1 „Schwierige“ Kinder, erschwerte Inklusion? – Herausforderungen für die inklusive Grundschule

Erziehung ist kein konfliktfreies Geschäft, das steht außer Frage, und die Herausforderungen des pädagogischen Umgangs mit Unterrichtsstörungen begleiten die Schule seit ihren Anfängen. Dabei haben sich die erzieherischen und didaktischen Methoden über die Zeit gewandelt, die Frage nach dem Umgang mit Disziplinschwierigkeiten bleibt indes hochaktuell: Nach den Ergebnissen einer demographischen Erhebung des Allensbach-Instituts im Jahr 2012 beispielsweise klagt rund die Hälfte der befragten Grundschullehrkräfte über mangelnde Disziplin der Schülerinnen und Schüler (Trautwein 2012, S. 22) und in aktuellen Prävalenzstudien zeigen sich bei knapp jedem fünften Kind im Alter von 3–17 Jahren psychische Auffälligkeiten (Klasen et al. 2017), wobei die Prävalenz für das Grundschulalter bei 17,2 % (Altersstufe 3–6 Jahre) bzw. 23,1 % (Altersstufe 7–10 Jahre) liegt (Hölling et al. 2014).

Dem steht eine vergleichsweise geringe sonderpädagogische FörderquoteFootnote 1 (1,12 %) im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung gegenüber.Footnote 2 Bezogen auf den Bereich der Primarstufe wurden im Jahr 2014 insgesamt 16.995 Schüler mit emotional-sozialem Förderstatus inklusiv unterrichtet, das entspricht einem Anteil von mehr als 22 % aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Inklusion im Primarbereich. Auch wenn an den Grundschulen die Zahl der integrativ/inklusiv beschulten Schüler mit einem offiziellen Förderstatus im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung in den letzten Jahren explosionsartigFootnote 3 und im Vergleich zur Entwicklung in der Gesamtheit aller sonderpädagogischen Förderschwerpunkte überproportionalFootnote 4 angestiegen ist, liegt diese Quote mit einem Anteil von 0,61 % aller GrundschülerFootnote 5 vergleichsweise niedrig.

Die offenkundige Diskrepanz zwischen subjektivem Belastungserleben von Lehrkräften, klinischen Prävalenzschätzungen und den dokumentierten sonderpädagogischen Fallzahlen führt zu der Vermutung, dass die offizielle Förderquote im Bereich emotional-soziale Entwicklung nur die Spitze des Eisberges erkennen lässt und gerade im Grundschulbereich „die große Mehrzahl von nicht identifizierten Schülern mit Lern- und Verhaltensstörungen“ unterrichtet werden, deren Störungen hinsichtlich „Schweregrad, Intensität und Komplexität […] niedrigschwelliger sein [können] als die Störungen von Kindern, die im Schulsystem als verhaltensgestört oder lernbehindert klassifiziert werden“ (Opp et al. 1999, S. 26).

Die unter der Zielsetzung des inklusiven Bildungsauftrags steigende Herausforderung an die Grundschulen, Lösungen für den pädagogischen Umgang mit Lern- und Verhaltensproblemen zu entwickeln, verweist auf die Frage nach den Gelingensbedingungen schulischer Inklusionsprozesse, die seitens der Bildungspolitik – und zusehends auch in der sonderpädagogischen Programmentwicklung – auf die Frage der Wirksamkeit spezifischer Methoden und Konzepte zur inklusiven Förderung reduziert wird, wie die aktuelle Diskussion um die Evidenzbasierung inklusions- und sonderpädagogischer Interventionen belegt (Koch 2016).

2 Response to Intervention (RTI): ein evidenzbasiertes Rahmenmodell für die inklusive Grundschule?

„Evidenzbasierung“ erweist sich als neues universales Zauberwort, das alle humanwissenschaftlichen Disziplinen in der Forderung verbindet, im Sinne einer bestmöglichen professionellen Handlungspraxis bevorzugt auf solche Methoden und Konzepte zurückzugreifen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist. Das Konzept einer evidenzbasierten pädagogischen Praxis im Kontext der inklusiven schulischen Erziehung und Bildung bezieht sich entsprechend auf den Einsatz wissenschaftlich geprüfter und in der Wirksamkeit empirisch nachgewiesener Unterrichtstechniken und Fördermethoden, die bestmögliche Lernerfolge und Entwicklungsfortschritte versprechen (Coalition for Evidence-Based Policy 2002). Response to Intervention (RTI) gilt als ein solches evidenzbasiertes Fördermodell, das in den USA eine große Verbreitung gefunden hat (Brown-Chidsey und Steege 2005) und mittlerweile auch hierzulande als innovatives Förderparadigma diskutiert (Walter 2008) und zudem „als Grundlage für einen inklusiven Paradigmenwechsel in der Sonderpädagogik“ (Huber und Grosche 2012) betrachtet wird.

