Zusammenfassung
In diesem Beitrag erfolgt eine phänomenologische Kritik der Praxis des Studierens. Ausgehend vom (westlich geprägten) Bild des Studierens als kognitive und solipsistische Praxis wird das Argument entfaltet, dass das Studieren inhärent leiblich, sozial und ästhetisch auszuweisen ist. Die leibliche, soziale und ästhetisch verweilende Studierpraxis an der Hochschule wird exemplarisch illustriert und dem Studieren im Medium des Digitalen gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass ein Online-Studium kein Substitut für gegenwärtige Lern- und Bildungserfahrungen darstellt, da es durch Prozesse der Enträumlichung und Entzeitlichung, der Ökonomisierung, der Fragmentierung des Leibes sowie der Erosion des Privaten die Praxis des Studierens als Lebensform und Prozess verkennt.
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Notes
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Dieser Beitrag ist eine Fortführung eines Essays (Willatt & Buck, 2021), den wir im vorvergangenen Jahr im Journal Philosophy and Theory of Higher Education (PTHE) unter der Federführung von Hans Schildermans (Universität Wien) veröffentlichten (Schildermans, 2021). Die jetzige Fassung beinhaltet die hilfreiche Kritik zweier anonymer Reviewer sowie unseres Kollegen Andreas Halvorsen Lødemel (Universitet i Tromsø), die allesamt an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen.
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Lebensferne und Nutzlosigkeit sind Zuschreibungen des Akademischen, die sich heute noch finden lassen; etwa dann, wenn es auf der Baustelle heißt Akademiker hätten „zwei linke Hände, alles Daumen“. Ob sich daraus eine allgemeine Akademikerfeindlichkeit ableiten lässt, steht im Zweifel. Gewiss ist aber, dass es an negativen Konnotationen der Wissenschaft nicht mangelt.
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Auch in Goethes Faust findet sich eine Beschreibung des Studierortes als „dumpfes Mauerloch“, das als dramaturgischer Gegensatz zum lichtgetränkten Außen des Prologs im Himmel fungiert, worauf Ulrich Eigler (2020) hinweist.
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Kanonisiert und immer eine Empfehlung wert: Hans Blumenbergs Das Lachen der Thrakerin (2010).
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Ein ähnliches kosmologisch-musikalisches Verständnis finden wir in der Waldorfpädagogik. Nicht nur nimmt die Rhythmisierung des Lebens und Alltags eine zentrale Rolle darin ein (vgl. Ullrich, 2015, S. 48 ff.), auch ordnet Steiner zur Begründung der ersten Waldorfschule 1919 den vier Temperamenten Instrumente zu, sodass bspw. ein Choleriker (der gerne Dinge zerschlage) Schlagzeug und Trommel zu spielen, während sich ein Melancholiker den Streichinstrumenten zuzuwenden habe (vgl. Steiner, 1984, S. 24; Buck, 2016, S. 49 f.).
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Das Positionalitätsproblem zeitigt sich in der derzeitigen Situation einer fortlaufenden Pandemie in einem sehr anschaulichen Phänomen. Der Fernunterricht (im öffentlichen Sprachgebrauch so plakativ wie falsch als Homeschooling bezeichnet) bleibt immer fern, da die o. g. Relationalität der Wahrnehmung darin verflacht und verabsolutiert wird auf immergleiche Kacheln, deren Inhalt zwar variiert, die aber eine Distanznahme oder Annäherung verunmöglichen.
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Mit humoreskem Blick beobachtete Johan Galtung (1983) die ‚Stile und Kultur‘ der Wissenschaft und es steht zu vermuten, dass zugleich unterschiedliche Studierstile mit unterschiedlichen Modi der Wissenschaft korrespondieren.
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In der aktuellen und internationalen Diskussion über diese Unterscheidung werden Lernen und Studieren oftmals dualistisch als Gegensätze verstanden. Das Studieren wird als soziale bzw. kollektive, prozesshafte und widerständige Praxis bestimmt, die sich der individualistischen und ergebnisorientierten (neoliberalen) Logik des Lernens bzw. der Lernifzierung (vgl. Biesta, 2006; Masschelein et al., 2007) pädagogischer Prozesse und Institutionen entzieht (vgl. Ford, 2016; Lewis, 2013; McClintock, 1971; Ruitenberg, 2017). Diese Gegenüberstellung erweist sich jedoch als fragwürdig, sobald Lernen und Studieren aus einer nicht-westlichen Perspektive in Verbindung gebracht werden (Zhao, 2019). Daher schlagen einige Autoren (Zhao et al., 2020) eher eine heuristische Unterscheidung zwischen Lernen und Studieren vor, die jedenfalls ein teleologisches und dialektisches Lernverständnis voraussetzt. Konkret heißt das, dass in der Studierpraxis die Mittel-Zweck-Logik des Lernens – das Um-zu im Lernen – temporär geschwächt oder suspendiert wird, so dass das Lernen selbst als undurchsichtig und unsicher erfahren wird.
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Muckel und Grubitzsch (1993) verweisen darauf, dass man in Husserls Schriften „vergeblich nach einer einziggültigen, abschließenden Definition seines Lebensweltbegriffs [sucht]“ (S. 120), dieser aber in jedem Fall eine abgrenzende Funktion gegenüber einem positivistischen Wissenschaftsverständnis erfüllt, das den Menschen im Namen der Objektivität in ein zweckrationales Verhältnis einspannt.
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Die semantische Differenz zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft (wie schon bei Tönnies) ist keine zufällige und keine unwichtige, verweist Gemeinschaft auf das implizite oder explizite Ziel einer darin homogenen Gruppe, die so ihre Differenz zur Gesellschaft markiert, die ihrerseits durch Pluralität gekennzeichnet ist.
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Anekdotisch lässt sich vermerken: Studentische Beschwerden über Texte richten sich vermehrt an ihre formale Beschaffenheit (Scanqualität, OCR usf.), weniger an ihre Inhalte, Positionen, den Schreibstil. Studierende haben, das lässt sich in Einklang mit Bröckling sagen, ihren Teil zur Subjektivierung zum studiosus oeconomicus erfüllt. Damit soll das Lehrseitige keinen Freibrief erhalten, auch hier zeigen sich willfährige Affirmationen fordistischer Produktionslogik, etwa in der Ablösung von Hausarbeiten durch Portfolios.
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Für die Ökonomisierung hochschulischer Praktiken sprechen noch weitere Indizien, deren Explikation hier aus Raumgründen nicht erfolgen kann. Nur beispielhaft sei die Fungibilitätsprämisse benannt, die Studienzeit zu operationalisieren und in austauschbare Einheiten (ECTS-Punkte, SWS) zu überführen versucht – unter Einebnung jeglicher denkbarer Differenzen zwischen Studierenden, aber auch zwischen den unterschiedlichen Phasen des Studiums, Lehrveranstaltungsformen, wechselnden dozentenseitigen Anforderungen und dergleichen mehr (vgl. Münch, 2011).
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Es ließe sich berechtigterweise fragen, ob ein Studium an einer Fernuniversität insofern keine Praxis des Studierens darstellt, sondern davon abweicht. Es lässt sich zu dieser offenen Frage zumindest anmerken, dass auch der FernUniversität in Hagen Präsenzseminare in fast allen Studiengängen angeboten und die Teilnahme daran mit Nachdruck empfohlen wird – wenn nicht sogar eine Pflicht dazu besteht.
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Willatt, C., Buck, M.F. (2023). Studieren im Medium des Digitalen. In: Buck, M.F., Zulaica y Mugica, M. (eds) Digitalisierte Lebenswelten. Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66123-9_18
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