Wiedersehen

Hugo arrangierte eine Videokonferenz. Es war eine Freude, ihn wiederzusehen. Er erzählte über Gott und die Welt, kam vom Hundertsten ins Tausendste und ließ Erinnerungen an Essen und Trinken wie Gott in Frankreich auferstehen. Ostern war gerade vorüber. Die coronabedingten Reisebeschränkungen würden, müssten ja irgendwann ein Ende haben. Die dritte Corona-Welle schränkte die Bewegungsfreiheit in und um Lyon gerade massiv ein. Schon blühten die ersten Blumen und Bäume. Es fiel den Menschen schwer, zu Hause zu bleiben.

Die Politik

Sogar der Vatikan war in Sorge. Papst Franziskus hatte vor zwei Wochen die Gehälter von Kardinälen und Kurienchefs gekürzt. Der Vatikan teilte in einem apostolischen Schreiben mit, dass Kardinäle ab April zehn Prozent, Kurienchefs sowie Sekretäre der Dikasterien acht Prozent und Priester sowie Ordensleute im Vatikan drei Prozent weniger Geld erhielten. Für das Jahr 2021 rechnete der Heilige Stuhl in seinem Budget mit einem Minus von 50 Millionen Euro. Mit den Gehaltskürzungen wolle der Vatikan auch Arbeitsplätze sichern, hieß es.

Die Inflationssorgen fanden Widerhall in steigenden Anleiherenditen in den USA, Börsianer waren verunsichert und der Goldpreis stieg als tektonisches Vorzeichen vor seiner erwarteten Eruption leicht an. Urbi et Orbi waren wieder virtuell und das katholische Polen hatte sich selbst zu einem Hochinzidenzgebiet erklärt ...

Schwarz-weiße Welt

Was wachse, meinte Hugo, sei sein Zynismus. Aus Mutationen waren im allgemeinen Sprachgebrauch Mutanten geworden, aus Inzidenzen machten schwitzende Minister Inzidenten. Auf die Balearen durften deutsche Touristen, Spanier mussten zu Hause bleiben. Experten nannten sich mittlerweile selbst schon Experten und wechselten ihre Berufsbezeichnung mehrmals wöchentlich: Epidemiologe am Montag bei der TV-Diskussion, Virologe am Mittwoch im Radio und Umweltmediziner freitags bei der Buchpräsentation. Das wäre ihm alles gleich und gar nicht aufgefallen, wäre er mit seinem Bistro beschäftigt, am Markt einkaufen und für seine Gäste da. Sein Leben war anders und er bemerkte, dass seine Welt schwarz-weiß wurde. Da gab es jene, die schimpften und sich richtig machtlos fühlten, und jene, die mächtig waren und keine richtige Entscheidung treffen konnten.

Angst und Sorge

Hugo erzählte von einem Gespräch mit seinem Freund, der als Psychiater im Krankenhaus arbeitet. Früher war er Stammgast in seinem Bistro. Jetzt war es geschlossen. Die beiden Freunde ließen aber den Diskurs nie abreißen, sondern pflegten ihren Austausch jetzt eben übers Telefon und den Computer.

Er hatte mit Hugo über das Phänomen der Angst, die immer greifbarer wurde, gesprochen. Da gäbe es einen Unterschied, der für uns noch interessant werden könnte: Angst sei etwas Gutes, etwas Natürliches, das wir brauchen. Wir sind über die Angst mit der Gefahr in Verbindung. Wir nehmen den Fuß vom Gas, wenn die Straße glatt und kurvig ist, wir rennen nicht wild um uns schlagend davon, wenn ein großer Hund naht, wir verhalten uns vernünftig der Situation angepasst. Diese Angst informiert uns über die Gefahr und wir nützen diese Information. Bei einer anderen Form der Angst, nennen wir sie Furcht, sei das anders: Furcht sei eine Information von uns an uns selbst. Sie lässt uns inadäquat und unvernünftig reagieren, engt unsere Möglichkeiten, wahrzunehmen und zu reagieren, ein. Wir legen dann Vollbremsungen hin, verreißen das Steuer oder laufen um unser Leben.

Hugo gestand, dass er das Verhalten und die Ängste der anderen, denen er nur mehr indirekt über Medien und Technik begegnen konnte, nicht mehr nach diesen Kriterien auseinander halten konnte; seine eigenen Ängste auch nicht mehr. Der Milliardär Howard Hughes hatte Furcht vor Infektionen, trug nur mehr weiße Handschuhe, gab bald niemandem mehr die Hand und ging am Ende nicht mehr außer Haus. Das durfte Hugo nicht passieren!

Auszeit?