2.1 Grundlagen des Ansatzes: Die RTI-Pyramide

RTI stellt ein Rahmenmodell zur datenbasierten sonderpädagogischen Diagnostik und Förderplanung dar, das auf eine frühzeitige Identifikation und Bearbeitung schulischer Lern- und Entwicklungsprobleme zielt. Das Modell wird häufig als ein mehrstufiges Interventionskonzept in der Form einer Pyramide dargestellt, bei der die Intensivität der Fördermaßnahmen auf den einzelnen Ebenen jeweils zunimmt (Bender 2009). Ausgehend von der Grundannahme, dass für rund 80 % der Schüler „guter Unterricht“ ein adäquates universales Mittel der Primärprävention darstellt, wird der proaktive Einsatz evidenzbasierter Unterrichtsmethoden empfohlen, um der Genese von Lern- und Verhaltensproblemen vorzubeugen (Stufe 1). Für Schüler, deren Leistungsstand sich trotz des Einsatzes evidenzbasierter Unterrichtsmethoden nur unzureichend entwickelt, werden zielgerichtete evidenzbasierte Fördermaßnahmen angeboten, um die Lernrückstände abzubauen (Stufe 2). Es wird angenommen, dass auf dieser Stufe nahezu alle übrigen Schüler erreicht werden. Für Einzelfälle, in denen sich mittels der gezielten Fördermaßnahmen keine hinreichenden Lernerfolge erkennen lassen (geschätzte 2–5 % einer Schulkasse), werden auf der dritten Stufe intensive sonderpädagogische Fördermaßnahmen bereitgestellt (Brown-Chidsey und Steege 2005).

Der Diagnostik kommt auf den einzelnen Stufen der RTI-Pyramide eine besondere Bedeutung zu, wobei formative, d. h. den Prozessverlauf begleitende Verfahren im Mittelpunkt stehen.

2.2 Diagnostik im Bereich Lernen: Curriculumbasiertes Messen (CBM)

Das diagnostische Herzstück von RTI ist das sogenannte curriculumbasierte Messen (CBM), das wie auch die Lernverlaufsdiagnostik (Klauer 2006) als prozessbegleitende Evaluation zu betrachten ist. Gegenüber traditionellen Testverfahren, die das Lernverhalten und die Schulleistungen nur punktuell messen, wird CBM charakterisiert durch „[…] die regelmässige Durchführung kurzer, standardisierter Aufgabensets. Diese zeichnen sich durch die Nähe zum aktuellen Curriculum aus, sind ökonomisch und leicht in den Unterricht integrierbar. Ein Beispiel sind 1‑Minute-Leseproben mit unterrichtsnahem Textmaterial, die über einen gewissen Zeitraum wiederholt eingesetzt werden, um kindliche Lesefortschritte auf Klassen- und Individualebene zu eruieren“ (Hartmann und Müller 2009, S. 29).

Das praktische Vorgehen beim CBM wird von Klauer (2006, S. 18) am Beispiel der Lernfortschrittsmessung im Bereich Lesen und Schreiben geschildert: „Für das Lesen hat man beispielsweise sehr gute Erfahrungen gemacht mit kurzen Textpassagen gleich schwerer Texte […] Man […] lässt das (oder jedes) Kind für genau eine Minute laut lesen, um zu registrieren, wie viele Wörter es in der Zeit richtig und wie viele es falsch liest […] Der Fortschritt in der Rechtschreibung wird oftmals mittels Wortdiktaten erfasst. Die Lehrkraft diktiert beispielsweise 20 Wörter im Abstand von 7 Sekunden, so dass das Diktat nach zwei Minuten und 20 Sekunden beendet ist.“

Die Messergebnisse werden regelmäßig und kontinuierlich dokumentiert und graphisch aufgearbeitet, um den Entwicklungstrend über das Schuljahr in Form einer Verlaufskurve darzustellen. Anhand der Messdaten zu den gezeigten Lernleistungen kann der Erfolg (oder Misserfolg) der gewählten Unterrichts- bzw. Fördermethoden abgelesen und somit unmittelbar didaktisch reagiert werden (Klauer 2006).

