FormalPara Leserbrief zum

Schwerpunkt „Resilienz“ in Ausgabe 2/2023; https://www.springermedizin.de/der-schmerz-2-2023/25238020.

„Denn eben wo Begriffe fehlen,

Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

Mit Worten läßt sich trefflich streiten,

Mit Worten ein System bereiten,

An Worte läßt sich trefflich glauben,

Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben“

(J. W. von Goethe, Faust – der Tragödie erster Teil, 1808, Studierzimmer, Mephistopheles zum Schüler)

„Pain is inevitable, suffering is optional“ – dieser Satz wird dem Buddha zugeordnet. Doch was genau ist damit gemeint? Wie gehen wir mit Worten, mit Begriffen – nicht nur im medizinischen Kontext – um, wie und wo ordnen wir sie ein? Welche Bedeutung erhalten sie (von uns) und in welchem Kontext? Die Ausgabe 2/2023 von Der Schmerz zeigt eindrucksvoll, wie schwierig es immer wieder ist, sich untereinander verständlich zu machen, wenn es um den Umgang mit Worten und Begriffen geht – wie Schmerz und Leid, Mitleid, Mitgefühl und Empathie, Annahme und Hinnahme, Religiosität und Spiritualität oder Resilienz und Akzeptanz. Und dabei handelt es sich nicht nur um Definitionen.

Folgendes Statement will ein wenig verdeutlichen, weshalb es immer wieder zu formalen und inhaltlichen Missverständnissen im Umgang mit Worten und Begriffen kommt. Der Beitrag möchte ein wenig Klarheit in den Begriffsdschungel bringen – und vor allem zum kritischen Reflektieren jenseits der gewohnten Pfade einladen. Das kann natürlich nicht mehr sein als eine grobe Annäherung und bleibt daher fragmentarisch. Dennoch: Rauben wir den systematisierten Worten ein Jota (oder zwei Jotae)?

Schmerz ist unvermeidbar, Leiden (darunter) ist optional. Worüber sprechen wir hier? Welchen Schmerz meinen wir? Ist er somatisch, psychisch, seelisch, geistig-kognitiv oder am ehesten etwas von allem? Und das Leid meint was? Dasselbe wie Schmerz, etwas Übergeordnetes? Haben wir Optionen, unsere Sicht und Haltung dazu zu verändern, und wenn ja, welche? Erklärungsangebote:

  1. 1.

    Schmerz – Leid: Körperlicher Schmerz ist wohl am ehesten das, was sich für uns alle erkennbar, messbar und überprüfbar auf pathophysiologischer Ebene abspielt. Schmerz ist zudem überlebenswichtig und in diesem Sinne eben unvermeidlich, ja, physiologisch. Das hat mit Leid vielleicht zunächst nur wenig zu tun, da Schmerz zunächst nur Nociception meint. Leid ist aus solcher Perspektive betrachtet dann eine Art Überbau, die Folge, das, was aus dem akuten Schmerz, der Nociception entsteht und zu dem führen kann, was wir eine chronische Schmerzkrankheit nennen, mit all den im Heft 2/2023 dargestellten Dimensionen macht, ein großes Ganzes mit körperlichen, kognitiven, seelischen, spirituellen und immer auch ganz persönlichen Anteilen. Das Leiden unter Schmerzen, auch den (rein?) seelischen (z. B. „broken heart syndrome“), hat zudem eine besondere spirituelle Dimension, von der in der vorliegenden Ausgabe oft die Rede ist. Dabei sind die begrifflichen Unterscheidungen immer auch Teil eines Diskurses (siehe unter 3. und 4.) und keineswegs immer klar nachzuvollziehen und zu verstehen.

  2. 2.

    Widerstand – Resilienz: Bezogen auf den Menschen beschreibt Resilienz dessen Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen, chronische Schmerzen und das Leiden unter dem Erlebten ohne dauerhafte Beeinträchtigungen zu überstehen und zu ertragen, zu akzeptieren (frei nach dt. Wörterbuch). Resilienz ist also nicht primär (nur) Widerstandsfähigkeit, auch wenn der Begriff immer wieder so „übersetzt“ wird, sondern viel umfassender zu verstehen. Im Gegenteil, je mehr Widerstand wir dem Schmerz entgegensetzen, desto mehr nehmen das Leid(en) und seine Folgen zu. Resilienz hat daher eher im Sinne von Annehmen und Akzeptanz eines Lebens mit Schmerz, vor allem aber dem Leid und natürlich auch mit Tod und Sterben zu tun, wie auf S. 107 ff. gut dargestellt wird. Der Schlüssel zum Umgang liegt dann sicher nicht nur oder gar primär im (schul-)medizinischen – sprich allopathischen – Arbeitsfeld, in dem gern mit ganz anderen Begriffen gegen (!) den Schmerz gearbeitet wird (besiegen, bekämpfen, bezwingen, löschen …) – ein aussichtsloses Unterfangen, wie wir inzwischen aus vielen Studien und jahrzehntelanger, teils bitterer Erfahrung wissen.

  3. 3.

    Annahme/Akzeptanz – Hinnahme: Wesentliche Voraussetzungen für Resilienz sind Anpassung und Akzeptanz oder Annahme. Dabei ist Annahme ein aktiver (Lern‑)Prozess und unterscheidet sich damit von Hinnahme im passiven Sinn, die das Leiden am Schmerz ebenso verstärken kann wie der Widerstand und eher auf höhere Mächte setzt, insbesondere im spirituell-religiösen Kontext.

  4. 4.

