Die Nahrungsaufnahme erfüllt neben der Sättigung auch wichtige andere Funktionen, die sich unter dem Begriff der Affektregulation zusammenfassen lassen. Es findet sich nicht selten eine Koppelung von negativen emotionalen Zuständen und Nahrungsaufnahme. Im Hinblick auf die Adipositas sind vornehmlich habitualisierte Handlungen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme von Interesse, die letztendlich zum Zweck der Spannungsabfuhr und des zumindest temporären Aufschubs negativer Gefühle sowohl qualitativ als auch quantitativ das Essverhalten beeinflussen.

Adipositas und Essstörungen

Mittlerweile wurde die Binge-Eating-Störung (BES) dank umfassender, vieljähriger Forschungsarbeiten im amerikanischen Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen (DSM-5) als eigenständige Diagnose aufgenommen. Zu den Hauptmerkmalen der BES zählen wiederkehrende objektive Essanfälle, die im Durchschnitt an mindestens einem Tag in der Woche über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten vorkommen müssen. Objektive Essanfälle sind gekennzeichnet durch ungewöhnlich große Nahrungsmengen und durch ein Gefühl des Kontrollverlusts.

figure 1

Psychologisches Modell zur Aufrechterhaltung einer Adipositas.

© 2013 Jayanthi Raman et al.

Die Essanfälle treten gemeinsam mit mindestens drei Symptomen auf, die Indikatoren des subjektiv empfundenen Kontrollverlustes über das Essverhalten sein können . Des Weiteren gilt, dass die Patienten ein deutliches Leiden aufgrund der Essanfälle empfinden. Patienten mit BES setzen kompensatorische Maßnahmen zur Gewichtskontrolle nicht systematisch ein. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der BES und Übergewicht bzw. Adipositas, wenn das auch keine Voraussetzung für die Diagnose darstellt. Patienten mit BES leiden unter erhöhter allgemeiner Psychopathologie (z.?B. Selbstwertprobleme, stärkere psychische Belastung, geringere psychosoziale Integration), sowie an mehr komorbiden psychischen Störungen und Persönlichkeitsstörungen als adipöse Patienten ohne BES. Ein Zusammenhang zwischen BES und Depressivität gilt als gesichert.

Therapie erster Wahl stellt bei BES die kognitive Verhaltenstherapie dar. Eine erfolgreiche Behandlung der Essstörungssymptomatik scheint mittel- und langfristig allerdings entgegen ursprünglicher Erwartungen keine deutliche Gewichtsreduktion nach sich zu ziehen, Patienten, die eine vollständige Remission der Essanfälle erreichen, verlieren jedoch signifikant mehr an Gewicht als Patienten, die weiterhin, wenn auch reduziert, Essanfälle angeben.

Neben der BES gibt es zahlreiche Varianten pathologischen Essverhaltens.

Adipositas, Depression und Angst

Es ist mittlerweile gut belegt, dass Adipositas mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, an einer psychischen Erkrankung zu leiden. Dies betrifft affektive Störungen, Angststörungen, durch Alkohol bedingte Störungen, aber auch Persönlichkeitsstörungen. Eine Metaanalyse von 17 bevölkerungsbasierten Querschnittsuntersuchungen konnte ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang zwischen Adipositas und Depression zeigen.

Bei der Komorbidität von Adipositas und Depression ist die gewichtssteigernde Wirkung vieler Psychopharmaka, u.?a. auch Antidepressiva und Neuroleptika, von Bedeutung. Auch psychosoziale Faktoren wie die Diskriminierung Adipöser oder mangelnder Antrieb und geringe Selbstfürsorge bei Depression stellen mögliche Faktoren dar, die diese reziproke Beziehung zwischen Depression und Adipositas erklären könnten. In einer weiteren Metaanalyse konnte gezeigt werden, dass auch Angststörungen bei Frauen wie bei Männern mit einer Adipositas zusammenhängen.

Ein psychologisches Modell zur Aufrechterhaltung der Adipositas

Neben der Rolle für die Entstehung spielen psychische Faktoren eine wesentliche Rolle in der Aufrechterhaltung einer Adipositas. Basierend auf den empirischen Ergebnissen in der Literatur erstellten Raman und Kollegen ein Modell, das auf die Bedeutung psychologischer Variablen hinweist.

Folgende, sich gegenseitig beeinflussende Faktoren sind in das Modell eingegangen:

  1. 1.

    Exekutive Funktionen: Das Konzept der Exekutivfunktionen (EF) umfasst mentale Prozesse höherer Ordnung, deren Zusammenspiel zielgerichtetes Verhalten und flexibles, angemessenes Reagieren auf neue Situationen und damit Selbstkontrolle gewährleistet. Bisherige Studien verdeutlichten, dass die EF bei adipösen Menschen oft beeinträchtigt sind.

  2. 2.

    Ausgeprägte Gewohnheiten: In der Regel bestehen unangemessene Verhaltensweisen gleich in mehreren, miteinander assoziierten Bereichen („habitual cluster behaviors“). So sind sitzende Lebensweise und ungesunde Nahrungsmittelauswahl miteinander klar assoziiert. Diese Verhaltensweisen sind ausgeprägt habituell und nicht einfach zu ändern.

  3. 3.

    Emotionale Dysregulation: Negative Emotionen sind bei vielen Menschen ein starker Trigger für Überessen. Eine enge Verbindung besteht daher mit Depression und Essverhaltensstörungen.

  4. 4.

    Depression: Über den Zusammenhang zwischen Adipositas und Depression wurde bereits ausführlich berichtet. Therapeutisch kommen psychotherapeutische wie medikamentöse Therapieansätze infrage.

  5. 5.

    Allgemeine Gesundheitskompetenz: Es gibt Hinweise, dass geringe Kenntnisse die eigene Erkrankung betreffend zu einer höheren subjektiven Belastung der Betroffenen führt. Psychoedukative Maßnahmen sind daher indiziert, um die Grundkompetenz bezüglich der Kenntnisse über Adipositas zu verbessern.

  6. 6.

    Essverhaltensstörungen und sitzende Lebensweise könnte als gemeinsame Endstrecke der oben beschriebenen psychischen Faktoren angesehen werden.