CBM ist programmatisch auf den Bereich schulischer Lernschwierigkeiten ausgerichtet; ein Großteil der aktuellen Beiträge bezieht sich auf die Prävention, Diagnostik und Intervention von Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen sowie allgemein auf akademisches Lernen und Schulleistungen (exemplarisch: Walter 2008; Hartmann und Müller 2009). Ungeachtet der Frage, inwieweit das Modell im Bereich schulischer Lernförderung den hohen Erwartungen an die inklusive Wirksamkeit (Huber und Grosche 2012) tatsächlich entsprechen kann, stellt sich die grundlegende Frage der Adaptierbarkeit auf andere sonderpädagogische Förderbereiche, wie im Folgenden anhand des Förderschwerpunkts emotional-soziale Entwicklung ausgeführt werden soll.

2.3 Diagnostik im Bereich Verhalten: Direkte Verhaltensbeurteilung (DVB)

Auch bei RTI im Verhaltensbereich kommt der engmaschigen Diagnostik eine zentrale Bedeutung zu. Im Vergleich zu der mehr als 40-jährigen Tradition der Lernverlaufsdiagnostik bei schulischen Lernschwierigkeiten (Fuchs 2004) finden sich allerdings erst in jüngerer Zeit Versuche zur Entwicklung einer speziellen Methode zur „Verhaltensverlaufsdiagnostik“ (Huber und Rietz 2015), die auf dem ebenfalls in den USA entwickelten Verfahren des Direct Behavior Rating (deutsch: Direkte Verhaltensbeurteilung, DVB) basiert, ein Ansatz, der die Unmittelbarkeit der systematischen direkten Verhaltensbeobachtung sowie die Effizienz von Verhaltensbeurteilungsskalen miteinander kombinieren soll. Analog zur Lernverlaufsdiagnostik durch CBM arbeitet die Verhaltensverlaufsdiagnostik durch DVB mit einer hohen Messfrequenz, um Entwicklungsverläufe fortlaufend dokumentieren und die Wirksamkeit des Lehrerhandelns bzw. die Effekte spezieller Interventionen überprüfen zu können (Casale et al. 2015).

Das Vorgehen wird von Casale et al. (2015, S. 329) exemplifiziert: festzulegen sei „ein interessierendes Verhaltensmerkmal (z. B. Melden, wenn es Fragen gibt) […], welches durch eine Förderung (z. B. Verstärkerplan) in einer bestimmten Situation im Schulalltag (z. B. individuelle Stillarbeitsphase) verbessert werden soll.“ Die Beurteilung dieses Verhaltens durch die Lehrkraft mittels Ratingskala erfolge im direkten Anschluss an die Situation und ermögliche es so, „Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der Förderung (in diesem Beispiel: des Verstärkerplans)“ zu ziehen und die Interventionen bei Bedarf entsprechend zu modifizieren (ebd.).

2.4 RTI in der Grundschule: Implementation und praktische Applikation im Rügener Inklusionsmodell

Mittlerweile liegen mit dem Evaluationsbericht zum Rügener Inklusionsmodell der inklusiven Grundschule auch erste Ergebnisse zur Implementation von RTI in Deutschland vor (Voß et al. 2016). Die Projektleiter charakterisieren das Modell durch den Rückgriff auf evidenzbasierte Unterrichts- und Fördermethoden sowie eine datengetriebene Förderplanung im Kontext eines Mehrebenenmodells der Prävention. Als evidenzbasierte Methoden zur Prävention und Förderung in den Lernbereichen Deutsch und Mathematik wurde auf Trainingsprogramme in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen zurückgegriffen (ebd., S. 37 ff.). Im Präventions- und Förderbereich der emotional-sozialen Entwicklung kamen Verfahren des Classroom Management, Techniken der Verhaltensverstärkung sowie lernpsychologische Präventionsprogramme zum Einsatz (ebd., S. 45 ff.).