    Glauben – Lernen: S. H. der Dalai Lama soll gesagt haben: „Wir sind nicht auf der Erde, um zu glauben, sondern, um zu lernen.“ Aber ist nicht doch der hinnehmende Glaube, diese intrinsiche Überzeugung einer besonderen Form von „Wissen“ um das Leben, den Schmerz und das Leid, auch eine Art Annehmen/Akzeptieren und damit Teil eines Lernprozesses, um mit chronischen Schmerzen leben zu können – und wie geht das dann? Zum Beispiel auch, ohne zu glauben? Stille und Schweigen sind da oft hilfreich, wie auf S. 95 ff. eindrucksvoll beschrieben wird. Das Sich-Ergeben in ein (unabänderliches) Schicksal, in das Leid(en) unter Schmerzen als Lernprozess eröffnet neue Möglichkeiten, um trotz Schmerzen ein gutes Leben zu führen, Widerstand aufzugeben und die Resilienz zu stärken.

  5. 5.

    Mitleid – Empathie – Mitgefühl (auch Selbstmitgefühl!): Klar sollte sein, dass diese drei Begriffe etwas Unterschiedliches, bisweilen fast völlig Verschiedenes meinen. Mitleid ist das qualvolle „Mitleiden“, das passive Hinnehmen von Schmerz und Leid Anderer, es drückt vor allem eigene Hilflosigkeit, Aufgeben, Resignieren aus und drängt uns in eine Art Passivität – da reicht dann auch der Glaube nicht mehr. Mit Empathie – vielleicht am ehesten zu übersetzen mit der Bereitschaft und Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, also z. B. Schmerzkranke zu verstehen und ihr Leid zu erkennen, weil wir „wissen“, was das ist – bewegen wir uns einen Schritt vorwärts, hin zu Akzeptanz und Annahme. Das ist dann die Voraussetzung für den nächsten Schritt, den jede/-r von uns aus der Geschichte vom barmherzigen Samariter (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18) kennt: Mitgefühl. Mitgefühl basiert auf der Fähigkeit zur Empathie und bezeichnet das Vermögen, aus dem Mitfühlen heraus in eine auf Akzeptanz, eigener Resilienz und Erfahrung beruhende Handlungsebene in Form von Aktivität zu gelangen. Das ist echte Hilfe, Unterstützung, lösungsorientiertes Vorgehen, selbst wenn Schmerz und Leid als Erlebnis bleiben mögen. Im Übrigen stärkt Mitgefühl auch den Glauben. Um diese Kraft zu entwickeln, müssen wir unseren eigenen Schmerz, unser eigenes Leid berühren, selbstmitfühlend werden. Mitgefühl ist übrigens eine Eigenschaft, mit der wir geboren werden, und wenn wir gut für andere sorgen wollen, müssen wir in der Lage sein, gut für uns selbst zu sorgen – ein ständiger Übungs- und Lernprozess. Das ist von grundlegender Bedeutung, besonders in der Schmerztherapie. Mit dem andauernden Krieg gegen den Schmerz gelingt das hingegen nicht – kranke Heiler sind keine Helfer.

  6. 6.

    Religiosität – Spiritualität: Erneut sind Klarheit und Verstehen hilfreich, um Missverständnisse zu vermeiden. Und auch hier ist es nicht einfach, zu differenzieren. Religiosität meint wohl am ehesten den Glauben, dass alle Existenz auf einer ganzheitlichen, gleichwohl transzendenten Art von Realität fußt. Das beinhaltet u. a., sich letztlich doch „hinzugeben“ (z. B. an eine höhere Macht, etwas Göttliches, sich in sein Schicksal zu ergeben usw.) und zu vertrauen. Spiritualität wiederum ist die Überzeugung von der Existenz einer transzendenten Wirklichkeit als Grundlage aller Materialität, wobei es nicht zwingend eines Glaubens oder einer Art (passiver) Hingabe an eine höhere Existenz bedarf. Dies darf dann so verstanden werden, dass jeder Mensch (und nicht nur der Mensch!) ein spirituelles Wesen ist. In diesem Sinne ist z. B. der Buddhismus keine Religion, er ist nicht ausgerichtet auf einen Gott, daher ist der Begriff Erfahrungsreligion noch am treffendsten. Und in dieser denkbaren Unterschiedlichkeit liegt denn ein grundlegendes Missverständnis, wenn es um den Begriff des Leids geht (Buddhisten leiden keineswegs!).

Was folgt am Ende aus diesem kurzen und sicher bei Weitem nicht hinreichenden Versuch, einige Worte und Begriffe transparenter zu machen?

Vielleicht nur das: Wir sollten in unserem Bemühen, chronisch schmerzkranken Menschen zu helfen, weniger klassischen Lehren oder abstrakten Definitionen, schulmedizinischen Dogmen oder religiös-spirituellen Traditionen folgen – so wichtig auch die (empirische) Evidenz ist als Grundlage. Es hilft den Schmerzkranken nicht, wenn wir über Begriffe diskutieren und dabei aneinander vorbeireden, weil wir aus unterschiedlichen Kontexten unser Wissen, unseren Glauben oder unsere Überzeugungen beziehen und nicht vertraut genug sind mit der Sichtweise unseres Gegenübers. Einen Königsweg gibt es dabei wohl nicht, aber den Kampf und den Krieg gegen den Schmerz zu beenden, sich von der Vorstellung, diesen „Gegner“ besiegen zu können, zu verabschieden, indem wir einander besser zuhören – das wäre ein guter Anfang.