besonders in der Kritik stehen derzeit auch sogenannte Wirbelsäulenzentren, so Böger, da sie oft nicht über die notwendige Interdisziplinarität verfügten, sondern eher als Portal für operative Interventionen dienen würden.

In deutschen Klinikambulanzen wurden in den letzten Jahren immer mehr Schmerzeinrichtungen gegründet, aber offenbar hapert es häufig an der Qualität. Zwar gaben in einer Umfrage 80% von ihnen an, multimodal zu behandeln, doch tatsächlich verfügten nur 5% der Klinikambulanzen über die nötigen psychologischen und physiotherapeutischen Qualifikationen. Unter den stationären Einrichtungen bekundeten 32%, ihren Patienten eine schmerztherapeutische Behandlung anzubieten, aber auch hier bestanden große Unterschiede in Art und Umfang. So bestehe laut Böger eine „stationäre Komplexbehandlung“ häufig vorrangig aus periradikulären Injektionen und Gerätetraining und erreiche eine viel geringere Effektstärke als die MMS nach den Richtlinien der Schmerzgesellschaften.

Unsicherheiten gibt es auch bei der Versorgung mit Analgetika. Schmerzmittel wie nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) sollten wegen ihres beträchtlichen Nebenwirkungspotenzials von Patienten mit chronischen Schmerzen nur kurzfristig und im Rahmen kombinierter Verfahren eingenommen werden. Dennoch ist ihre Einnahme noch immer auch über längere Zeiträume üblich.

Die umstrittenen Opioide werden in der aktuell überarbeitete S3-Leitlinie LONTS (Langzeitanwendung von Opioiden zur Behandlung bei nicht tumorbedingten Schmerzen) vom September 2014 auch weiterhin empfohlen. Opioidhaltige Schmerzmittel sind u.a. bei chronischem Rückenschmerz in Verbindung mit weiteren Maßnahmen für die befristete ein- bis dreimonatige Therapie indiziert. Tritt die gewünschte Schmerzlinderung bzw. Funktionsverbesserung nicht ein, ist die Fortsetzung der Opioidtherapie kontraindiziert. Bei individuellem Ansprechen kann laut LONTS, unter Beachtung der Möglichkeiten von Dosisreduktion und Auslassversuch, über drei Monate hinaus mit Opioiden behandelt werden.