Die wissenschaftliche Evaluation erfolgte durch eine aufwändige Begleitforschung mit einem KontrollgruppenvergleichFootnote 6, wenngleich mit bescheidenden Ergebnissen hinsichtlich des Erfolgs der untersuchten Effekte. Einerseits zeigten sich im Vergleich zur Gesamtgruppe zwar vorteilhafte emotionale und soziale Schulerfahrungen bei den Schülern in der Inklusionsgruppe, andererseits aber waren diese mit Blick auf Kinder mit erhöhten emotional-sozialen Entwicklungsrisiken nicht signifikant (ebd., S. 273). Während von einer grundsätzlichen Überlegenheit des Inklusionsmodells gegenüber den traditionellen Angebotsformen im separaten Sonderunterricht berichtet wird, relativiert sich dieser Vorteil jenseits des Förderschwerpunkts Lernen; für den Förderbereich emotional-soziale Entwicklung wird von signifikanten Vorteilen des Inklusionsmodells nur hinsichtlich der untersuchten Viertklässler berichtet (ebd.) und im Bereich Sprache zeigen sich keine Unterschiede im Vergleich mit den beiden Kontrollgruppen (ebd., S. 274).

Bemerkenswert sind in jedem Fall die unterschiedlichen Quoten an offiziellen sonderpädagogischen Förderfällen in den Untersuchungsgruppen. In der Stralsunder Kontrollgruppe liegt die Zahl der Förderfälle im Bereich emotional-soziale Entwicklung um ein Dreifaches über der Anzahl in der Rügener Treatment-Gruppe. Inwieweit diese Diskrepanz tatsächlich als ein Indikator für die präventive Wirksamkeit des Rügener Modells in diesem Förderbereich betrachtet werden kann, wie es die Evaluatoren ableiten (ebd., S. 276), lässt sich mittels der vorgelegten Forschungsdaten nicht beurteilen, da keine näheren Angaben zur Verteilung der regionalen Förderquoten über die Zeit gemacht werden. Zudem umfassen die beiden Zwillingsgruppen der Studie auch Schüler aus sonderpädagogischen Förderklassen, die per definitionem als Förderfälle zu zählen sind.

Aufschlussreich ist jedenfalls, dass jeweils nur rund die Hälfte der beteiligten Grundschullehrkräfte die angebotenen Materialien und evidenzbasierten Verfahren positiv einschätzen (ebd., S. 264) und trotz (oder gerade wegen?) der vierjährigen Erfahrungen im Inklusionsprojekt Zweifel hegen, „ob förderungsbedürftige Kinder integrativ angemessen gefördert werden können“ (ebd., S. 265). Rund ein Drittel „möchte diese Aufgabe nicht übernehmen“ und „zwei Drittel […] möchte nicht dazu verpflichtet werden, förderungsbedürftige Kinder zu unterrichten“ (ebd.) – bei einer grundsätzlichen Zustimmung zur Idee der inklusiven Erziehung bei mehr als 80 % (ebd.) der beteiligten Lehrkräfte!

3 RTI als Rahmenmodell einer evidenzbasierten Förderpraxis in der schulischen Inklusion? – Ein skeptisches Fazit

Im Vergleich zum kritischen Diskurs in der Erziehungswissenschaft (z. B. Bellmann und Müller 2011; Terhart 2014) ist das Evidenzparadigma im Kontext der schulischen Inklusionsdiskussion hierzulande erst mit einiger Verzögerung aufgegriffen und insbesondere von der sonderpädagogischen Fachwissenschaft bis dato nur „relativ unkritisch und stark verkürzt mit dem Fokus auf der Bereitstellung von Wirkungswissen“ diskutiert worden (Koch 2016, S. 10). Die im Folgenden vorgetragene Kritik argumentiert auf unterschiedlichen Ebenen: es werden erstens Probleme der internen Validität von RTI skizziert und zweitens Schwierigkeiten der Adaption des Modells der RTI-Lerndiagnostik (CBM) auf den Verhaltensbereich (DVB) erörtert. Schließlich wird der RTI-Ansatz drittens aus Sicht des inklusiven Bildungsauftrags kritisch hinterfragt.

3.1 Innere Inkonsistenzen des RTI-Rahmenmodells

Das RTI-Rahmenmodell betont ganz zu Recht die Bedeutung von proaktiven und präventiven gegenüber reaktiven und remedialen Strategien bei sonderpädagogischen Problemlagen, wobei allerdings nur evidenzbasierte Strategien zum Einsatz kommen sollen (z. B. Blumenthal et al. 2017, S. 124). Dabei ist das zugrundeliegende Verständnis von Wissenschaft und Pädagogik kritisch zu hinterfragen, denn es schließt kategorisch alle Ansätze und Verfahren aus, deren Wirkungsweise nach anderen als den im Evidenzparadigma aufgestellten Wirksamkeitskriterien zu beurteilen sind, wie Schad (2015, S. 337) kritisch resümiert. Zugleich beinhaltet die universelle Präventionsebene (erste RTI-Stufe) keine spezifisch sonderpädagogische, sondern vielmehr eine genuin allgemeinpädagogisch-didaktische Aufgabenstellung. Die in der Fachliteratur diskutierten Maßnahmen, die ab der zweiten RTI-Stufe zur Intervention bei emotional-sozialen Schwierigkeiten greifen sollen, bleiben indes eher unspezifisch, wobei sich die Konzepte mitunter auch widersprechen.Footnote 7 Umstritten ist zudem, ob bei RTI überhaupt und wenn ja ab welcher Stufe Assessmentverfahren zur Überprüfung auf sonderpädagogischen Förderbedarf zum Einsatz kommen sollten.