Eigentlich hätte er ja die verordnete Auszeit besser nützen können, als zu grübeln. Es gab nichts Dringendes zu erledigen, die ungelesenen Bücher harrten seiner Aufmerksamkeit, seine Hobbies waren zu pflegen, die Rezepte für die sicherlich kommende Saison fit zu machen.

Aus seiner jahrelangen Arbeit im Qualitätsmanagement für seine Bistrokette und mit seinen Mitarbeitern wusste er, wie wichtig Ziele fürs Weitermachen waren. Das half ihm in dieser eigenartigen Zwischenzeit, die keine richtige Auszeit war und zugleich keine Arbeitszeit, nicht. Er diagnostizierte bei sich fortschreitenden reaktiven Zynismus.

Finalismus

Wahrscheinlich war ihm das Konzept des Finalismus immer zu einfach. Unsere Gesellschaft sei mit der Philosophie des Finalismus zur Weltmacht gekommen: Man müsse nur konkrete Ziele definieren, die Lösungen ergäben sich dann von selbst. Die Welt kontrollieren wir schon lange nicht mehr und konkrete Ziele fehlen.

Stromlinienförmige Management-Bücher, -Seminare und -Vorträge unter dem immer gleichen Motto: „Setze Dir ein Ziel, gehe darauf zu und Du wirst Erfolg haben!“ deckten sich auch nicht mit seinen Erfahrungen, die er im täglichen Leben mit sich selbst und seinen Zeitgenossen gemacht hatte. Allein die Tatsache, dass der moderne Mensch erst positiv formulieren lernen muss, um für Führungsaufgaben, Vorträge, Seminare, ja sogar für das Telefonieren geeignet zu sein, machte ihn stutzig.

Menschen in QM-Seminaren und Führungskräfteausbildungen taten sich immer erheblich leichter, zu sagen, warum etwas schwierig ist, warum es nicht geht, was sie nicht steuern können, was sie nicht wollen, als diese Zweifel in erfolgstrunkene, konkret und positiv formulierte Zielbeschreibungen zu verwandeln. Hugo vermutete sogar, dass Berater, externe Moderatoren und ähnliche Professionen von der Tatsache lebten, dass es zutiefst unmenschlich sei, die Zukunft nicht als „Anti-Ziel“ zu formulieren, und man dafür erst Spezialisten holen müsse. Die schreckensbleichen Gesichter und die weit aufgerissenen Augen derer, die auf die Frage „Wie geht’s?“ ein „Ausgezeichnet!“ hören, bestätigten Hugos Theorie, dass wir Menschen im Umgang mit uns selbst und anderen im Vermeiden besser sind als im Verfolgen; vor allem wir satten Menschen. Es gab kein Wort für „Anti-Ziel“. Es gab kein in Lyon, Wien oder New York in tatsächlicher sprachlicher Verwendung stehendes Hauptwort für etwas, das zu vermeiden wäre. Das packte unseren Koch, Auszeit hin oder her.

Der Widerspruch

Hugo hatte ja einst seinen Lapsus der „Vereinheitlichung der Mittelmäßigkeit“ erkannt und das persönliche Besser-Werden- Wollen seiner Mitarbeiter zu neuem Leben erweckt. Ihr internes Bistro-QMSystem und lebendige PDCA-Zyklen mit selbst gewählten Zielen unterstützten dieses Wollen mit Methode. Hugo und seine Kollegen wollten die Besten sein. Das brachte Sinn in die Arbeit, machte großen Spaß und förderte den Einzelnen und das Team durch ständiges Fordern seitens des Marktes. Die Konkurrenz schlief nicht. Das war kein Problem. Es war der Treibstoff für ihre gemeinsame Weiterentwicklung. Hugo sagte immer: „Ohne diesen Wettbewerb äßen wir heute nicht begeistert Noix de St Jacques au beurre safrané et ses éclats de pistaches, sondern säßen zufrieden in den Bäumen und schälten Bananen ...!“

Es brauchte diese Zwischenzeit der verordneten Untätigkeit, um Hugo den Widerspruch erkennen zu lassen zwischen dieser einstigen Erkenntnis und seiner Erkenntnis, dass das „Anti-Ziel“, das „zu Vermeidende“ ebenso auf dieser Welt wirkte, irgendwie sogar sehr wirksam war. Hugo war nun plötzlich sehr beschäftigt und sein Grübeln weder zynisch noch untätig.

Epilog

Es wäre nicht unser vielfach prämierter Haubenkoch Hugo gewesen, wenn er sich damit zufrieden gegeben hätte, dass man die Widersprüche des Lebens eben erleuchtet annehmen müsse. Er hatte jetzt seine Nuss zu knacken und ich freue mich schon auf die nächste Videokonferenz ...