Zugleich scheint es mehr als fraglich, inwieweit RTI für ein neues Modell der sonderpädagogischen Förderung steht, wie häufig behauptet wird.Footnote 8 Die RTI-Pyramide weist eine wohl nicht ganz zufällige Ähnlichkeit mit dem sogenannten Kaskadenmodell auf (Reynolds 1962), in dem die sonderpädagogischen Hilfen entlang einer auf dem Kopf stehenden Pyramide nach Intensität und Restriktivität der einzelnen Maßnahmen angeordnet werden. In der Gestalt der dreistufigen Pyramide greift RTI zudem das ebenfalls aus dieser Zeit stammende Präventionsmodel der Mental Health Consultation von Caplan (1964) auf, das bereits Mitte der 1990er-Jahre in der US-amerikanischen Fachdiskussion als „Triangle of Behavior Support“ adaptiert wurde (Merrell und Walker 2004).

3.2 Verhaltensverlaufsdiagnostik: Probleme der Adaption von CBM zu DVB

Ungeachtet der durchaus diskussionswürdigen Frage, inwieweit der CBM-Ansatz ein angemessenes Diagnostikum zur Absicherung einer evidenzbasierten Praxis im Bereich der Lernförderung sein mag, stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob für den Bereich der emotional-sozialen Entwicklung eine analoge „Verhaltensverlaufsdiagnostik“ sinnvoll erscheint. Das vorgestellte Verfahren der DVB misst das Oberflächenverhalten von Schülern im Unterricht. Dabei wird der soziale Aspekt fokussiert, nicht aber die inneren Motivlagen; der subjektive Sinn und die individuelle Bedeutung sowie die emotionalen Hintergründe des Verhaltens werden schlichtweg ausgeblendet. DVB führt also zu einer erheblichen und dem Gegenstand nicht angemessenen Reduktion einer an sich hochkomplexen Problemlage. Nicht ohne Grund ist für den Förderschwerpunkt die Bezeichnung „emotionale und soziale Entwicklung“ gewählt worden (KMK 2000).

Es ist zudem nach Sinn und Zweck dieser Form der direkten Messung von Interventionswirkungen zu fragen, wenn doch erworbene maladaptive Verhaltensroutinen einer hohen Persistenz unterliegen (Ihle und Esser 2002) und sich also die emotional-sozialen Grundlagen des Verhaltens durch förderpädagogische oder therapeutische Interventionen nur langsam und in begrenzter Reichweite, wenn überhaupt, verändern lassen.Footnote 9 Sind also Verhaltensänderungen von Schülern, die sich mittels DVB als messbare Effekte sequenziell quantifizieren lassen (und beispielsweise in veränderten Frequenzen erwünschter oder unerwünschter Verhaltensweisen ausgedrückt werden, wie etwa in der Frequenz der Wortmeldungen pro Minute oder Anzahl der Dazwischenrufe ohne Wortmeldungen etc.) tatsächlich als Indikatoren für nachhaltige emotional-soziale Reifungsprozesse der betreffenden Kinder und Jugendlichen zu deuten? Oder zeigen die Messungen nicht vielmehr das Ausmaß der Adaption, also letztlich den Grad der Anpassung oder Nichtanpassung, der sich im beobachtbaren Schülerverhalten spiegelt? Die der Verhaltensverlaufsdiagnostik zugrundeliegende verhaltensmodifikatorische Erziehungstechnologie vermag jedenfalls die komplexen Hintergründe emotional-sozialer Schwierigkeiten in Schule und Unterricht nicht zu adressieren (Willmann 2012).

Es finden sich zudem bislang keine schlüssigen Antworten auf grundlegende Probleme der forschungsmethodischen Operationalisierung von DVB, etwa zu der Frage, welche Verhaltensindikatoren zu messen sind und in welcher Frequenz. Zudem ist auch die Aussagekraft der Messdaten hinsichtlich ihres Wirkungszusammenhangs mit den durchgeführten Maßnahmen und der prognostischen Qualität mit Blick auf zukünftige Interventionsstrategien weitgehend unklar (Chafouleas et al. 2009, S. 199).

3.3 RTI: eine Kritik aus Sicht des inklusiven Bildungsauftrags

Die der evidenzbasierten Pädagogik und dem RTI-Ansatz zugrundeliegende Förderphilosophie setzt auf eine Standardisierung der Fördermaßnahmen, die zugleich eine Normierung der Lern- und Verhaltensprobleme bedingt. Der Ansatz führt zu einer Paradoxie, denn trotz des selbst proklamierten „inklusiven Paradigmenwechsel[s]“ (Huber und Grosche 2012) steht RTI faktisch in einem diametralen Widerspruch zu den Zielen und dem Programm inklusiver Bildung. Die Normierung des Lern- und Sozialverhaltens widerspricht der Heterogenität und Individualität der Schüler (Uphoff 2009, S. 75) und „gerade die Forderung nach Standards von Inklusion [bildet] im Grunde eine Kontradiktion gegenüber dem, was einen inklusiven Unterricht ausmacht, nämlich einen Unterricht, der zwar Lernen entlang gemeinsamer Gegenstände organisiert, hierbei aber im Sinne der Individualisierung eine Vielfalt von Zugängen ermöglicht“ (Rödler 2012, S. 33).

Mehr noch: Tatsächlich stehen CBM und DVB in der Tradition einer individualisierenden und defizitär ausgerichteten Diagnostik, die sich vorrangig am medizinischen Modell orientiert (Schumann 2016, S. 174). Die einseitige Fokussierung auf das Schülerverhalten führt zu einer erheblichen Komplexitätsreduktion und Entkontextualisierung schulischer Lernprozesse: „Mit RTI wird so getan, als entwickelten sich Kinder im gesellschaftsfreien Raum […]. Andere Barrieren für Lern- und Partizipationsprozesse als die dem Lernenden innewohnende kommen […] nicht vor“ (Hinz 2016, S. 248). Eine inklusionsorientierte Diagnostik hingegen „zielt auf das Erkennen und Beseitigen von Inklusionsbarrieren. Nicht die Anpassung des Schülerverhaltens steht im Mittelpunkt der Interventionen, sondern ganz im Gegenteil: die Anpassung der Schul- und Unterrichtsorganisation an den Entwicklungsstand und die Bedürfnisse der einzelnen Schüler“ (Willmann 2015, S. 428). Dabei ist das komplexe Wechselspiel der vielfältigen Faktoren zu berücksichtigen, die schulische Inklusions- und Exklusionsprozesse bedingen und die sich auf unterschiedlichen Systemebenen analysieren lassen. Parsons (1999) unterscheidet sozioökonomische und kulturelle Faktoren von institutionellen sowie individuellen Faktoren. Eine inklusionsorientierte Diagnostik hat alle genannten Ebenen in den Blick zu nehmen (Ondracek und Störmer 2011). Mit der Konstruktion des non-responsiven Schülers wird bei RTI allerdings der diagnostische Blick einseitig beschränkt auf die personale Ebene der individuellen Faktoren. Dabei werden traditionelle Normalitätsvorstellungen aufrechterhalten, mit deren Hilfe sich die Sonderpädagogik zugleich ihre alleinige Zuständigkeit für die „schwierigen Fälle“ sichert (Hinz 2016, S. 149).

4 Wissenschaftspolitische Folgewirkungen und förderpädagogische Langzeitschäden des Evidenzparadigmas

Im vorliegenden Beitrag wurde der RTI-Ansatz als ein Rahmenmodell zur Förderung bei schulischen Lern- und Verhaltensproblemen vor dem Hintergrund des inklusiven Bildungsauftrags kritisch betrachtet. Dabei ist die zunehmende Verbreitung des Ansatzes im Gesamtzusammenhang aktueller bildungspolitischer Entwicklungen zu diskutieren, in deren Kern eine Politik der Evidenzbasierung steht, deren Ausmaß und Folgen in ihren Konsequenzen bislang nur zu erahnen sind. Ein gewichtiger und grundlegender Aspekt betrifft die Verschmelzung von Politik und Wissenschaft, oder genauer: die Gängelung der Erziehungswissenschaft durch die Bildungspolitik (Herzog 2010), mit radikalen Konsequenzen für das zukünftige, politisch indoktrinierte Verständnis von Erziehung und Bildung. Die evidenzbasierte Bildungsforschung reduziert Pädagogik auf die Frage der Wirksamkeit; eine kritische kulturwissenschaftliche Pädagogik hingegen müsse „mehr können als nur Effekte messen und sich den Modellen der pädagogischen Psychologie verpflichten […]“ (Tenorth 2014, S. 17).

Gleichzeitig geht mit der Hierarchisierung der Forschungsmethoden nach einem Goldstandard, bei dem randomisierte kontrollierte Studien (RCT) als das Forschungsdesign mit der höchsten Erkenntnisqualität angesehen werden, eine wissenschaftsmethodische Engführung einher, die in der Verkopplung mit staatlicher Forschungsförderung eher mittel- denn langfristig zu einer Monokultur in der erziehungswissenschaftlichen Forschungslandschaft beitragen dürfte (Schad 2015); eine Entwicklung, die sich hierzulande mit Blick auf die Besetzungspolitik an den Hochschulen und Universitäten im Fachgebiet der Sonder- und Inklusionspädagogik bereits ablesen lässt (Koch 2016, S. 27).

Im Evidenzparadigma findet zugleich eine Deautonomisierung der pädagogischen Praxis statt, die als willfährige Abnehmerin der mit dem wissenschaftlichen Gütesiegel ausgezeichneten Programmentwürfe und Handlungsansätze adressiert und an deren professionelle Verantwortung appelliert wird, die bestmögliche didaktische und förderpädagogische Technologie zum Einsatz zu bringen. Die Güte dieser Technologien soll dabei ausschließlich nach dem forschungsmethodischen Goldstandard beurteilt werden (Coalition for Evidence-Based Policy 2002).

Das vorgestellte Beispiel einer evidenzbasierten Förderpädagogik nach RTI verdeutlicht schließlich einen weiteren grundlegenden Aspekt, nämlich die dringliche Frage nach den Zielsetzungen von Erziehung und Bildung. Es geht schlichtweg darum: Welche Pädagogik wollen wir? – Im RTI-Modell werden gemäß den Gütekriterien nach dem RCT-Goldstandard fast ausschließlich kognitiv-behaviorale Unterrichts- und Fördermethoden als wissenschaftlich wirksame Verfahren propagiert (Hinz 2016; Rödler 2016). Das ist wenig überraschend, denn das mit dem Evidenzparadigma verbundene Verständnis von empirischer Wirkungsforschung folgt im Wesentlichen einem naturwissenschaftlichen Forschungsverständnis, das ja gerade auch der Verhaltenstherapie zugrunde liegt. Mit dieser eindimensionalen Perspektive bleibt allerdings die beispielsweise in der psychotherapeutischen Treatmentforschung bis heute andauernde Kontroverse um die Methodiken der Interventionsforschung und die Interpretation ihrer Ergebnisse (exemplarisch: Seidler 2006) vollkommen unbeachtet.

Der Schwerpunkt der als evidenzbasiert ausgezeichneten Programme und Methoden liegt in lernpsychologischer Tradition auf einer verhaltensmodifikatorischen Erziehungstechnologie, die im Kern auf ein Abtrainieren unerwünschter und ein Antrainieren erwünschter Verhaltensweisen zielt. Störungen im Unterricht sollen durch den Einsatz von Techniken der Klassenführung präventiv vermieden bzw. bei ihrem Auftreten unterbunden werden.Footnote 10 Systematisch ausgeblendet werden somit zugleich alle Ansätze und Pädagogiken, die sich auf ein anderes Wissenschafts- und Pädagogikverständnis berufen. Die Gleichsetzung von Wissenschaftlichkeit mit Evidenzbasierung diskreditiert insbesondere die in der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen und humanistischen Erziehungsphilosophie verwurzelten Ansätze der Sonder- und Integrationspädagogik, deren reflexiv-interpretativer Zugang einen wichtigen Beitrag leistet zum subjektlogischen Verstehen erschwerter Erziehungs- und Bildungsprozesse, bei dem die Innenperspektive der Akteure als wichtige Ingredienz in die Analyse einbezogen wird (Willmann 2015). Die in der deutschsprachigen Sonderpädagogik etablierte Tradition einer kulturkritischen Erziehungswissenschaft wird durch die Politik der Evidenzbasierung gegenwärtig in Frage gestellt. Als aufgeklärte Reflexionswissenschaft sollte sie die Herausforderung annehmen und sich gegenüber der evidenzbasierten Interventionspädagogik gleichsam als Korrektiv positionieren.

5 Inklusion als reflexiver Prozess

Die gegenwärtigen Tendenzen einer Interventionspädagogik, die einseitig den Wirksamkeitsnachweis spezifischer Fördermethoden und -ansätze in den Blick nimmt, trägt zu einer „Entkulturierung des Lernens“ (Rödler 2016) bei, denn sie be- und verhindert bedeutungsvolle Lernprozesse, die sich sensu Rogers (1974) nur unter der Voraussetzung der Selbstbestimmung einstellen können. Autonomie und Mündigkeit als Ziele schulischer Erziehung und Bildung setzen ein „Lernen in Freiheit“ (ebd.) voraus, wobei der pädagogischen Beziehungsgestaltung in Schule und Unterricht eine große Bedeutung zukommt (Miller 2011; Fleischer 2016). Schulische Lern- und Verhaltensprobleme sind in der Folge nicht primärer Ausdruck individueller Fehlanpassungen von Schülern, die es zu beseitigen gilt. Vielmehr verweisen sie auf Irritationen und Verstörungen in der Beziehungsgestaltung, in der pädagogischen Interaktion und Kommunikation, deren Sinn und Bedeutung sich durch einen subjektlogischen Zugang im pädagogischen Fallverstehen erschließen lässt. Entgegen aller auf das Schülersubjekt bezogenen Interventionsmentalität gründet sich das Programm der inklusiven Grundschule auf einer kooperativen Schulkultur (Idol 2002), in deren Mittelpunkt kooperatives Lernen im gemeinsamen Unterricht steht (Feuser 1989).

Dabei spitzen sich die strukturellen Paradoxien und Unsicherheiten des erzieherischen Handelns (Wimmer 1996; Winkler 2006) sowie die Überkomplexität schulischer Lehr-Lern-Prozesse (Doyle 1986), die auf die prinzipielle Störanfälligkeit des Unterrichts verweisen (Winkel 2011), in der inklusiven Schule aufgrund der Heterogenität der Schülerschaft noch einmal zu. Die Forderung nach Standardisierung (Schuck 2014) ist im Sinne einer reflexiven Inklusion zurückzuweisen, denn der inklusive Bildungsauftrag stellt Schulen und Lehrkräfte nicht vorrangig vor die Aufgabe, neue Didaktiken und Methodiken oder spezielle Interventionskonzepte zu entwickeln bzw. einzusetzen, sondern fordert eine kritische professionelle Selbstvergewisserung ein (Budde und Hummrich 2015). Insbesondere die Problemwahrnehmungen sowie die Einstellungen von Lehrkräften zur Inklusion gelten als ein gewichtiger Prädiktor für das Gelingen schulischer Inklusionsprozesse (Reiser et al. 1995; Avramidis und Norwich 2002; Gasterstädt und Urban 2016). Inklusion ist also nicht zuletzt eine Frage der Haltung aller Beteiligten (de Boer 2012) und ihre Umsetzung setzt die Entwicklung einer inklusiven Schulkultur voraus (Booth und Ainscow 2017). Wie sich allerdings anhand der Evaluationsergebnisse zum Rügener Inklusionsmodell an Grundschulen exemplarisch zeigen lässt, führt – selbst bei grundsätzlich positiver Zustimmung zur Inklusion – die bloße Implementation evidenzbasierter didaktischer Methoden bei den beteiligten Grundschullehrkräften nicht notwendigerweise zu einer veränderten Einstellung hinsichtlich der eigenen Zuständigkeiten und Kompetenzen. Zudem ist das Gelingen schulischer Inklusion auch nicht allein mit dem Mikrokosmos des gemeinsamen Unterrichts verschränkt, wie die gegenwärtige Diskussion um evidenzbasierte inklusive Fördermaßnahmen suggeriert. Sie umfasst vielmehr unterschiedliche Ebenen (Parsons 1999) und ist ein Ergebnis gemeinsamer Aushandlungsprozesse aller Beteiligten (Reiser et al. 1986). Der inklusive Erziehungsauftrag der Schule appelliert daher an die professionelle Verantwortung zur reflexiven Bearbeitung pädagogischer Paradoxien unter den Bedingungen der Inklusion und verweist somit zugleich auf die Notwendigkeit der Weiterentwicklung einer reflexiven Professionskultur im Lehrerberuf.